2 Störungsspezifisches Arbeiten in der Musiktherapie
2.1 Sprachentwicklungsstörungen
Sprachentwicklungsstörungen sind deutliche zeitliche und qualitative Abweichungen in der Sprachentwicklung von Kindern (Kannengieser 2012). Können Kinder im Alter von zwei Jahren noch nicht die für den Wortschatzspurt und die grammatikalische Entwicklung notwendigen 50 Wörter aktiv verwenden, so spricht man von einer Sprachentwicklungsverzögerung. Die betroffenen Kinder tragen ein erhöhtes Risiko, eine Sprachentwicklungsstörung auszubilden (Grimm 2012). Etwa ein Drittel der Kinder holt den Rückstand bis zum dritten Lebensjahr auf. Sie werden als Spätzünder (late bloomer) bezeichnet. Ein weiteres Drittel zeigt Sprachleistungen am unteren Niveau der Altersnorm und weitere 33 % sind mit ihren sprachlichen Leistungen auf einer oder mehreren linguistischen Sprachebenen deutlich unterhalb der Altersnorm. Diese letzte Gruppe wird als sprachentwicklungsgestört bezeichnet (Sachse / Suchodoletz 2009). Bei diesen Kindern ist der Spracherwerb nicht nur verzögert, sondern es zeigen sich sprachliche Phänomene, die im normalen Spracherwerb nicht vorkommen. Sprachentwicklungsstörungen können in Folge von primären außersprachlichen Störungen auftreten (z. B. Hörstörungen, Intelligenzminderung, organischen Störungen). Sie werden in diesem Fall als sekundäre Sprachentwicklungsstörungen bezeichnet. Bei ca. 5–7 % aller Kinder ist jedoch die Sprache primär und ohne verursachende organische, emotionale und mentale Schädigungen betroffen. Sie haben dann eine umschriebene (primäre) Sprachentwicklungsstörung (Langen-Müller et al. 2012). Auch wenn bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen zumeist mehrere linguistische Sprachebenen betroffen sind, wird in der Folge auf die Bereiche [1] phonetisch-phonologische Störungen (Aussprache) und Lese-Rechtschreibstörungen, [2] semantisch-lexikalische Störungen (Wortschatz), [3] morphologisch-syntaktische Störungen (Grammatik) sowie pragmatisch-kommunikative Störungen (Sprachgebrauch) separat eingegangen. Diese Differenzierung soll die unterschiedlichen Analyse- und Vorgehensweisen in der Sprachtherapie deutlich machen. Sie sollten aber auch die Grundlage für den zielgerichteten Einsatz von Musik in Förderung und Therapie sein. Da jedoch für den Bereich Sprachentwicklungsstörungen Erkenntnisse aus Musikpsychologie und Musiktherapie bislang nicht in dieser differenzierten sprachebenenbezogenen Betrachtungsweise vorliegen, werden die Ergebnisse und die Ableitungen für Möglichkeiten der musikalischen Intervention bei Sprachentwicklungsstörungen gemeinsam dargestellt. Zum Schluss werden Empfehlungen für den Einsatz von Musik zur Förderung der Fähigkeiten in den Sprachebenen abgeleitet.
2.1.1 Phonetisch-phonologische Störungen (Aussprache)
Klassifikation
Kindliche Aussprachestörungen werden in orofaziale Dysfunktionen (auch myofunktionelle Störungen), phonetische Störungen, phonologische Störungen sowie verbale Entwicklungsdyspraxie und Dysarthrophonie unterteilt (Fox-Boyer 2014; Fox-Boyer 2015; Jahn 2007).
Orofaziale Dysfunktionen (myofunktionelle Störungen) sind Fehlfunktionen in den knöchernen, muskulären und sensorischen Strukturen von Mimik, Kauorgan, Zunge und Gaumensegel. Infolge eines Ungleichgewichtes im Zusammenspiel, der Funktion und der Innervation (Aktivierung durch Nerven) von mimischer Muskulatur, Kaumuskulatur, Zungenmuskulatur und Gaumensegelmuskulatur kommt es zu Aussprachestörungen, die beispielsweise mit einer unphysiologischen Zungenruhelage, einem unphysiologischen Schluckmuster und Mundatmung einhergehen.
Von einer verbalen Entwicklungsdyspraxie spricht man, wenn die Aussprachestörung aus einer Störung der zentralnervösen Planung und / oder Steuerung der für die sprachliche Äußerung notwendigen motorischen Abläufe und Elemente resultiert.
Bei phonetischen Störungen ist das Sprechen betroffen – es können bestimmte Laute oder Lautverbindungen nicht oder nur falsch gebildet werden. Bei betroffenen Kindern zeigt sich die sprechmotorische Kontrollfähigkeit nicht altersgemäß entwickelt, ohne dass zentralnervöse oder myofunktionelle Ursachen vorliegen.
Die phonetische Störung ist eine Sprechstörung.
Die phonologische Störung ist eine Sprachstörung.
Bei phonologischen Störungen zeigt sich eine verzögerte Entwicklung oder eine abweichende Organisation des phonologischen Systems bei intakter Artikulationsfähigkeit. Die sprachlichen Laute können isoliert gebildet werden, allerdings gelingt die Umsetzung in Wörter nicht. Da bei diesen Störungen die lautliche (phonologische) Analyse und Repräsentation ursächlich ist (die Laute und Silben eines Wortes werden nicht korrekt erkannt), nicht aber die motorische Planung, wird die phonologische Störung als Sprachstörung bezeichnet.
Prävalenz und Ätiologie
Für das Deutsche gibt es bislang keine Studien zur Prävalenz, also zur Häufigkeit von Aussprachestörungen (Fox-Boyer 2014). In einer 2009–2010 durchgeführten Studienarbeit mithilfe eines Sprachscreenings zeigten ca. 16 % der Kinder im Alter von 3;6 Jahren bis zur Einschulung Aussprachestörungen – ohne isolierten Sigmatismus (Fox-Boyer 2014). Die Zahlen unterscheiden sich jedoch unter anderem nach dem Alter der Kinder. So fanden Campbell et al. (2003) 15,3 % aller dreijährigen Kinder betroffen. Im Gegensatz dazu berichten Broomfield / Dodd (2004) von Aussprachestörungen bei 6,4 % aller Kinder. Die Zahlen und Zuordnungen sind neben dem Alter auch von der Definition der Störungen abhängig. Von den betroffenen Kindern haben 86–98 % phonetisch-phonologische Störungen, ca. 2 % eine Dysarthrophonie und weniger als 1 % eine verbale Entwicklungsdyspraxie (Fox-Boyer 2014).
Obwohl die zu beobachtenden Symptome ähnlich sein können, ist die Ätiologie (Ursache) sehr vielfältig. So können Aussprachestörungen aus organischen (peripher, zentral), funktionellen, sensorischen, kognitiven und psychosozialen Ursachen resultieren.
Die organischen Ursachen können in Störungen, Fehlbildungen oder Fehlfunktionen der peripheren Organe (Gehör, Sprechwerkzeuge, Mund / Zähne, Nase) oder in häufigen Infekten begründet sein. Sind die an der Sprechmotorik beteiligten Hirnnerven und Hirnstrukturen geschädigt, spricht man von zentral-organischen Ursachen.
Als funktionelle Ursachen werden motorische Entwicklungsdefizite und myofunktionelle Störungen (Zusammenspiel von Kau-, Zungen-, mimischer Muskulatur und Gaumensegel) diskutiert.
Sensorische Ursachen sind Störungen im Bereich der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung. Die Kinder können Sprachkontraste, die zur Unterscheidung von Phonemen (Lauten) notwendig sind, nicht wahrnehmen und differenzieren. Konsonanten und Vokale und damit Laute / Silben unterscheiden sich durch den Einschwingunsvorgang (Voice Onset Time, im Millisekundenbereich), durch unterschiedliche Länge (langer / kurzer Vokal) sowie durch unterschiedliche Frequenzspektren (Formanten).
Die kognitiven Ursachen können einerseits eine Intelligenzminderung oder eine geistige Behinderung sein, oder sprachspezifische kognitive Leistungen wie das sprachliche Arbeitsgedächtnis (phonologisches Arbeitsgedächtnis) bzw. sprachliche Speicher- und Abrufprozesse betreffen.
Als psychosoziale Ursachen werden habituelle oder imitierende Verhaltensweisen angesehen. Die Kinder übernehmen die falsche Lautbildung aus ihrem Umfeld. Ebenso ist eine psychogene Ursache möglich, wenn Kinder aufgrund von Entwicklungskonflikten in einer kleinkindhaften Sprechweise verharren.
Symptomatik
Die beobachtbaren und hörbaren Fehlbildungen müssen immer unter Berücksichtigung des Alters betrachtet werden, in dem das Kind den betreffenden Laut erworben hat.
Die Symptomatik einer phonetischen Störung zeigt sich durch Abweichungen in der Aussprache mit einer zumeist konstanten Fehlbildung eines oder mehrerer Laute – die Laute werden immer auf die gleiche Art falsch gebildet. Inkonstante Fehlbildungen zeigen sich nur bei hoher Anforderung (Mehrfachkonsonanz / Konsonantenverbindungen). Die fehlerhafte Aussprache hat keine Auswirkung auf die Bedeutungsunterscheidung von Wörtern. Die häufigsten Fehlbildungen im Deutschen sind der Sigmatismus (Lispeln – Fehlbildung des / s / -Lautes), der Schetismus (Fehlbildung des / sch / ) sowie die interdentale Bildung (zwischen den Zähnen) der alveolaren Laute (z. B. / n / , / t / , / d / , / ts / ).
Im Gegensatz dazu ist die Symptomatik der verbalen Entwicklungsdyspraxie dadurch gekennzeichnet, dass die Lautbildungsfehler variabel und nicht vorhersagbar sind. Die Fehlerquote steigt bei längeren Äußerungen an. Auch sind artikulatorische Suchbewegungen vor und während der Sprachäußerung beobachtbar. Ebenfalls können sich Laut- und Silbenwiederholungen sowie Vokalveränderungen zeigen.
Ebenfalls neurologisch bedingt ist die Dysarthrophonie – eine Kombination aus Dysarthrie (neurogene Sprechstörung) und Dysphonie (Stimmstörung). Sie ist als Störung von Sprechmotorik und Sprechkoordination mit Auswirkungen auf Artikulation, Stimmbildung und Sprechatmung verbunden.
Bei orofazialen Dysfunktionen gehen die Aussprachestörungen oft mit Störungen der Atmung und der Nahrungsaufnahme (Saugen,...