Kapitel 2
New York, New York
Weit entfernt von Marrakesch liegt Knoxville, eine Stadt im Bundesstaat Tennessee, wo ich als Älteste von drei Geschwistern aufwuchs. Meine Eltern kamen eigentlich beide aus anderen Bundesstaaten, aber sie hatten in Knoxville die Universität besucht und sich dort irgendwann wegen der hohen Lebensqualität und der Nähe zu meinen Großeltern mütterlicherseits, die direkt hinter den Bergen in Spartanburg, South Carolina, lebten, niedergelassen.
Von klein auf wurde meinen Geschwistern und mir die Bedeutung guter Manieren als ein Zeichen von Toleranz und Respekt gegenüber anderen vermittelt. Dabei war es ganz egal, ob es sich bei unserem Gegenüber um einen Verwandten oder um die Milchshake-Lady aus Long’s Drug Store handelte: Wer seine Mitmenschen achtete, behandelte sie höflich und zuvorkommend.
Von unseren Eltern lernten wir außerdem, dass harte Arbeit belohnt wird und man seinen Leidenschaften folgen sollte. Sie gaben uns alles mit auf den Weg, was wir dafür brauchten, indem sie uns tatkräftig bei der Verfolgung unserer Ziele unterstützten, uns aber auch genug Freiraum ließen, unseren eigenen Weg zu finden. Sie schenkten den Fehlern, die wir machten, nicht allzu viel Beachtung, weil ihnen daran gelegen war, dass wir großen Herausforderungen mit Begeisterung und nicht mit Versagensängsten begegneten. Heute weiß ich, dass ich großes Glück mit ihnen hatte. Sie haben mir die Stärke und das Vertrauen gegeben, die es mir ermöglichten, meine Träume zu verwirklichen und daran zu glauben, dass in jedem von uns etwas Gutes steckt.
Das New York, das über die Jahre meiner Kindheit vor meinem geistigen Auge Gestalt angenommen hatte, war geprägt von den Geschichten, die mein Vater uns immer erzählte. Dass er aus Brooklyn stammte, war ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeit. Ich stellte mir die Stadt genauso vor, wie ich sie von den körnigen Schwarz-Weiß-Fotografien her kannte, die er seinerzeit dort aufgenommen hatte: Sie zeigten Straßenszenen – Bettler und Stadtstreicher, Freunde und Fremde. In gewisser Weise ließ dieser Teil seiner Biografie meinen Dad für mich anders erscheinen – das und die Tatsache, dass er Jude war, was in unserem Haus jedoch keinen hohen Stellenwert hatte, wenn man einmal davon absieht, dass wir sowohl an Chanukka als auch an Weihnachten Geschenke bekamen. Für die Gesellschaft, in der wir lebten, schien es jedoch ein bemerkenswertes Charakteristikum.
Nahm der für East Tennessee typische Akzent in meiner Aussprache überhand, verlangte mein Vater scherzhaft eine Geldstrafe von einem Vierteldollar. (Beim englischen Wort für Kino, das ich »movie thee-AY-ter« aussprach, musste ich jedes Mal daran glauben.) Er war scharfzüngig und laut und lachte gern, eine Wesensart, die mir charakteristisch für seine Brooklyn-ität erschien.
Etwa einmal im Jahr fuhren wir nach New York und besuchten meine Grandma Marilyn – meistens um Chanukka herum, wenn die klirrende Kälte im Norden einen beinahe erfrieren ließ. Passend zum Wetter trug ich dann eine knallbunte, kuschelige Jacke, Ohrenschützer und Fäustlinge. Ich wollte den Bewohnern dieser Stadt zeigen, dass ich eine von ihnen war. Verstohlen musterte ich jeden Passanten, der mir über den Weg lief, und wenn sich unsere Blicke zufällig trafen, lächelte ich, so wie man es bei uns im Süden eben tat. Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis ich verstand, dass New Yorker viel zu cool für so etwas sind.
Im Sommer nach meinem ersten Jahr am Kenyon College bekam ich eine Stelle als Praktikantin bei der Planned Parenthood Federation of America. Ich zog zu meiner Grandma Marilyn ins Gästezimmer, verfrachtete meine neue »Arbeitskleidung« vom Koffer in den Schrank und in die Schubladen, die sie extra für mich freigeräumt hatte, und stürzte mich in mein Leben als berufstätige Städterin.
Der Job bei Planned Parenthood, einer gemeinnützigen Organisation, die in den Bereichen Sexualmedizin, Gynäkologie und Familienplanung tätig ist, war eine mutige Wahl für meinen ersten Sommer weit weg von zu Hause. An meiner Highschool in East Tennessee gab es einen berufsbegleitenden Zweig, der sich mit speziellen Kursen an minderjährige Eltern richtete. Es stand sogar eine Krippe zur Verfügung, wo die Kinder der Teenager für die Dauer des Unterrichts betreut wurden. Junge Eltern waren bei uns keine Seltenheit – so viel wurde im Aufklärungsunterricht, der sexuelle Enthaltsamkeit proklamierte, deutlich.
»Wer noch Jungfrau ist, hebt bitte die Hand«, sagte die Erzieherin in einer der Unterrichtsstunden. Sie gehörte einer christlichen Organisation an und war von der Schule extra für diesen Teil des Lehrplans engagiert worden. »Okay, und jetzt heben alle wiedergeborenen Jungfrauen die Hand.« Damit waren alle gemeint, die ihre Jungfräulichkeit eigentlich schon verloren, dann aber eingesehen hatten, dass sie sich auf dem falschen Weg befanden, Buße getan und erklärt hatten, ihre Jungfräulichkeit sei – vermutlich bis zur Eheschließung – wiederhergestellt. Wir sahen uns um und rutschten peinlich berührt auf unseren Stühlen herum. Einige der Mädchen tauschten wissende Blicke. Andere hoben die Augenbrauen und richteten sich gerade auf, vielleicht weil sie dachten, dass eine gute Haltung der beste Beweis für ihre Reinheit sei. In einem zweitägigen Kurs bestehend aus einer überaus plastischen PowerPoint-Präsentation und mehreren interaktiven Übungen erfuhren wir, dass Sex vor der Ehe unweigerlich zu Herzschmerz sowie irreparablen körperlichen Schäden führte. Darüber hinaus minderte er den Wert eines Menschen. Das schlagende Argument des Enthaltsamkeitsansatzes bestand darin, dass die »Diamantzone« (ein unsichtbarer Bereich, der sich in diamantähnlicher Form vom Hals abwärts über Brüste und Oberkörper erstreckte und im Schritt zusammenlief), dem zukünftigen Ehemann vorbehalten sein sollte. Man verwahrte seinen Diamanten sicher, bis man einen Diamanten (sprich einen Ehering) bekam.
Das Praktikum bei Planned Parenthood war für mich ein Akt der Rebellion gegen derart nutzlose Maßnahmen, wie es die Abstinenz predigende Sexualerziehung in meinen Augen war. Die Zeit in New York bot mir Einblick in das Leben einer Stadt, die – sowohl die Größe als auch die Weltanschauung betreffend – so viel mehr zu bieten hatte als die Gegend, aus der ich stammte.
Dieser Sommer öffnete mir die Augen. Am Ende hatte ich größten Respekt vor Menschen, die unermüdlich für Organisationen arbeiten, denen nie genügend Mittel zur Verfügung stehen und deren Erfolge stets daran gemessen werden, wie viel es noch zu tun gibt. Ich hatte nicht vor, eine Laufbahn im öffentlichen Gesundheitswesen einzuschlagen, doch New York war definitiv die richtige Adresse.
Im Sommer nach meinem zweiten Studienjahr ergatterte ich ein Praktikum in einer Kreativagentur namens Art + Commerce, die gerade erst vom Entertainmentkonzern IMG übernommen worden war.
Mein Freund Jeremy, mit dem ich auf dem College zusammengekommen war, wollte sich in der New Yorker Restaurantszene einen Job suchen, und so gründeten wir zusammen mit Matt und Corey, zwei seiner besten Freunde aus seiner Heimat, eine Wohngemeinschaft. Wir wohnten nördlich des Union Square in einem ehemaligen Studio, das zu einer Zweizimmerwohnung umgebaut worden war. Nach einer Woche in der Küche eines viel frequentierten Restaurants überlegte mein Freund es sich anders, verließ New York, um mit seiner Familie Urlaub in Kroatien zu machen, und kehrte danach in seine Heimatstadt Los Angeles zurück. Ich blieb zusammen mit Matt und Corey in New York.
Die beiden waren mitreißend, attraktiv und beinahe übertrieben gesellig. Tagsüber arbeitete Matt als Praktikant bei Late Night mit Conan O’Brian und Corey als Oben-ohne-Model bei Abercrombie & Fitch, wo er am Eingang postiert wurde, um die Kunden zu begrüßen. Nachts – und ich meine tatsächlich mitten in der Nacht – machten sie Werbung für Clubs. In diesen Monaten, die später als »Summer of Models and Bottles« in meine persönliche Geschichte eingehen sollten, hing ich wie eine kleine Schwester an ihrem Rockzipfel.
Wenn ich mit den Jungs unterwegs war, hatte ich oft das Gefühl, jeder sei größer und erwachsener als ich. Ich besaß keine schicken »Ausgehfummel«. Ich ging auf ein College in Ohio, wo man in nicht zusammenpassenden Teilen von American Apparel, in XXL-Tanktops, Stiefeln und Flanellhemden herumlief. In jenem Sommer trug ich hauptsächlich Vintage-Kleidung, Fundstücke aus Secondhandläden und ein kurzes Kleid, das ich aus einem bräunlichen Stoff mit Paisley-Muster selbst genäht hatte. Ich versuchte, mir einzureden, dass mein Selbstvertrauen dadurch nicht erschüttert werden könne, doch mir war völlig klar, dass es an meinem kindlichen Gesicht und den Billigschuhen lag, wenn wir einmal von einem Türsteher abgewiesen wurden.
Auch wenn ich dazugehören wollte, hatte ich manchmal keine Lust, jeden Abend auszugehen. Also startete ich zuweilen ein kleines Experiment zu meiner eigenen Unterhaltung: Ich quatschte fremde Leute in einem übertrieben langgezogenen Südstaatenakzent an und beobachtete ihre Reaktion. Der getragene Tonfall bewirkte, dass die Leute förmlich an meinen Lippen hingen. Meine Witze waren auf einmal lustiger. Meine Geschichten scharfsinniger. Das einzige Problem war die Enttäuschung oder, noch schlimmer, das Desinteresse, das zwangsläufig folgte, sobald ich wieder normal redete. Auf die ein oder andere Art schlüpfen wir während der College-Zeit wohl alle mal in unterschiedliche Rollen, während wir noch auf der Suche nach der eigenen...