1 Let it rain!
oder
Ein verheerender Jahrhundertnebel, eine aufmüpfige Prinzessin und eine Flasche Gift
Ich quartiere uns am besten in Kentish Town ein, einem zentral gelegenen Stadtteil Londons mit guter Verkehrsanbindung. Hier habe ich viele Jahre gelebt und kenne mich bestens aus. Gleich bei der U-Bahn-Haltestelle gibt es eine besonders hübsche Straße, eine der ältesten in der Gegend. Sie stammt aus einer Zeit, bevor die Mode aufkam, jedem einzelnen britischen Reihenhäuschen einen Erker zu verpassen. Die putzigen Häuser mit ihren flachen Fassaden und den großen Fenstern sind in den herrlichsten Pastellfarben gestrichen, ähnlich wie die Häuser vieler englischer Küstenstädtchen aus dem 18. Jahrhundert. In welches wollen wir einziehen: In das gelbe gleich hier zur Linken oder lieber in das fliederfarbene dort drüben? In das grüne an der Ecke oder das himmelblaue mit der Palme im Vorgarten?
Ob da wirklich ein Haus mit einer Palme steht? Mitten im nördlichen London? Das ist nicht zu glauben? You’re not buying that? Doch, doch, da wächst eine. Und sie erfreut sich bester Gesundheit. Der Golfstrom macht es möglich. Tatsache. I’m not making it up.
In das himmelblaue mit dem exotischen Vorgartenflair wollen wir einziehen? Sehr gerne! That’s fine by me!
Und welches Wetter hätten wir denn gern? You want it to be foggy? You’re kidding. Das war wohl ein Witz. Aus welcher Schublade stammt denn dieses verstaubte Wetterklischee? Ich finde, dichte Nebelschwaden sollten wir uns für eine gemeinsame Zeitreise ins frühe Industriezeitalter aufheben, als tatsächlich noch Unmengen Rauch den städtischen Schornsteinen entwich und für dementsprechend schlechte Sichtverhältnisse sorgte.
Any other suggestions, irgendwelche anderen Vorschläge?
You want it to be »raining cats and dogs« instead? Gerne! Lassen wir es in Strömen regnen, und sei es nur, um diesen schönen englischen Ausdruck zu zelebrieren. Allerdings möchte ich bei dieser Gelegenheit betonen, dass London keineswegs zu einem außergewöhnlich regenreichen Pflaster gehört! Städte wie Miami, Orlando, Rio de Janeiro, Sydney und auch meine Heimat München verzeichnen allesamt mehr Regentage pro Jahr als die britische Metropole. Das fand ich heraus, als ich vor vielen Jahren eine Wette gegen meinen Freund George verlor. Darf ich diese Geschichte kurz erzählen, bevor wir den geplanten Wolkenbruch auslösen?
Es fing damit an, dass mein englischer Gast an einem Fensterrahmen in meiner Münchner Wohnung lehnte und frustriert nach draußen blickte. »This place is just as bad as Manchester, isn’t it!«, klagte er angesichts der endlosen Regenfluten an jenem tristen Frühlingstag, zugegebenermaßen bereits dem dritten in Folge. »Isn’t it« war in diesem Kontext nicht als Frage zu verstehen, sondern als Bekräftigung seiner Aussage. Ich verstand seinen Verdruss angesichts unseres wortwörtlich ins Wasser gefallenen Urlaubs.
»Actually, Munich is even worse than Manchester«, legte George nach kurzer Überlegung nach (»actually«: »eigentlich«, »um ehrlich zu sein«, »tatsächlich«).
»No, it’s not!«, lachte ich (und dachte: »Wie absurd!«), denn Manchester ist bei den Briten aufgrund seiner äußerst ungünstigen Witterung als »rainy city« bekannt. So kam es zu unserer Wette, to our bet. Es folgte eine eifrige Recherche in diversen Wetterstatistiken, die für Manchester eine durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge, an average annual rainfall, von 810 Millimetern ergab. Noch beeindruckender las sich jedoch Münchens Regenquote. Sie lag bei sage und schreibe 966 Millimetern. Nebenbei warfen wir nun auch noch ein Auge auf die Niederschlagsmenge, die Georges Heimatstadt London aufzuweisen hatte. Es waren lediglich schlappe 595 Millimeter. So there you are, bitte schön, das sind die Fakten, that’s the facts. Natürlich können sich Münchens 966 Millimeter nicht mit dem jährlichen Regenfall von 4500 Millimetern messen, den die Schotten über sich ergehen lassen müssen, aber von Schottland war ja leider nicht die Rede gewesen.
Die Laune meines englischen Freundes, für den es nichts Schöneres auf der Welt gibt als eine Wette zu gewinnen, stieg schlagartig beim Anblick der eben genannten Zahlen.
»I’m glad I don’t have to live in a place with that much precipitation«, sagte er, der Londoner, beschwingt (wenn man sich gerne gewählt ausdrücken möchte, merkt man sich »precipitation« als Alternative zu »rainfall«).
Oh, da sind sie ja schon, die ersten Regentropfen, the first rain drops. Let’s get inside quickly! Beeilung, hurry up, we’re getting wet!
Wunderbar, da sind wir gerade noch einigermaßen trocken in der warmen Stube angekommen. Unsere Jacken hängen wir am besten an der Garderobe auf, let’s leave them on the coat rack. Wie schön, was für ein hübsches Wohnzimmer, what a pretty little sitting room, hier gibt es sogar einen offenen Kamin, a proper fireplace. Die zwei Eimer, the two buckets, die am Boden danebenstehen, sind schon randvoll mit Kohle und Holzscheiten gefüllt, they’re brimful with coal and logs of wood. Was für ein Glück, lucky us! Ein behaglich knisterndes Feuer würde doch hervorragend zu dem bestellten Wetter passen.
Wow, wir haben wahrlich nicht an Fantasie gespart! Wie es draußen herunterprasselt, it’s pouring down like there’s no tomorrow. Ich schüre gleich mal den Kamin an!
Ob ich Lust auf eine Tasse Tee habe, whether I’d like a cup of tea? Was für eine nette Idee! Why don’t you go to the kitchen and make us one while I’m getting busy here?
Vielen Dank für den Tee! Deary me, ist der dünn. Was ist denn da passiert? Ach so, es war nur »skimmed milk« im Kühlschrank, Magermilch. Kein Wunder, dass er so fade schmeckt, no wonder that it tastes so bland. Sobald der Regen nachlässt, ziehen wir los zu einem der kleinen corner shops, einem Tante-Emma-Laden, und besorgen uns eine Tüte Milch mit anständigerem Fettgehalt, semi-skimmed oder full-fat. Oder ganz anders: Wir könnten uns dem veganen Trend anschließen und zu Mandelmilch greifen, we could opt for almond milk. Die rein pflanzliche Ernährungswelle wartet hier in England nämlich mit einer Steigerungsrate von sage und schreibe 360 Prozent über die letzten zehn Jahre auf, with a whopping 360 percent!
Machen wir es uns doch einstweilen auf dem Sofa gemütlich! Let’s get comfortable, oder noch besser: Let’s get comfy, and enjoy the crackling fire.
Um noch einmal auf das Thema »Wetten« zurückzukommen: Es ist schade, dass das große Pferdehindernisrennen, the Grand National, gerade schon vorbei ist. Wir hätten in einem betting shop auf der Kentish Town Road unsere Tipps für die Gewinner abgeben können, um dann stundenlang vor dem Fernseher zu sitzen, sämtliche Kommentare und Prognosen gebannt mitzuverfolgen und während des Rennens nervös an den Nägeln zu kauen. In kultureller Hinsicht wäre das eine ausgesprochen angesagte Beschäftigung gewesen, da Wetten eine Art Nationalsport darstellt und das Grand National, das jeden Frühling in Aintree, Liverpool, stattfindet, als Ereignis von herausragendem Rang gilt. Ein bekannter Sportjournalist drückte es im englischen Radio folgendermaßen aus: »Some love it, some hate it, but everybody knows it. It’s a massive part of British life.« Einmal, so erzählte er, hätten ein paar schlaue Leser seine Zeitung davon in Kenntnis gesetzt, dass er in einem Artikel wiederholt das Wort »definitely« falsch geschrieben habe, und zwar ohne das zweite »e« im Namen des Pferdes Definitly Red. Tatsächlich hieß das Pferd aber so. »The person who registered the horse Definitly Red wasn’t a great speller and had been in a pub at the time«, scherzte der Journalist. Jedenfalls scheint ein gewisser Alkoholkonsum nicht selten der Registrierung von Rennpferden vorauszugehen. Das lässt ein Blick auf weitere Pferdenamen vermuten. To name just a few:
Blaklion, The Last Samuri or Aaim To Prosper.
Ich glaube, ich muss noch ein wenig Kleinholz und Kohle nachlegen, put some more kindling wood and coal into the fire. Übrigens wird hier rauchfrei geheizt, smokeless. Kentish Town ist Teil des riesigen Stadtbezirks Borough of Camden, und der unterliegt dem Clean Air Act von 1993. Wer sich nicht an die Regeln hält und auffällige Mengen Rauch durch seinen Kamin ins Freie ziehen lässt, kann mit einer gesalzenen Strafe von bis zu 1000 Pfund rechnen. Entsprechend selten sieht man schmutzige Rauchwolken im Himmel über London. Die Hauptursache für die enorme Schadstoffbelastung, der sich die Metropole trotzdem ausgesetzt sieht, ist jedoch im Straßenverkehr zu finden. Laut offiziellen Angaben sterben rund 9000 Menschen pro Jahr infolge der dort ausgestoßenen Giftstoffe. Eine Dunstglocke verursachen sie aber in der Regel nicht. Fast siebzig Jahre ist es nun schon her, dass sich der letzte spektakuläre Nebel über die Stadt legte. Er war derart schädlich, dass er als »Killer Fog« in die Geschichte einging. Do you want to learn more about it?
Es begann recht harmlos: Als sich am Freitag, den 5. Dezember 1952, die ersten Schleier sanft über die Stadt legten, nahmen die an regelmäßigen Smog gewöhnten Londoner noch keine allzu große Notiz davon. Man ging weiterhin seinen Geschäften nach und freute sich über die...