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E-Book

Mythos Maria

Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte

AutorChristiane Schäfer, Hermann Kurzke
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl305 Seiten
ISBN9783406669576
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Hermann Kurzke und Christiane Schäfer zeigen an den Entstehungs-, Fassungs- und Wirkungsgeschichten von zwölf großen Liedern die Wandlungen des Mythos Maria vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Singen ist mythosnäher als Sprechen. Die Epen der Völker wurden in einem festlichen Singsang vorgetragen. Der Mythos singt. Anstatt in Andacht versunken mitzusingen, wird in diesem Buch der Mythos philologisch zergliedert und auf seine Techniken befragt. Wenn ein Marienlied im 17. oder frühen 18. Jahrhundert als Wallfahrtslied entsteht, auf Liedflugblättern durch die Lande getragen wird, in Gesangbücher gerät, unter dem normativen Druck der Aufklärung aus ihnen wieder entfernt wird, untergeht, im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Romantik aufersteht, in Volksliedanthologien weiterlebt, von Liederbüchern der Jugendbewegung für besinnliche Stunden vorgesehen wird, im 20. Jahrhundert dann ein zweites Mal in den Kirchengesang eingespeist wird, das alles unter stetem Fassungswandel, wenn dann Bischofskonferenzen 1916, 1947, 1975 und 2013 jeweils andere Fassungen zu «Einheitsliedern» erklären - dann sieht man, was «Tradition» wirklich bedeutet. Es wird nicht ein Glaube von Generation zu Generation weitergegeben, sondern da ist ein Wandel. Diesen Wandel beschreibt das Buch an vielen Beispielen als «Arbeit am Mythos».

Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Bei C.H.Beck ist von ihm u.a. lieferbar: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk (2006); Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder (Hrsg., 2009); Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur (2010); Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser (2009) und Georg Büchner. Geschichte eines Genies (2013). Christiane Schäfer hat promoviert über das Marienlied «Wunderschön prächtige» (erschienen 2006). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Leseprobe

Ave Maria zart


Echo


Maria ist im Dornwald unserer Gegenwart geheimnisvoll präsent und doch verfließend, ohne genaue Kontur. Das war einmal anders, vor Jahrhunderten. Johann Georg Braun, 1658 Chorleiter in Eger in Böhmen, an der Goldenen Straße von Nürnberg nach Prag gelegen, hatte eine genaue Vorstellung von der Gottesmutter und zugleich von der Haltung, in der sie zu verehren sei. Er wünscht sich, daß sein Singen ein Echo der Himmelschöre sei. Er horcht erst nach oben und dann singt er zurück nach oben, das Gehörte wiederholend.

Dort sieht er Gottvater sitzen (in der Linken die Weltkugel, die Rechte weisend erhoben), ihm gegenüber den Sohn (mit dem Kreuz) und in der Mitte den Heiligen Geist als Taube, um sie herum, in ihrem Strahlenkranz, auf Wolken gelagert, ein unermeßliches Heer musizierender Engel. Ein Spruchband verbindet sie mit der singenden Seele, die mit ihnen sagt: «Semper laus eius in ore meo» – Stets ist sein Lob in meinem Mund.

Die Seele singt

Die Seele ist an einem einsamen Ort. Sie kniet in einem wilden Wald, horcht und singt. Ihre Haare sind lang und lockig, sie ist von weiblicher Art. Sie stellt allegorisch die Kirche dar. Die Vorrede erklärt: «Denn das Lobgesang der allhier streitenden Kirchen/ist ein Echo/oder Nachklang der himmlischen Melodi/welche unaufhörlich gehöret wird vor dem Stuhl GOTTES/und des Lamms.» Und deshalb gilt, so erläutert die Vorrede weiter, der Gesang sei «ein Trost jedweder Seelen/so lang sie in diesem sterblichen Cörper gleichsam eingeschrencket/im Thal der Zäher wandern muß.» Was hört Frau Kirche im Tränental? Worauf lauscht sie, was echot sie? Sie singt leise, was ihr die Engel soufflieren:

Ave Maria zart/

du edler Rosengart/

Lilien weiß ganz ohne Dornen:/:

Ich grüße dich zur Stund/

mit Gabrielis Mund/

Ave die du bist voller Gnaden.

Ave Maria – ich höre und singe, feierlich grüße ich dich. Zart bist du, lieblich und kostbar. Ein edler Rosengart bist du. Warum bist Du ein Garten voller Rosen? Und trotzdem lilienweiß? Was meint ihr damit, ihr Engel? Ein Königssohn erscheint mir, der seine dunkelhäutige Braut besingt: «Eine Lilie unter Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen.» (Hld 2,1 f.) Maria, auch du bist eine Lilie. Du bist weiß und schön. Aber du bist auch eine Rose, du bist sogar ein ganzer Zaubergarten voller prächtiger Rosen. Lilie und Rose zugleich. Aber, das sagt mir ihr Engel, was bedeutet ohne Dornen? Bedeutet es: ohne Schmerzen, ohne Sünden, ohne Makel, ohne Schaden, ohne das Weh und Ach des Lebens? Mehr noch? Ein Wunder? Daß du Mutter wurdest ohne den Schmerz der Geburt und ohne einen zeugenden Mann? Daß der Heilige Geist dich überschattete? Daß du als Tochter des Vaters und Mutter des Sohnes und Braut des Geistes nun verwandt bist mit der göttlichen Familie über den Wolken? Daß der Verzicht auf einen irdischen Mann damit mehr als ausgeglichen ist? Daß die Jungfräulichkeit deshalb kein Mangel ist, sondern ein Vorzug und ein gewaltiges Glück?

Die Seele lauscht: Sie schlüpft in die Rolle des Erzengels Gabriel. Das weitet sie. Sie hat jetzt ein Engel-Ich, das sagt: Ich grüße dich zur Stund mit Gabrielis Mund. Ja, es war ein großer Moment, als ich nach Nazareth kam und dich grüßte: Ave die du bist voller Gnaden. Das muß dir durch und durch gegangen sein, tief in die Seele und den Leib hinein. Du, unter allen Menschen du, solltest den Sohn Gottes zur Welt bringen. Ich erinnere mich noch gut, was weiter geschah, und spreche es nach mit Erzengelstimme:

Du hast des Höchsten Sohn/

Maria rein und schön/

in deinem Leib verschlossen gtragen:/:

Jesum das liebe Kind/

so da die Sünder blind/

errettet hat aus allem Schaden.

Ich grüße dich zur Stund

Du wurdest schwanger! Du trugst des Höchsten Sohn in deinem Leib verschlossen! Das klingt seltsam. Schwanger bist du und dennoch verschlossen, wie die Braut des Königssohns, von der im Hohenlied gesagt wird: «Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.» (Hld 4,12) Eine abgeschirmte Lebensspenderin bist du also, hinter Mauern verborgen, versteckt und geheimnisvoll – eine unberührte Schwangere, ganz rein und aus Reinheit schön, unantastbar und verlockend zugleich. Er muß dich sehr geliebt haben, dieser Gott, der auf so wundersame Weise in dir und durch dich Mensch werden wollte.

Das Kind, das du da in dir getragen hast, hat dann einen großen Auftrag erfüllt. Jesus, das liebe Kind, hat die Sünder blind aus allem Schaden gerettet. Das geschah auf mysteriöse Weise, ich begreife es nicht ganz, ich bin nicht mehr Engel, ich bin wieder die einsame Seele im wilden Wald. Während die Sünder noch mit Blindheit geschlagen waren und ihre Erlösungsbedürftigkeit verdrängten, kam durch dich ganz still und leise derjenige, der sie aus allem Schaden befreit hat. Hinter dem Wort «Schaden» verstehe ich die jedem einzelnen Menschen auferlegte Unvermeidbarkeit des Bösen, den Erbschaden, der zurückgeht auf den Sündenfall. Ich erkenne: «Maria, auch deinetwegen darf ich auf Erlösung hoffen.» Aber wie? Aber wann? Aber warum? Aufmerksam lausche ich auf das, was die himmlischen Chöre auf ihren Wolkenpolstern nun erzählen über die Geschehnisse einst im Paradies am Baum der Erkenntnis. Der Zeitkreis weitet sich ein drittes Mal.

Durch Evae Apfel-Biß/

Gott uns verstoßen ließ/

und sollten sein ewig verloren:/:

Da ist Göttliches Wort/

JEsus dein Söhnlein zart/

zu unserm Heil ein Mensch geboren.

Es ist eine bittere Erinnerung. Wir liebten das Paradies. Aber größer noch war die Lüsternheit. Sieh: Eva hat gerade von der verbotenen Frucht gegessen, ein Apfelbiß mit Folgen. Mit dieser kleinen Tat, verführt von der großen Verlockung – Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum – nahm das Unheil seinen Lauf, erinnert sich die Seele. Ja, es war so wie die Engel singen, deswegen hat Gott das ganze Menschengeschlecht aus dem Paradies vertrieben. Deshalb sind Sünde, Not, Leid, Schmerz und Tod in die Welt gekommen. Aber mit dir, Maria, kam dann auch Hoffnung. Es fügte sich gut, daß EVA von hinten nach vorn gelesen AVE heißt. Mußte nicht ein Plan hinter diesem Buchstabenspiel stecken?

Mit dem «Ave» hat Gott Evas Tat rückgängig gemacht. Du bist die neue Eva, die Göttliches Wort zur Erlösung aller Menschen gebären soll. Es ist dann ganz einfach zu erklären, was es heißt: «Das Wort ist Fleisch geworden.» (Joh 1,14) Du hast ein Baby bekommen, gezeugt mit jenem «Ave». Mit deinem lieblichen und kostbaren Söhnlein zart kehrt das Heil zurück in die erlösungsbedürftige Welt.

Maria, Evas Sünde wiedergutmachend

Die Seele bekommt große Augen. Ein neues Bild öffnet sich, in unermeßliche Tiefen reichend wie eine Zaubergrotte, in unermeßliche Höhen wie ein Himmel. Die Engel singen etwas von einem Geschehen, das die geschichtliche Zeit verläßt und auf der großen Mysterienbühne spielt. Die Seele singt nach, was ihr die Chöre flüstern:

Durch sein kostbares Blut/

ist des Satanas Mut/

gestürzt/der Höllen Pfort zerbrochen:/:

durch sein fünf Wunden rot/

und sein schmerzlichen Tod/

des Tods und Teufels Trutz gerochen.

Uns Menschen erlösen, wie war das möglich? Die Geburt des Kindes allein war nicht genug. Es mußte sein Leben wieder hergeben. Erst durch sein kostbares Blut wird der Hochmut des Satans gestürzt und werden die Pforten der Hölle zerbrochen, wird der Kerker geöffnet und werden die Gefangenen befreit. Nur durch sein schmerzlichen Tod am Kreuz, nur durch sein fünf Wunden rot, oh Weh, nur durch die durchstochenen Hände und Füße sowie den Lanzenstich in die Seite kann dem Trotz des Teufels vergolten werden. Ich arme Seele im wilden Wald stelle mir das vor als heiligen Handel, der bezahlt wird mit einem Opfer. Die Auferstehung ist der Sieg über den Tod und den Teufel. Jesu Leiden und Sterben ist das Pfand, mit dem wir ausgelöst werden, er-löst, zurückgekauft.

Die Bühne wandelt sich erneut, die Zeitenuhr ist nach langem Lauf zum Stillstand gekommen, ich sehe nun Jesus auf dem Richterthron, seine Mutter neben ihm, wir alle vor ihnen anstehend in langer Reihe.

Darum/O Mutter mild/

befehl uns deinem Kind/

bitt daß er unser Sünd verzeihe:/:

Endlich nach diesem Leid/

die ewig Himmels-Freud/

durch dich Maria uns verleihe/Amen.

Die Engel flüstern, die Seele singt, wir singen mit, denn Frau Kirche, das sind wir alle. Wir sind verstorbene Menschenkinder. Du bist unsere milde Mutter. Du willst bei deinem Sohn für uns eintreten. Jeder einzelne von uns wird...

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