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Vorurteile und Feindbilder. Die Instrumentalisierung von Ressentiments
Versteht man Vorurteile als Zuschreibung von Eigenschaften, die unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Individuen, Personengruppen, Ethnien, Nationen bestimmen – als «geschäftstüchtige Juden», «diebische Zigeuner», «eroberungssüchtige Muslime», «unzuverlässige Levantiner», «kriminelle Albaner» usw. –, so muss man nach den Bausteinen suchen, um Funktion und Wirkung der Ressentiments zu verstehen. Es sind Stereotype, die geläufige Vorstellungen von Personen, Kollektiven oder auch Sachverhalten und Dingen fixieren.[1]
Stereotype, zu Formeln erstarrte Beschreibungen, besser: Zuschreibungen, erlauben rasche und nicht reflektierte Einordnung und Erklärung, sie sind in der Regel langzeitig tradiert. Das Stereotyp entzieht sich analytischem Zugriff, denn es tritt an Stelle der Realität, wird nicht hinterfragt und braucht keine Begründung. Der Angehörige einer bestimmten Ethnie, Religion, Kultur oder Nation ist deshalb durch stereotype Klischees ein für alle Mal als listig oder verschlagen, als faul oder strebsam, als emotional ungestüm oder kalt berechnend, als übertüchtig oder unbrauchbar charakterisiert. Natürlich gibt es auch positive stereotype Bilder wie z.B. die «schöne Jüdin» oder den «edlen Magyaren». Funktion und Wirkung von Vorurteilen sind unabhängig von der positiven oder negativen Belegung. Die pejorativen, d.h. herabsetzenden Stereotype überwiegen in der gesellschaftlichen Realität, dementsprechend sind Vorurteile in der Regel an unangenehmen Eigenschaften verankert und entfalten vor allem negative Wirkung.
Vorurteile spielen im privaten Alltag wie im öffentlichen Leben die Rolle von Kristallisationskernen für individuelle und kollektive Ängste, Frustrationen und Aggressionen. Vorurteile verdichten sich zu Feindbildern, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden. Das negative Fremdbild steht am Anfang feindseliger Handlungen, die als individuelles fremdenfeindliches Delikt, als gemeinsamer Angriff gegen stigmatisierte Minderheiten, als kollektive Raserei gegen Fremde bis hin zum organisierten und geplanten Völkermord zum Ausdruck kommt.
Diese Funktionen und Wirkungen können an historischen und aktuellen Beispielen verdeutlicht werden. Fremdenfeindliche Konstrukte aus tradierten Vorurteilen und instrumentalisierten Feindbildern – Antibolschewismus, «russische Barbarei», gefährliche Rückständigkeit – gehörten beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 zur emotionalen Ausrüstung wie im Kalten Krieg nach 1945 zum geistigen Waffenarsenal, sie bildeten als Reflex auf die deutsche Aggression auch einen wesentlichen Hintergrund bei der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und benachbarten Siedlungsräumen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Alte und neue antisemitische Stereotype, die die Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen vorbereiteten und ermöglichten – die semantische Grundlegung des Völkermords an den europäischen Juden erfolgte durch Begriffsbildungen wie «Lösung der Judenfrage» und «Endlösung» –, gehören ebenso zum Themenfeld der Vorurteilsforschung wie literarische Traditionen und Denkstrukturen der Verweigerung gegenüber Angehörigen fremder Kulturen wie z.B. Muslimen, Afrikanern, Roma, Asylbewerbern usw.[2]
Ressentiments sind gefährlich, weil sie als Vorurteil beginnen mit der Tendenz, im Hass gegen stigmatisierte Individuen, gegen Gruppen, ethnische, religiöse oder nationale Gemeinschaften zu kulminieren – in einem Hass, der sich dann gewaltsam entlädt. Ressentiments schaffen der Mehrheit, die sie lebt und agiert, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Überlegenheit auf Kosten von Minderheiten, die definiert, diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt werden. Die Ausgrenzung stiftet Gemeinschaftsgefühl und bietet außerdem schlichte Welterklärung in einem System von Gut und Böse, in dem beliebige Minderheiten – z.B. Juden, Migranten, Muslime, «Zigeuner», Ausländer schlechthin – für Missstände, vermeintliche und wirkliche Bedrohungen, Mangel, Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht werden. Ausgelöst wird das Bedürfnis nach Ausgrenzung einer Minderheit häufig durch Existenz- und Bedrohungsängste in der Mehrheit. Auf der Suche nach Ursachen für soziale Missstände, wirtschaftliche Probleme, Identitätskrisen sind «Schuldige» willkommen, die vermeintlich Arbeitsplätze wegnehmen, durch ihre Andersartigkeit Überfremdung herbeiführen, nach Dominanz streben, Heimatgefühle zerstören, unliebsame Sitten und Bräuche einführen wollen. Gegen die empfundene Gefahr wird Abwehr organisiert.
Die Ausgrenzung von Minderheiten erfolgt durch Vorurteile und über Feindbilder. Im 19. Jahrhundert entstand der «moderne Antisemitismus» als Ideologie; er wurde verbreitet in Traktaten und Schriften, in denen stereotyp argumentiert wurde, dass Juden Fremde seien, deren Ansprüche auf Herrschaft und Dominanz abgewehrt werden müssten. Wilhelm Marr, einer der Begründer des Rassenantisemitismus, behauptete: «Ein Volk von geborenen Kaufleuten unter uns, die Juden, hat eine Aristokratie, die des Geldes, geschaffen, welche alles zermalmt von oben her, aber, zugleich auch eine kaufmännische Pöbelherrschaft, welche durch Schacher und Wucher von unten herauf die Gesellschaft zerfrißt und zersetzt. Zwischen der semitischen Oligarchie und der dito Ochlokratie [Pöbelherrschaft] wird die Gesellschaft zerrieben wie Korn zwischen zwei Mühlsteinen.»[3] Das war um das Jahr 1880. In unseren Tagen behauptet ein Feind des Islam, der von Interessenten als Experte gehandelt wird, der Publizist Hans-Peter Raddatz: «Ein Christ missbraucht seine Religion, wenn er Gewalt anwendet, und ein Muslim missbraucht seine Religion ebenso, wenn er Gewalt nicht anwendet.»[4] Er unterstellt damit, Muslime seien durch Gebote ihrer Religion zu Bösem verpflichtet. Ähnlich trieben einst die Propagandisten des Antisemitismus Hetze unter Berufung auf den jüdischen Talmud. In beiden Fällen werden stereotype Bilder, die falsch, aber eingängig sind, instrumentalisiert.
Eine Neuauflage des alten Vorurteils gegen eine andere Gruppe ist die Warnung vor Eroberung und Dominanz. Gegen die Juden hatte es einst geheißen: «Die Juden bilden unter dem Deckmantel der ‹Religion› in Wahrheit eine politische, sociale und geschäftliche Genossenschaft, die, im heimlichen Einverständnis unter sich, auf die Ausbeutung und Unterjochung der nichtjüdischen Völker hinarbeitet.» Das stand im weitverbreiteten «Antisemiten-Katechismus» des Theodor Fritsch (1852-1933), der auch das folgende Klischee bediente: «Durch seine besonderen Sitten-Gesetze (Talmud und Schulchan aruch) betrachtet sich der Jude als außerhalb aller übrigen Gesetzes-Vorschriften stehend und hält sich berechtigt, alle Landesgesetze zu übertreten – aber immer auf eine solche Art, daß ihm dieser Mißbrauch nicht nachgewiesen werden kann.»[5] Der Antisemit Fritsch war einer der Ahnherren der nationalsozialistischen Ideologie. Gegen Muslime klingt es heute ähnlich, wenn Raddatz mit dem Anspruch des Sachverständigen behauptet, «der Islam» folge einer «eingewachsenen Tendenz zu einer ganz natürlichen und historisch vielfach bestätigten Dominanz», die sich in einer «fortschreitenden Landnahme durch mehrheitlich türkische Muslime» zeige, deren Bastionen in Deutschland in «hochmotivierten, untereinander vernetzten Ghetto-Komplexen mit einer entsprechend flexiblen Schlagkraft» sichtbar seien.[6] Oder wenn in einem Internetforum gepöbelt wird: «Ich bin weder rechts noch links, habe auch nichts gegen Ausländer. Ich habe aber etwas dagegen, wenn bildungsferne muslimische Einwanderer unsere Kultur zerstören und uns mit ihrem irrwitzigen Aberglauben das Leben vermiesen wollen. Ich habe etwas dagegen, dass immer mehr integrationsunwillige Muslime bestimmen wollen, wo es lang zu gehen hat.»[7]
Die als negativ empfundene Eigenart der «Anderen», kulturell, ethnisch, religiös oder wie auch immer definiert, dient der Hebung des eigenen Selbstbewusstseins und fixiert es durch die Gewissheit, dass die Anderen nicht integrationsfähig oder assimilationsbereit oder von ihrer Konstitution her kriminell, asozial und aggressiv sind bis hin zu Verschwörungsphantasien, in denen eine Minderheit nach Dominanz über die Mehrheit strebt. In der Geschichte der Judenfeindschaft ist diese stereotype Vermutung seit Jahrhunderten verbreitet und wird immer wieder reproduziert, nach der «die Juden» zu viel Einfluss in der Finanzwelt oder in der Kultur oder in den Medien oder sonst wo, wahrscheinlich sogar in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft hätten und dass sie diesen Einfluss zum Schaden der Mehrheit, aber zum eigenen Nutzen unablässig ausübten. Diese in der durch Bildungsgrad, politische Position, Herkunft und Sozialisation oder von anderen Faktoren bestimmte Vermutung findet sich immer wieder in den Ergebnissen von Meinungsumfragen und gehört zum Grundbestand antisemitischer...