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E-Book

Nachholende Trauerarbeit

Hypnosystemische Beratung und Psychotherapie bei frühen Verlusten

AutorRoland Kachler
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783849781415
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
In vielen Beratungs- und Psychotherapieprozessen werden frühe Verluste in der Kindheit oder Jugend sichtbar. Zunehmend suchen Betroffene auch selbst Beratung und Therapie auf, um frühe Verluste aufzuarbeiten. Oft macht erst das Wissen um solche unverarbeiteten Verluste die aktuelle Symptomatik wie eine Angsterkrankung oder Depression verständlich. Roland Kachler zeigt, wie dieses häufig übersehene Thema hypnosystemisch und mittels Ego-State-Therapie bearbeitet werden kann: Der vom Verlust betroffene Kind-Ego-State erhält eine nachholende Begleitung in seinem damals unvollständigen Trauer- und Beziehungsprozess. Zentral ist dabei, dass die Beziehung zum Verstorbenen geklärt und gestaltet werden muss. Dann kann an einer nachholenden Entwicklung des Kind-Ego-States gearbeitet werden, so dass sich auch die aktuelle Symptomatik lösen kann. Die vorgestellten Interventionen können unmittelbar umgesetzt werden. Ausgewählte Fallbeispiele illustrieren die Arbeitsweise und das Zusammenspiel von hypnosystemischem Traueransatz und Ego-State-Therapie. Berater und Psychotherapeuten erhalten damit einen Leitfaden für ihre Praxis.

Roland Kachler, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, Klinischer Transaktionsanalytiker, Supervisor (EZI), Systemischer Paar- und Sexualtherapeut; Fortbildungen u. a. in Hypnotherapie, Ego-State-Therapie, EMDR, Traumatherapie (PITT); leitete von 1990-2013 eine Psychologische Beratungsstelle in Esslingen; Mitarbeit bei der Landesstelle der Psychologischen Beratungsstellen Stuttgart; eigene psychotherapeutische Praxis. Schwerpunkte: Psychotherapie, Paar- und Sexualtherapie, Trauerbegleitung und Trauertherapie; Vorträge und Workshops zu verschiedensten psychologischen Themen, bes. Trauer, Partnerschaft, Familie, Erziehungsthemen.

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Leseprobe

1Die Grundlagen der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit – Der hypnosystemische Traueransatz


Nachholende Trauerarbeit bezieht sich auf zurückliegende Verluste, die meist in der Kindheit und Jugendzeit erfolgten. Sie sind häufig Hintergrund einer aktuellen Thematik, unter der der Klient1 leidet. Häufig werden in Beratungen und Therapien frühe Verluste aktualisiert und müssen nun so bearbeitet und transformiert werden, dass sie zur Lösung der aktuellen Symptomatik beitragen. Die nachholende Trauerarbeit unterscheidet sich in den wesentlichen Prozessen zunächst nicht von einer Trauerarbeit nach einem aktuellen Verlust. Deshalb werde ich zuerst meinen neu entwickelten hypnosystemischen Traueransatz vorstellen, um dann ab Kapitel 2 in die spezifischen Prozesse und Methoden der nachholenden Trauer- und Beziehungsarbeit hineinzugehen.

Da nach meinem – hypnosystemischen Verständnis – Trauerarbeit immer auch Arbeit in der Beziehung zwischen Trauerndem und Verstorbenen darstellt, spreche ich im Folgenden von Trauer- und (!) Beziehungsarbeit sowohl für die Trauerbegleitung in einer akuten Verlustsituation also auch für die nachholende Trauerbegleitung.

Die klassischen Traueransätze, die vom psychoanalytischen Denken herkommen, betonen das Abschiednehmen vom Verstorbenen und das Loslassen des Verstorbenen. Demgegenüber habe ich nach dem Tod unseres 16-jährigen Sohnes im Jahr 2002 einen neuen Traueransatz entwickelt, bei dem eine innere Beziehung zum Verstorbenen bleiben und weiterhin gelebt werden darf. Dieser beziehungsorientierte Traueransatz greift hypnotherapeutische und systemische Ansätze auf und integriert sie zu einem hypnosystemischen Traueransatz, bei dem die Trauerarbeit immer eine Trauer- und (!) Beziehungsarbeit darstellt. Ich stelle diesen Ansatz im Rahmen dieses Buches über nachholende Trauerarbeit knapp in einer Übersicht so weit dar, dass Sie dann mit dem hypnosystemische Trauer- und Beziehungsansatz in nachholenden Trauer- und Beziehungsprozessen arbeiten können. Ausführliches finden Sie in meinem Buch Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis (2017) und in meinen weiteren Veröffentlichungen.

1.1Hypnosystemischer Ansatz als beziehungsorientierter Traueransatz


Überwindung des psychoanalytisch fundierten Trauerverständnisses – Trauern ist mehr als Loslassen

Trauernde haben bei einem schweren Verlust größte Schwierigkeiten mit dem gängigen Ansatz des »Loslassens«. Sie wehren sich gegen diese so häufig wie unbedacht geäußerte Empfehlung. Das hier vorgestellte Modell des Trauerns und der inneren Beziehung zum Verstorbenen nimmt den Widerstand der Trauernden gegen das »Loslassen« ernst und hilft dem Hinterbliebenen, mit (!) dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben. Nicht das Loslassen steht bei diesem Ansatz im Zentrum, sondern die Bindung zum Verstorbenen. Auch wenn der Tod das Leben des Verstorbenen beendet, die Gefühle der Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen beendet er nicht.

Nach dem Tod eines nahen Angehörigen muss sich die bisherige Beziehung in eine internale Beziehung zum Verstorbenen transformieren. In der Liebe des Hinterbliebenen darf diese Beziehung weitergehen. Wie die Untersuchungen von Klass et al. (1996) und Bednarz (2003, 2005) zeigen, leben viele Hinterbliebene mit dem Verstorbenen als innerem Gegenüber eine andere, nämlich innere Beziehung weiter.

Fallbeispiel: Ich will dich nicht ein zweites Mal verlieren

Eine 70-jährige Frau verliert ganz plötzlich ihren erwachsenen Sohn. Immer wieder wird ihr geraten, ihren Sohn loszulassen. Im Trauergespräch mit mir lehnt sie dieses Ansinnen empört ab und erklärt: »Ich will doch meinen Sohn nicht ein zweites Mal verlieren.«

Sigmund Freud hat wie kein anderer das vorherrschende wissenschaftliche Verständnis der Trauer geprägt. Von seiner Trieb- und Libidotheorie her begründet, sollen in der Trauer die libidinösen Bindungen an das Beziehungsobjekt gelöst werden. In dem Aufsatz Trauer und Melancholie schreibt Freud (1917, S. 430):

»Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? […] Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. […] Tatsächlich wird aber das Ich nach Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.«

Hier wird zum ersten Mal die Trauer als psychische Arbeit verstanden, was später dann im bekannten Begriff »Trauerarbeit« gefasst wird. Das Ablösen der Libido bedarf einer psychischen Anstrengung und Arbeit, die vom Trauernden mit dem Ziel einer emotionalen Loslösung gegenüber dem Verstorbenen zu leisten ist.

Bowlby (1983) und Parkes (1972) haben die Bindungstheorie zum Verständnis der Trauerprozesse herangezogen und ein erstes Phasenmodell entwickelt. Dieses Modell wurde dann von Kast (1977) weiter ausformuliert, mit den bekannten Phasen des Nicht-wahrhaben-Wollens, der aufbrechenden Emotionen, des Suchens und Sichtrennens und des neuen Selbst- und Weltbezugs.

In diesem Phasenmodell wird Trauernden teils explizit, teils implizit zu einem »Loslassen« und zu einem Abschließen des Trauerprozesses geraten. Dies widerspricht dem tiefen Wunsch von Trauernden, bei schweren Verlusten ihren geliebten Menschen auf Dauer im Inneren zu bewahren und eine innere Beziehung zu ihm weiterzuleben.

Exkurs:

Was wird als schwerer Verlust erlebt?

Jeder Verlust durch den Tod eines geliebten Menschen wird subjektiv sehr unterschiedlich erlebt und individuell sehr unterschiedlich verarbeitet. Das hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der Länge und Intensität der bisherigen Beziehung zum Verstorbenen, von der Todesart, von der Persönlichkeit der Trauernden und ihren bisherigen Verlusterfahrungen.

Bei allen individuellen Unterschieden kann man davon ausgehen, dass folgende Verluste und Verlustsituationen in der Regel als sehr massiv und schwer erlebt werden:

·unerwarteter, plötzlicher Verlust zur Unzeit

·traumatische Umstände beim Tode des geliebten Menschen, insbesondere entstellende Unfälle, Tod durch Gewalt, meist auch Tod bei Großschadensereignissen; oft auch traumatisierende Umstände beim Auffinden des Verstorbenen oder bei Überbringung der Todesnachricht

·Verlust eines Menschen, für dessen Tod die Hinterbliebenen mitverantwortlich sind oder an dessen Tod sie sich mitschuldig fühlen

·mehrere, oft nahe beieinanderliegende schwere Verluste im Laufe einer Biografie

·uneindeutige Verluste, bei denen der Leichnam des Verstorbenen zerstört wurde oder nicht gefunden werden kann

·Verlust durch einen Suizid des Angehörigen

·Verlust eines Menschen, mit dem die Trauernden in intensiver emotionaler Beziehung lebten; hier auch ambivalente, ausbeutende oder missbrauchende Beziehungen des Verstorbenen zum Hinterbliebenen

·Verlust eines Kindes jedweden Alters

·Verlust eines Geschwisters, besonders im Kindes- und Jugendlichenalter der zurückbleibenden Geschwister

·Verlust eines Elternteils oder beider Eltern, manchmal auch ein wichtiger Großelternteil im Kindes- und Jugendlichenalter.

Es sei hier noch einmal betont, dass jeder und jede Trauernde letztlich selbst entscheidet, ob und als wie schwer ein Verlust erlebt wird. Dies muss in der Trauer- und Beziehungsbegleitung in jedem Falle anerkannt und als Ausdruck der besonderen Beziehung zum Verstorbenen gewürdigt werden.

1.2Der hypnosystemische Trauer- und Beziehungsansatz – Eine neue innere Beziehung finden


Schon Bowlby (1983, S. 183) wies ausdrücklich darauf hin, dass die Verbindung zum Verstorbenen weiterbestehen kann und dass sie ein integraler Bestandteil gesunder Trauer ist. Dies wurde in der Trauerforschung und insbesondere in der deutschen Trauerliteratur nicht rezipiert und weiterverfolgt.

Die bahnbrechende Arbeit mit dem programmatischen Titel Continuing bonds von der Arbeitsgruppe um Dennis Klass (Klass et al. 1996) hat empirisch gezeigt, dass viele Hinterbliebene in einer inneren, weitergehenden Beziehung zum Verstorbenen bleiben. Für ihre sozialwissenschaftlichen Studie Den Tod überleben. Deuten und Handeln im Hinblick auf das Sterben eines anderen (Bednarz 2003; vgl. auch Bednarz 2005) hat Anja Bednarz Trauernde danach befragt, wie sie einen Verlust verarbeiten. Dabei zeigte sich – unabhängig von den Forschungen von Klass –, dass die Verstorbenen ein internaler und weiterhin bedeutsamer Teil in der Person der...

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