Im folgenden Kapitel werden die Hauptnachrichtensendungen der ARD, Tagesschau und von RTL, RTL aktuell vorgestellt. Um deren heutiges Erscheinungsbild zu erklären, ist es notwendig, das Selbstverständnis der beiden Sender und die Geschichte der Sendungen darzustellen. Dabei haben Strategieänderungen von RTL immer eine Änderung der Nachrichtensendung zur Folge gehabt, so dass es bei RTL aktuell sinnvoll ist, die Entwicklung von RTL aktuell im engen Zusammenhang zur Senderstrategie darzustellen. Im Gegensatz dazu hat sich dass Profil der Tagesschau seit ihrer Gründung kaum geändert.
Bereits im NS-Staat sind Nachrichten Teil des Fernsehprogramms.[117] Nach dem zweiten Weltkrieg ist die „Wochenschau“ die erste Nachrichtensendung des neugegründeten öffentlich-rechtlichen Senders NWDR aus Hamburg. Sie wird wöchentlich ausgestrahlt. Die Tagesschau wird ab Januar 1952 dreimal pro Woche 15 Minuten gesendet, von Beginn an hat das Flagschiff der ARD ihren bekannten Sendeplatz um 20.00 Uhr. Die meisten Beiträge erhält die Tagesschau von der „Wochenschau“, nur vereinzelt drehen die Tagesschau-Redakteure eigenes Material.[118]
Das Erscheinungsbild der Tagesschau ist zu Beginn anders, als wir es heute kennen. Sie ist in jeder Hinsicht geprägt durch ihre Nähe zum Film: Der Vorspann zeigt eine Filmkamera,[119] die Bilder stehen im Vordergrund: „Mit Musik unterlegt und feuilletonistisch betextet, wurden Bilder von spektakulären Unglücksfällen, Katastrophen und Kuriosa aus aller Welt der spärlichen Zuschauerzahl vorgezeigt. Die Tagesschau entsteht als exotisches Bilderbuch.“[120] Wie im Zitat angedeutet, gibt es zu diesem Zeitpunkt noch keine Nachrichtensprecher, sondern die Filmaufnahmen werden live kommentiert.[121]
Die Arbeitsbedingungen in dieser Frühphase sind abenteuerlich. Der ehemalige Tagesschau-Redakteur Hans-Joachim Friedrichs erinnert sich: „Die erste Tagesschau-Redaktion saß bei der Neuen Deutschen Wochenschau im Keller. Als sie dann umgezogen sind, kam das hier aus der Heinrichstraße mit dem Auto rüber nach Lokstedt.“[122] Der Transport von Material aus dem Ausland ist noch komplizierter:
„Per Flugzeug wurde das Material nach Hamburg gebracht, wo es umständlich und zeitraubend bearbeitet werden musste. Nach 22.00 war der Film schließlich sendebereit, und diejenigen, die dabei waren, schwärmen noch heute von der exorbitanten logischen Leistung, die notwendig war, um so aktuell berichten zu können.“[123]
Ist die Tagesschau bisher nur mit Filmen aus dem Sendegebiet des NWDR beliefert worden, stoßen im November 1954 andere ARD-Anstalten dazu.[124] Die Zusammenarbeit zwischen Wochenschau und Tagesschau endet 1955, im gleichen Jahr als sich der NWDR in NDR und WDR aufteilt. Die Redaktion der Tagesschau bleibt in Hamburg-Lokstedt beheimatet.
Die Tagesschau vollzieht langsam den Wandel von der kleinen Schwester der Wochenschau zur Nachrichtensendung Nummer eins. Wichtige Schritte in dieser Entwicklung sind die werktägliche Ausgabe der Tagesschau ab 1956[125] und der Einsatz der Nachrichtensprecher am 2. März 1959. Die Nachrichtensprecher bedeuten gleichzeitig eine gravierende Programmreform und sind eine Abkehr von der filmdominierten- hin zu der wortdominierten Tagesschau.
Die Nachrichtensprecher werden das Markenzeichen der Tagesschau, alle anderen Fernsehnachrichten werden moderiert. Nachrichtensprecher repräsentieren die Trennung von Information und Meinung, denn sie lesen Meldungen vor, die von Redakteuren geschrieben werden. „Gerade diese fast unpersönliche Art des Vortragens, … schafft bei den Zuschauern Identifikation und Vertrauen. … Auch allzu auffällige Kleidung ist verpönt.“[126] Zuschauer der sechziger und siebziger Jahre halten den Nachrichtensprecher der Tagesschau gar für einen Vertreter der Bundesregierung.[127]
In 40 Jahren hat die Tagesschau ihr Erscheinungsbild achtmal leicht geändert. Bei allen Veränderungen behält die Tagesschau jedoch vertraute Elemente bei: Der Schriftzug Tagesschau in der Themenübersicht und die dominierenden Blautöne, die die Seriosität der Sendung unterstreichen.[128]
Neben der Präsentationsform ändern sich auch die Inhalte: Statt der bunten Stücke der Frühphase bilden zunehmend politische Themen den Schwerpunkt. Seit März 1960 endet jede Hauptausgabe der Tagesschau mit dem Wetter, [129] der Rausschmeißer der Sendung ist jedoch noch ein buntes Stück. [130] Die Entwicklung geht weiter: „In den folgenden Jahren etablierte sich Schritt für Schritt eine Nachrichtendramaturgie wie wir sie heute kennen, gekennzeichnet durch den Wechsel von Wortmeldungen, kurzen Nachrichten im Film (NiFs) und längeren (Reporter-)Beiträgen.“[131]
Inhaltlichen folgen technische Neuerungen: Eigene Kamerateams werden aufgebaut, der Wechsel zum 16 mm-Film und dank Eurovision der vereinfachte Bilder-Austausch mit ausländischen Sendern.[132] Im Laufe der sechziger Jahre kommen zu der Hauptausgabe der Tagesschau um 20.00 Uhr Vormittags- und Nachtsendungen. Diese Zahl erhöht sich mit dem Morgenmagazin, das alle halbe Stunde Nachrichten sendet. So sendet die ARD in einer Woche 22 Tagesschauausgaben.[133]
Die Tagesschau ist über Jahrzehnte zu einer Institution geworden und gehört für viele Zuschauer regelrecht zur Strukturierung des Abends. Die große Reichweite der Tagesschau spiegelt sich im Marktanteil von 33 Prozent wieder - damit ist sie die meistgesehene Nachrichtensendung Deutschlands.[134]
Seit 1996 hat die Tagesschau einen Internetauftritt, der zunächst die gleichen Inhalte bietet wie die Sendung. 1999 erweitert die Internetseite ihr Angebot um Hintergrundbeiträge in Text-, Audio oder Videoform. Die Redaktion nutzt die Möglichkeiten, die das Internet eröffnet und so gehören heute Expertenchats und Foren zum Angebot von tagesschau.de.[135]
Der Auftrag des öffentlichen-rechtlichen Senders ARD umfasst Information, Bildung und Unterhaltung. Der Programmauftrag der Nachrichtensendungen ist in den Rundfunkstaatsverträgen festgeschrieben: „Die Nachrichtengebung muss allgemein, unabhängig und objektiv sein. Kommentare sind deutlich von Nachrichten zu trennen und unter Nennung des Verfassers oder der Verfasserin als solche zu kennzeichnen.“[136] Die Tagesschau beschränkt sich auf die Vermittlung von Fakten in unterschiedlichen Formen, Kommentare bleiben den Tagesthemen vorbehalten. Bei der Auswahl aller Nachrichten sollten sich die Tagesschau-Redakteure nur daran orientieren, was sie für relevant hielten und nicht daran, was die Zuschauer am meisten interessiere.[137] Als weitere Orientierungshilfe hat die Tagesschau eine Art Nachrichtengrundgesetz aufgestellt, das allerdings nicht festgeschrieben ist:
Die Tagesschau will zur Versachlichung von Politik beitragen: Nachrichten verbreiten heißt Tatsachen melden.
Die Tagesschau will schnell und zuverlässig sein. Hat sie zu wählen, entscheidet sie sich für Zuverlässigkeit.
Was die Tagesschau veröffentlicht, hat sie zu verantworten, was sie verschweigt ebenfalls.
Nachrichten, die sensationell sind, meldet die Tagesschau. Sensationen, die keine Nachrichten sind, meldet sie nicht.
Die Tagesschau sendet für Millionen Zuschauer – nicht nur Interessengruppen.
Die Tagesschau will nicht indoktrinieren, sondern informieren.“
Welche Themengebiete und damit welche Nachrichtenfaktoren von der Tagesschau bevorzugt werden, zeigt ein Text der Homepage. Er besagt, dass der Nachrichtenfaktor Relevanz das wichtigste Auswahlkriterium bei Nachrichten ist, und zugleich Länge und Platzierung des Beitrags bestimmt, wobei die Meldung mit der höchsten Relevanz der Aufmacher ist. Politische und Wirtschaftsthemen bestimmen die Tagesschau, weitere Themengebiete, die die Sendung abdeckt, sind Wissenschaft, Medizin, Technik, Soziales, Kultur und Zeitgeschichte. Boulevardthemen haben in der Tagesschau keinen Platz, sondern finden im Boulevardmagazin „Brisant“ am Nachmittag statt.[138]
Die Studie „InfoMonitor 2006: Fernsehnachrichten bei ARD, ZDF, RTL und...