A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel
Eine Studie zu Blanchot, insbesondere aber eine über Thomas l’Obscur, wird sich aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes immer auf der Grenze zur Unverständlichkeit bewegen müssen. Dabei selbst ins Unverständliche abzugleiten, stellt keine geringe Problematik dar. Der Anspruch des vorliegenden Buches liegt nicht zuletzt darin, sich dem Unverständlichen über eine Dynamik von Verständlichem und Komplexem zu nähern, die das Nachtpotential von Blanchots Text(en) in seinen Paradoxien und logischen Abgründen zumindest in einigen Facetten nachvollziehbar wiederzugeben vermag. Die Grenze zwischen Komplexem und Unverständlichem ist dünn und die zwischen Verständlichem und Unverständlichem ebenso. Vielleicht könnte man dieses Verhältnis sogar so denken, dass die Komplexität eine Grenze zwischen Verständlichem und Unverständlichem bildet. Verständliches ist in Thomas l’Obscur eine Rarität, auch weil es immer eine Reduktion bedeutet: vom Virtuellen des Unverständlichen in die Aktualisierung des Verständlichen, des Realisierten, des Ausgesagten. In anderen Worten formuliert, ist die Verständlichmachung des Unverständlichen eine Reduktion des Nachtdenkens auf ein Tagdenken. Dieses Nachtdenken nachzuzeichnen, ohne von ihm schreibend gänzlich ergriffen zu werden, aber auch ohne der analytischen Ordnung des Tages zu verfallen, wird bedeuten, immer an der Grenze zwischen den beiden Logiken zu arbeiten. Der Leser dieser Arbeit wird selbst entscheiden müssen, wo sich meine Ausführungen über das Nachtdenken bewegen. Im Idealfall sind sie in regelmäßigen Abständen klare und pointierte Gedanken zu bisweilen doch recht anspruchsvollen theoretischen und literarischen Figurationen, wie z.B. der Höhle, des Abgrunds, der Wiederkehr vom Tod oder der Nacht. Meine Studie stellt dabei keine Motivgeschichte der Nacht dar, sondern vielmehr eine Lektüre von Thomas l’Obscur, die unter dem Stern der Nacht steht. Dies bewirkt unter anderem, dass in manchen Kapiteln Textstellen analysiert werden, in denen es vordergründig gar nicht um die Nacht geht, wohl aber um ihre Spuren und Konsequenzen.
Mit dem Nachtdenken sollen Prozesse und Bewegungen des Textes umfasst werden, die dem Begreifen stets vorhalten, dass die erkannte Bedeutung oder der gefolgerte Zusammenhang nur relativ ist und immer eine metonymische, metaphorische, analogische (die Reihe könnte um einige weitere Adjektive angereichert werden) Dimension dahinter liegt, die den Wahrheitsgehalt des Gelesenen ins Wanken bringt.
Wenn Literaturwissenschaft bedeutet – wie ich schon in meinen romanistischen Studienjahren gelernt habe – nicht nur festzustellen, dass ein Text bestimmte Effekte beim Leser erzeugt, sondern nach den Operationen des Textes zu forschen, die diese Effekte hervorbringen, so soll die vorliegende Arbeit über die Hinzunahme verschiedener philosophischer, psychoanalytischer und kultursemiotischer Konzepte genau eine solche Lektüre versuchen.
Meinen Textzugang kann man als philologisch-philosophischen Ansatz bezeichnen, der unter dem Zeichen eines Close Readings steht und strukturell die Form eines Textkommentars hat. Er ist eine Verbindung von Philologie und Philosophie, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Trennung zwischen philosophischem Denken und literarischem Schreiben bei Blanchot nicht leichtfertig zu machen ist. Beide sind über eine Erfahrung der Sprache verbunden, die Jacques Derrida wie folgt beschreibt: „Faire l’expérience, c’est avancer en naviguant, marcher en traversant. Et en traversant par conséquent une limite ou une frontière. L’expérience de la langue devrait être une expérience comme à la poésie et à la philosophie, à la littérature et à la philosophie.“1 Derridas Wunsch, Philosophie und Literatur zu vereinen, ist in Thomas l’Obscur realisiert über eine Erfahrung der Sprache, die eine Erfahrung der anderen Nacht darstellt.
Sofern es mir weniger um Blanchot-Exegese, als vielmehr um den Versuch geht, Blanchots mikropoetischer Sprache in Thomas l’Obscur zu folgen, rücke ich meine Methodik ganz bewusst in eine dekonstruktive Praxis des Kommentars als eine Praxis des Ränder-Vollschreibens. Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem 2003 ins Deutsche übersetzten Werk Die Macht der Philologie die Dekonstruktion als „philosophische Verkörperung des textuellen Prinzips des Kommentars“2 bezeichnet, betont dort auch:
Kommentare sollten der Traum eines jeden Dekonstruktivisten sein. […] Eine dekonstruktive Lektüre wird immer an einem Primärtext ‚entlang‘ lesen, und das ist zugleich eine Form der Lektüre, deren textuelle Äußerung notwendig von diesem Verhältnis zu dem betreffenden Primärtext geprägt sein wird. Es ist eine Lektüre, die sich der eigenen ‚Supplementarität‘ ebenso ständig bewußt ist wie der des Primärtexts, d.h. der in jedem Augenblick gegebenen Möglichkeit, dem Primärtext oder der dekonstruktiven Lesart weitere Worte hinzuzufügen.3
So ist sich meine Vorgehensweise des Eingreifens in den Text bewusst und betrachtet – mit Derrida und Roland Barthes gedacht – den Text als Textur, deren Auftrennung und Ausbreitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Bei diesem Prozess wird indessen nicht einfach etwas bereits Vorhandenes freigelegt, sondern überhaupt der Text erst erschaffen, neue Fäden in den Text eingezogen und das Gewebe mit anderen verknüpft.
Der Begriff des Kommentars wird gezielt dem der Analyse vorgezogen, weil er schon in seinem Selbstverständnis weniger gewaltsam vorgeht, indem er den Text nicht mutwillig zerstückelt und Sequenzen aus seinen narrativen Zusammenhängen reißt, welche gerade bei Blanchot äußerst wichtig sind. Im Sinne des dekonstruktiven Kommentars ist dabei ein wesentlicher Anspruch, nicht von außen Theoreme über den Text zu stülpen, sondern aus dem Geschriebenen heraus Bewegungen des Textes nachzuzeichnen und diese in einem zweiten Schritt mit literarischen, philosophischen oder anderen Subtexten zu verknüpfen. Dabei verschiebt sich automatisch jedes Mal der Zugang entsprechend und muss neu gesucht werden. Dies bedeutet konkret ein Schreiben an den Kapiteln von Thomas l’Obscur entlang: Zum einen sind die Kapitel eine von der Textstruktur selbst vorgegebene Ordnung, die so im Sinne des Respekts vor dem Text beibehalten wird. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Grund ist zudem, dass Thomas l’Obscur ein Text ist, der mit allen Mitteln und auf allen Wegen versucht, von innen heraus das Gesagte stetig zu relativieren, umzukehren oder zwischen Bezugsebenen gleiten zu lassen. Die Kapitelstruktur bildet daher auf diesem unsicheren Textboden eine der wenigen klaren Markierungen, die Blanchot dem Leser als Orientierungshilfe zugesteht.4
Darüber hinaus gibt es in der mittlerweile üppigen Blanchot-Forschung bislang keine derartige Lektüre. Viele Forschungsansätze sind eher dadurch gekennzeichnet, dass sie aus dem Kontext gerissene Sätze aus Blanchots Thomas l’Obscur relativ isoliert interpretieren, ohne dabei den Nebenspuren und dem jeweiligen Kontext in seinem Verlauf zu folgen, was jedoch meines Erachtens für die omnipräsente Doppelbödigkeit der Sprache Blanchots äußerst wichtig wäre und was sich meine Untersuchung folglich zum Ziel gesetzt hat. So entspricht jede Kapitelziffer meines Buches chronologisch einem Kapitel von Thomas l’Obscur. Die Anzahl der insgesamt 12 Kapitel ist infolgedessen das Resultat der 12 Kapitel des von Thomas l’Obscur in seiner Fassung von 1950.5
Thomas l’Obscur dient dabei als Plateau, von dem ausgehend Fluchtlinien und Querverbindungen gezogen werden. Dies impliziert auch, dass Thomas l’Obscur eine Art Basisstation formt, von der aus und zu der hin stetig gedacht wird. In Anlehnung an den Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari soll auch die Kapitelstruktur der Studie funktionieren: als Plateaus, die tendenziell unendlich weitergeschrieben werden können, die nicht hierarchisch geordnet, sondern in ihrer Abfolge Konsequenz des untersuchten Textes, und deren Relationen zueinander beweglich und verschiebbar sind. Das wesentliche Ordnungsprinzip der Arbeit geht dabei vom Untersuchungsgegenstand selbst aus: Es sind dies die mehrmaligen Durchgänge durch die Nacht, die ein wichtiges Strukturelement des Textes formen. Sie verlaufen auf der Ebene der Kapitel durchaus in einer gewissen Chronologie, als zyklische Sukzession von mittags, nachmittags, abends und nachts. Dieser Bewegung folgt meine Lektüre. Sie nimmt das Segmentierungsangebot des Textes ernst, indem sozusagen an den Kapiteln von Thomas l’Obscur ‚entlang geschrieben‘ wird, sie verfolgt sodann aber auch die Brüche dieser Makrostruktur, von denen es unzählige gibt. Diese Brüche verlaufen teilweise quer durch die Kapitel und kreieren eine Art Ungrund des Textes.
Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Text Thomas l’Obscur in seiner zweiten Fassung von 1950. Im Sinne der Einheit von Gegenstand und Methode wird von ihm ausgegangen und anderes Textmaterial mit einbezogen, um ihn zu lesen und ein bestimmtes Nachtdenken herauszuarbeiten, das ich in ihm dominant verhandelt sehe. Das zusätzliche Material setzt sich aus anderen Texten Blanchots zusammen – sowohl literaturkritisch-philosophischen (darunter Texte aus den Sammlungen L’espace littéraire, Faux Pas, De Kafka à Kafka, L’entretien infini) wie auch...