»Ich danke meinen Eltern und dem ganzen Kunstkurs«
Das Jahr, in dem ich Abi machte und zu studieren anfing, war ein gutes Jahr. Es war passenderweise das offizielle »Jahr der Geisteswissenschaften«, der Sommer war heiß und lang und begann schon in den Osterferien, und Fettes Brot sangen Emanuela. Ich beneide regelmäßig die ziemlich betrunkenen »Abiiiiiii«-Schreier mit ihren frisch bedruckten Shirts mit schlechtem Motto (KohlrABI, How I met your ABI, BacABI, jede Form von James Bond), die sich in Heidelberg Ende Juni auf der Neckarwiese zum Grillen treffen und sich jetzt einen ganzen Sommer lang sehr erwachsen und sehr frei fühlen. Ich weiß noch, wie gut das war. Wir hatten ein schwarz-rotes Abi-Shirt, was uns auf der Abschlussfeier aussehen ließ wie 95 Metal-Fans, und es war schön zu denken, dass alles völlig offen ist. Völlig offen war es natürlich nie, denn ich hatte einen Abi-Schnitt von 2,1, der gemessen an meinem Aufwand zwar ein kleines Wunder war, aber aus mir auf keinen Fall mehr eine Ärztin oder eine Kommunikationswissenschaftlerin machen konnte – beides Studiengänge, bei denen der Numerus clausus in diesem Sommer bei schlechtestenfalls 1,3 lag. Das war kein Problem, zumindest Ärztin hätte ich sowieso nicht werden wollen, außer vielleicht Tierärztin. Das war mein Traumberuf zwischen der dritten und der achten Klasse, und wie viele andere Mädchen stellte ich mir dabei vor allem vor, wie ich den ganzen Tag süßen Hunden die Pfötchen verbinden würde. Hässliche Bilder von Pferdebesamung trieben mir den Berufswunsch letztlich aus.
Mein Schnitt hätte vermutlich ein kleines bisschen besser ausgesehen, wenn ich das Abi ein kleines bisschen ernster genommen hätte. Für Englisch las ich die Clash of Culture-Shortstorys im Freibad am Tag davor. Für Deutsch lernte ich gar nichts, Effi Briest hatte ich immerhin gelesen. Und im Gegensatz zu manchen Mitschülern ging ich auch nicht in einen Mathe-Intensivkurs in den Osterferien. Gerade Letzteres war eine meiner schlechteren Entscheidungen, vor allem weil ich mit dem GTR, diesem riesigen Taschenrechner mit 37183 Funktionen, den wir von der Schule bekamen, keine Kurven zeichnen, sondern nur mit den Buchstabentasten lustige Nachrichten an meine Nebensitzer schreiben konnte. Meine Leistungskurse waren Kunst und Biologie, also die Kombination, mit der man die wenigsten Wochenstunden hatte. Für die andere Faultierkonstellation – Sport und Erdkunde – war ich leider zu langsam im Cooper-Test. Man musste bei uns nur in einem Leistungskurs Abi schreiben, und ich entschied mich kurz vor knapp kopflos für Biologie, weil ich Angst hatte, in der praktischen Kunstprüfung käme Töpfern dran. Kurz zuvor hatten wir nämlich im Kunst-LK eine kubische Architekturphantasie töpfern sollen, und ich bekam als Einzige von 24 Schülern nicht eine gerade Kante hin. Mein Kunstlehrer sprach später von »23 Architekturphantasien und einer Birne«. Für Bio musste man allerdings wesentlich mehr lernen als für Kunst, und Töpfern kam dann auch gar nicht in der Prüfung dran.
Die Tage des Abi-Schreibens zogen wie im Nebel an mir vorbei, und ich dachte mir noch, dass ich immer davon ausgegangen war, in dieser Woche würde man sich irgendwie ganz besonders und ganz angestrengt fühlen. Ich guckte viel aus dem Fenster, weil mir nie so viel einfiel, dass ich die ganzen fünf Stunden hätte durchschreiben können. Ich kann mich sogar noch daran erinnern, wie draußen vorm Fenster der Rasen gemäht wurde und ich versonnen dachte, dass gemähtes Gras sehr gut riecht. Ich ging oft aufs Klo und aß viele Himbeertraubenzucker, die ich – nervig für alle – einzeln aus ihrer knisternden Folienverpackung schälte.
Den mündlichen Teil, die sogenannte Präsentationsprüfung, brachte ich sehr lustlos hinter mich, was man daran merkte, dass meine einzige Quelle zum Thema Wikipedia war, und dementsprechend emotionslos war dann auch meine Benotung. Meine 2,1, mit der ich letztlich vom Platz ging, ist also eigentlich noch viel zu gut. Ich lag damit in etwa im Mittelfeld, viele waren besser, viele schlechter. Zwei in meinem Jahrgang hatten allerdings einen 0,75-Schnitt, und das finde ich irgendwo auch wieder abartig. Der eine arbeitet inzwischen bei McKinsey 23 Stunden am Tag und fährt in der 24. Stunde einen beeindruckenden Porsche nach Hause. Die andere studierte Ethnologie, also ein Fach, für das, wie man an meinem Beispiel sieht, auch 2,1 reicht. Im Rückblick hätte sie also eigentlich auch eine Jugend haben können.
Wir waren eine Reformgeneration, zumindest in Baden-Württemberg: Es begann schon in der Grundschule, wo ich nicht die normale Schreibschrift mit dem schönen geschnörkelten großen H, sondern die langweilige »Vereinfachte Ausgangsschrift« lernte. Im Gymnasium kam die Oberstufenreform drei Jahre vor mir an. Ich konnte nicht mehr Mathe abwählen oder alle Sprachen, und das war für meinen Abi-Schnitt nicht gesund. Vor allem nicht das mit den Sprachen, darin war ich immer schlecht, und das, obwohl ich im Sprachzug war. Der Sprachzug war der Streberzug. Die, die schon in der sechsten Klasse rauchten und später wussten, wie man den Ausweis fälschen kann, um sich in Clubs ab 18 zu schummeln, waren immer in den Naturwissenschaftsklassen. Später, einige Jahrgänge nach uns, wurde der Sprachzug als Strebersammelbecken an unserer Schule dann von der sogenannten Streicherklasse abgelöst, also fünfundzwanzig Elfjährige, die sich zusammenfanden, weil sie so gerne Bratsche spielten. Mit Englisch ging es jedenfalls bei uns los, das fand ich am Anfang noch cool. Wir bekamen englische Namen, um unseren Sprachfluss nicht durch deutsche Namen zu verhunzen, und ich entschied mich für Kelly, nach Kelly Bundy aus »Eine schrecklich nette Familie«, wobei mir diese Begründung inzwischen ein bisschen peinlich ist. Leider hatte ich kein Glück mit meiner Englischlehrerin, denn sie mochte mich nicht. Das zieht sich durch meine Biographie, meine Probleme mit Englischlehrerinnen. Selbst die, die ich in der Oberstufe neu bekam, konnte mich auf Anhieb nicht leiden. Als Einzige aus meiner Klasse bekam ich von ihr einen Klassenbucheintrag, weil ich für die praktische Führerscheinprüfung einen Tag gefehlt hatte. Ich war übrigens durchgefallen, wie fast jede meiner Freundinnen, insofern lohnte sich dieser Klassenbucheintrag nicht einmal. Der Führerschein war eine der teuersten und gleichzeitig traumatischsten Episoden meines Lebens. Er kostete mich 1400 Euro, zwei Fahrlehrer, zwei praktische Fahrschulprüfungen, mehrere Muskelkater wegen verkrampft durchgetretener Kupplung und mindestens beide Ärmel meines Nervenkostüms.
Latein bekam ich in der siebten Klasse. Gallia est omnis divisa in partes tres. Unsere Eltern waren begeistert, vielleicht wegen des leicht humanistischen Touchs. Latein, so sagte man uns, schule die generelle Einsicht in die Grammatik, man könne sich viele Fremdwörter herleiten, und außerdem ginge es ja um die Allgemeinbildung und so. Nur für die Uni, da brauche man es wirklich kaum noch, nur für Medizin oder Jura. Das ist eine der größten Lügen, die mir in meiner Schulzeit erzählt wurden, zumindest wenn man in Heidelberg studieren will. Hier braucht man für Medizin und Jura kein Latinum, aber für etwa jedes andere Fach. Latein für Germanistik, Anglistik, Ethnologie – generell für alles. Darum sitzen unglaublich viele Leute in ihren ersten zwei bis drei Semestern vor allem dreimal die Woche in Lateinkursen statt in Seminaren, die tatsächlich etwas mit ihrem Fach zu tun haben, und holen mit heraushängender Zunge das Latinum nach. Viele fallen durch, manche melden sich aus Angst ewig lange nicht an und verschenken so zwei Semester, wieder andere machen teure Crash-Kurse. Wenn man der Uni dann endlich sein nachgeholtes Latinum vorlegen kann, wird kurz genickt und gestempelt, und danach braucht man es nie mehr, zumindest habe ich für Kunstgeschichte, Religionswissenschaft, Byzantinische Archäologie und mein eines Semester Germanistik nie wieder ein Wort Latein hervorgekramt.
Trotzdem war ich natürlich wahnsinnig froh, in der Schule schon Latein gehabt zu haben, als ich an die Uni kam. Denn im Gegensatz zur Schule muss man in den Uni-Lateinkursen tatsächlich Latein lernen und kann sich nicht jahrelang durchwursteln, ohne zu verstehen, was man da macht. Die ersten vier Jahre hatte ich durchgängig eine Vier, und die war noch geschönt, weil ich weder Vokabeln lernte noch jemals verstanden habe, was ein AcI ist. Im fünften und letzten Jahr kam die Rettung: Wir bekamen eine alte, schwerhörige Lateinlehrerin, mit einer Vorliebe für Stoffhosen mit Bügelfalte, die sie knapp unter den Brüsten mit schmalen Gürteln festzurrte. Sie war meine Chance. Ich ließ mir im Unterricht die richtigen Antworten vorsagen, weil sie Flüsterfrequenzen nicht hörte, schrieb ab, weil sie auch noch schlecht sah, und hielt ein benotetes Referat, das aus einem selbstgeschriebenen und selbstaufgenommenen Hörspiel zum Thema »Die Frau im alten Rom« bestand, bei dem ich meine Freundinnen gezwungen hatte, zu dilettantischen Hintergrundeffekten Frauenschicksale einzusprechen. Ich bekam dafür eine Eins und wählte Latein mit einer Zwei ab, die sich in meinem Zeugnis beeindruckend genug ausmachte, um einen Studienplatz an der lateinbesessenen Heidelberger Uni zu bekommen. Latein und ich, eine...