Einige Tage vor der Abreise.
Moskau, im November.
Die Moskauer Buchmesse war ein Erfolg. Warum hatten die Veranstalter diese Versammlung von Leuten, die an einem rechteckigen Tisch saßen und sich alle einig waren, Diskussionsrunde genannt? Ich saß neben Maylis de Kerangal, schwer eingeschüchtert von der Schönheit der Autorin von Tangente vers l’est (»Ost-Tangente«). Nuanciert drückte sie ihre Liebe zu Russland aus. Sie riss alles an sich, was ich sagen wollte. Ihre Augen standen weit auseinander, ein Merkmal ihrer Überlegenheit. Sie erzählte von ihrer Reise mit der Transsibirischen. Ich wäre gerne mit ihr gefahren, hätte ihr den Tee serviert, ihre Taschen getragen und ihr abends zum Einschlafen Boris Godunow vorgelesen.
Gras und ich versuchten, unser Publikum davon zu überzeugen, dass es notwendig sei, die Route des Rückzugs aus Russland noch einmal zurückzulegen. Wie von Maylis versteinert, unserer Sache nicht sicher, schoben wir uns gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Die Leute hielten uns wahrscheinlich für Stan und Ollie.
»Napoleon mag ein blutrünstiges Ungeheuer gewesen sein …«, begann ich.
»… aber man muss zugeben«, fuhr Gras fort, »dass wir unsere Verwaltung, unsere Kataster, unser Recht …«
»… ganz und gar ihm verdanken.« Der Schlag saß.
»In Frankreich«, sagte Gras, »vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht im Rahmen von Gesetzen bewegen, die seinem Kopf entsprungen sind.«
»War er ein Wahnsinniger?«, fragte ich, »ein Genie? Ein Inselprophet, bei dem das Spektakel der sich untereinander bekämpfenden korsischen Clans das Bedürfnis nach Einheit weckte …«
»… ja, sogar nach der Verschmelzung von Orient und Okzident?«, setzte Gras hinzu.
»Darum geht es bei unserem Unternehmen allerdings nicht …«
»… nein, wir wollen vielmehr …«
»… das Andenken an Hunderttausende glücklose Soldaten wachrufen, an die Opfer, die ihrem Führer gefolgt waren, die geglaubt hatten, ein Volk könne …«
»… mit dem Blut eines jeden einen kollektiven Roman schreiben …«
»… und jeder ein wenig am Ruhm teilhaben …«
»… und sich mit der Seele Napoleons vereinigen, wie Léon Bloy sagte.«
»Zur Erinnerung an diese Männer wollen wir diese Fahrt mit dem Motorrad unternehmen«, sagte ich. Und Gras:
»Wir werden keine Gedenkfeiern abhalten.«
»Wir begnügen uns damit, die Strecke des Rückzugs noch einmal zurückzulegen.«
»Und dabei tief in uns selbst …«
»… die Last des Elends, …«
»… das ganze Leiden ermessen …«
»… und den Preis, den der Traum von Größe kostet, …«
»… und wie viele Tränen es braucht, um die Welt zu verändern.«
»Warum«, fragte Gras abschließend, »waren diese Männer bereit, das Bündnis von Ehre, Wahnsinn und Tod einzugehen?«
»Alles in allem sind sie uns noch sehr nahe. Was sind schon zweihundert Jahre?«, meinte ich.
Damit ging die Veranstaltung zu Ende. Maylis ergriff die Flucht. Wir kehrten zu unserer Gastgeberin zurück, die an der Französischen Botschaft für die Literaturvermittlung zuständig war.
Erhitzt von unseren Reden gingen wir auf sie zu: »Was meinen Sie, hat unsere Diskussion die Russen erschreckt?«
»Die Russen stehen doch auf Napoleon, stimmt’s? Werden sie die Absicht unserer Reise nachvollziehen können?«
»Haben Sie schon im Hotel eingecheckt?«, lautete die Antwort der Dame, die für die Verbreitung der französischen Sprache in Russland sorgte.
Man gewöhnt sich schnell daran, einen Zweispitz zu tragen. Es war Ende November. An jenem Abend nach der Veranstaltung auf der Buchmesse in Moskau saßen wir zu fünfzehnt zu Tisch. Fünfzehn Freunde in einer Wohnung in der Petrowka-Straße unter den Porträts von Lenin und Beria. In den Leuchtern steckten slawische Kerzen: Sie schmolzen in Höchstgeschwindigkeit mit durchscheinenden Tränen. Es wurde Russisch gesprochen wie unter wohlerzogenen Europäern. Darunter waren Franzosen, Slawen, ein Deutscher, ein Balte, zwei oder drei Ukrainer, alles Gäste unseres Freundes Jacques von Polier, einem asthmatischen Grandseigneur, Russenfreund und Businessman. Ich trug eine Replik der kaiserlichen Kopfbedeckung, jener, die man auch in Irrenanstalten findet und die ich während unseres Feldzugs nicht mehr absetzen wollte. Ich habe immer an die Wirkung der Kopfbedeckung geglaubt. Hüte machen Leute, so war es früher. So ist es noch heute im Orient: Man identifiziert Sie mit dem, was Sie auf dem Kopf tragen. Es ist eine Krankheit der Moderne, uns mit unbedecktem Kopf durch die Straßen gehen zu lassen. Dank des Zweispitzes würde durch eine geheimnisvolle alchemistische Perkolation vielleicht ein wenig vom Genie des Kaisers in mich einsickern.
Der Zweispitz, den ich trug, war dem des kleinen Korsen nachgebildet. Dieser mit einer Schleife versehene Hut hatte mehr ein Rätsel denn einen Menschen bedeckt. Der Kaiser war auf einer mit Esskastanien bewaldeten Granitinsel geboren worden, ohne zu ahnen, welche ungeheure Energie er in sich trug. Wie wird man zu dem, was man ist? Das war die Frage, die Napoleons Schicksal für uns aufwarf. Welche geheimnisvollen Verkettungen brachten den unbedeutenden Offizier bis zur Kaiserkrönung 1804 in der Kathedrale von Notre-Dame de Paris? Welche hellseherischen Fähigkeiten trieben ihn dazu, die Führung einer halben Million Soldaten zu übernehmen, die ganz Europa fürchtete? Welcher Stern führte ihn zum Triumpf? Welcher Genius verlieh ihm die Gaben und Mittel der griechischen Götter: den Blitz, die Kühnheit, den Kairos?
Er hatte seine Männer davon überzeugt, dass ihnen auf ihrem ruhmreichen Weg kein Widerstand drohte. 1798 hatte er ihnen die Pyramiden geschenkt, 1805 das Rheinland, 1808 die Tore von Madrid, 1810 die Ebenen der Niederlande. 1802 hatte er in Amiens England in die Knie gezwungen und 1807 in Tilsit den Zaren aller russischen Reiche dazu gebracht, freundlich zu sein und zu kuschen. Er hatte die Verwaltung umgestaltet, den Staat reformiert, die alten Modelle der Zivilisation über den Haufen geworfen, an einer Legende mit makedonischen Anklängen gestrickt.
Und auf einmal sollte der Traum wegen des Todesmarsches durch die russischen Steppen in sich zusammenbrechen. Das Jahr 1812 war vom Heraufziehen eines düsteren Unheils markiert, dessen erstes Kapitel sich an den Ufern des Njemen abspielte und das drei Jahre später in den feuchten und zerfallenden Mauern von Sankt Helena enden würde.
Wir tranken also die Weine Jacques von Poliers. Wir leerten die Cabernets von der Krim, speisten Hering mit Dill, Blutwurst mit Preiselbeeren, gezuckerte Cornichons. Es gab kleine Karaffen, gefüllt mit einem Elixier für Vergessen und Verzeihen – und für Schadenfreude: mit weißrussischem Wodka, kristallklar wie Mineralwasser aus Savoyen. Unser Gastgeber war zwanzig Jahre zuvor nach Moskau gezogen, weil er Frankreich und seiner Reglementierungswut, seiner populistischen Metzgermeister, schamlosen Sozialisten, Geranientöpfe und Kreisverkehre überdrüssig geworden war. Frankreich, ein kleines Paradies, bevölkert von Leuten, die sich in der Hölle glaubten, regiert von Tugendwächtern, die damit beschäftigt waren, den Bewohnern des Menschenparks die Zügel anzulegen, entsprach seinem Freiheitsdrang nicht mehr. Er hatte Lust auf Abenteuer, aufs Wirkliche. Er verhandelte lieber mit Businessmen, die wie brutale Rohlinge aussahen, als mit den Barrakudas von der Pariser Haute École Commerciale, die niemals auf die Idee gekommen wären, ihm nach Vertragsverhandlungen einen feuchtfröhlichen Saunagang anzubieten. Jacques fühlte sich einem Fischer des Ladogasees mehr verbunden als einem Typen, der ihm einen Kostenvoranschlag vorlegte. In Frankreich schien ihm jeder mit seiner eigenen Bilanz beschäftigt zu sein. Seitdem schleppte er seine lange Gestalt durch die verborgenen Winkel der Ex-UdSSR und mit ihr seine großzügigen Gesten und seine zwei irren, schwarzen Augen, die begierig nach Gelegenheiten suchten, die ihn am Schlafen hindern konnten.
2008 hatte er die Uhrenfabrik Raketa aufgekauft, die im 17. Jahrhundert von Peter dem Großen gegründet und von den Sowjets mit dem Ziel verstaatlicht worden war, die Legende der UdSSR einzugravieren. Das Politbüro bestellte zu jeder Gelegenheit eine neu gestaltete Armbanduhr. Es gab Modelle zu Ehren der U-Boot-Matrosen, der Olympischen Spiele von 1980, des ersten Weltraumflugs von Gagarin, der Polarexpeditionen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war die Fabrik dem Fiskus anheimgefallen. Ein schlecht gehendes Geschäft hatte Jacques schon immer besonders gereizt, und eine Sache, die verloren schien, begeisterte ihn erst recht. 1990 hatte man noch sechs Millionen Uhren im Jahr produziert, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend waren es gerade mal noch tausend. Von der Belegschaft, die einen Lohnrückstand von sechs Monaten hinnahm, waren rund fünfzig übrig geblieben, während unter Gorbatschow noch einige Tausend Beschäftigte gestempelt hatten.
Also rackerte Jacques, um die Marke wiederzubeleben. Er steckte seine ganze Energie, sein ganzes Herz hinein. Die Russen, die ihn zuerst verspottet hatten, betrachteten diesen Pariser schließlich mit Bewunderung, der die einzige Präzisionsfabrik dieses auf Annäherung und Ungefährem fußenden Landes nicht sterben lassen wollte und der dafür kämpfte, dass der Pulsschlag der Raketa auch weiterhin an den Handgelenken der Muschiks schlug.
Gras und ich waren stolz wie Traktoristen der Landwirtschaftsbrigade Nummer 12, denen man den...