2. Die Kulturgeschichte der Naturdrogen
2.1 Die prähistorische Verwendung von Naturdrogen
Der Gebrauch von Rauschmitteln scheint so alt wie die Menschheit zu sein.33 Rauschmittel sind seit Menschengedenken auf allen Kontinenten im Gebrauch.34 Jörg Conradi führt an, dass Cannabis, Betel, Opium und Tabak schon in der Steinzeit gebraucht wurden.35 Laut Ronald K. Siegel hat der Mensch ein natürliches Bedürfnis nach ekstatischer Erfahrung.36 Durch Archäologen werden in neuerer Zeit immer mehr Entdeckungen gemacht, die den Gebrauch von Naturdrogen vor etlichen tausenden Jahren belegen. Erstaunlich ist beispielsweise die Entdeckung von Felszeichnungen auf dem afrikanischen Kontinent, welche im Gebiet der Sahara zwischen Tassili (Südalgerien), Acacus (Libyen) und Ennedi (Tschad) gefunden wurden. Auf diesen Felszeichnungen, die aus der so genannten Rundkopfphase – vor ca. 9000 bis 7000 Jahren – stammen, sind eine Vielzahl von mythologischen Wesen mit anthropomorphen und zoomorphen Eigenschaften zu sehen, die u. a. neben Pilzen, aber auch mit Pilzen in den Händen, dargestellt sind. Auf einer Abbildung sind die Pilze mit gestrichelten Linien mit dem Kopf der anthropomorphen Wesen verbunden. Nach Gartz sind damit eindeutige Belege für den Gebrauch von psychoaktiven Pilzen in dieser Zeit gegeben.37
Abb. 3 Felszeichnung aus Tassili von mythologischen Wesen mit Pilzen in den Händen
Abb. 4 Pilzstein in Kerala (Süd-Indien)
Im Jahre 1999 hatte ich persönlich die Gelegenheit in Kerala (Süd-Indien) eine ethnomykologisch interessante Beobachtung zu machen. Durch einen Artikel von Giorgio Samorini angeregt38, besuchte ich die in der Malayalam-Sprache als „kuda-kallu“ (= Schirm-Stein) bezeichneten Steinbauten, welche zu einer Megalith-Kultur auf dem indischen Subkontinent gehören, die in die Zeit von 1400 v. Chr. bis 100n. Chr. fällt. Bei diesen zwischen 1,5 und 2 m hohen Steinstrukturen handelt es sich, laut Meinung zahlreicher Experten, um die Darstellung von Pilzen. Samorini stellt die Hypothese auf, dass es sich dabei um psychoaktive Pilze gehandelt haben muss, die mit diesen Pilzsteinen besonders verehrt wurden. In Mittelamerika wurden ebenfalls prähistorische Pilzsteine bei Ausgrabungen von Mayatempelruinen gefunden, die ca. 30 cm hoch und etwa 2000 Jahre alt sind. Diese dienten wahrscheinlich in gleicher Weise der Verehrung von psychoaktiven Pilzen, welche dort im rituellen Rahmen eingenommen wurden.39
Abb. 5 Prähistorischer Pilzstein aus Mittelamerika
Ein anderes Beispiel sind die Fundstücke von Schnupfpulverbestecken, die bei Ausgrabungen von Gräbern in Nordchile entdeckt wurden. Bei der chemischen Analyse der anhaftenden Pulverzubereitungen wurden die psychedelischen Wirkstoffe DMT und Bufotenin identifiziert. Rätsch schreibt hierzu: „Die archäologische Analyse ergab, dass über 20% der männlichen Bevölkerung am psychoaktiven Geschnupfe aktiv beteiligt waren.“40
2.2 Naturdrogen und Religion
Es gibt einige Autoren, die den Gebrauch von Rauschmitteln mit der Entstehung von Religion in Zusammenhang bringen. John M. Allegro stellte z. B. 1970 die These auf, dass die Entstehung des Christentums auf den Gebrauch des Fliegenpilzes zurückzuführen ist.41 Auch Terence McKenna vertritt in seinem Buch „Die Speisen der Götter“ die Theorie, dass Religion durch den Gebrauch von Psychedelika entstanden ist.42 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es zwei mir bekannte Darstellungen des biblischen Baums der Erkenntnis gibt, die Pilzen sehr ähnlich sehen. Zum einen ist dies das von Allegro erstmals veröffentlichte Fresko aus dem 13. Jahrhundert in der Kapelle von Plaincourault (Frankreich, Gemeinde Merigny), welches den Baum der Erkenntnis unmissverständlich als Fliegenpilz darstellt.43 Zum anderen das von Gartz „entdeckte” Relief der biblischen Szene „Das Gericht im Paradies“ auf der 472 cm hohen und im Jahre 1015 vollendeten bronzenen Bernwardstür im Dom von Hildesheim (UNESCO Kulturerbe), auf dem der Baum der Erkenntnis ebenfalls pilzähnlich dargestellt ist.44 Auf der wenige Jahre später entstandenen Bernwardssäule sind ebenfalls pilzähnliche Abbildungen zu erkennen. Bei einer persönlichen Besichtigung überzeugte mich allerdings die Darstellung der Pilze – welche von Paul Stamets als Spitzkegelige Kahlköpfe (Psilocybe semilanceata) gedeutet werden – nicht.45 Aber ebenso wenig überzeugt die Auffassung der Kunsthistoriker, die den Baum der Erkenntnis als Feigenbaum interpretieren.46
Abb. 6 Fresko aus der Kapelle von Plaincourault (Frankreich)
Ein weiteres christliches Artefakt, welches mit psychoaktiven Pflanzen in Verbindung steht, ist das „wundertätige“ Wurzelkreuz in der Wallfahrtskirche von Maria Straßengel in der Steiermark. Das 18,5 cm hohe, gegabelte Kruzifix, welches den Gekreuzigten mit ausgestreckten Händen und zusammengebundenen Füßen sowie mit realistischen – vom Todesschmerz gekennzeichneten – Zügen darstellt, wurde 1870 von dem österreichischen Botaniker Franz Xaver Unger als die sagenumwobene, menschengestaltige Wurzel der Alraune (Mandragora officinalis) identifiziert. Die Einwirkungen eines Schnitzmessers wurden durch pflanzenphysiologische Untersuchungen ausgeschlossen.47 Über die Alraune stellen Rätsch und Müller-Ebeling fest, dass diese schon in der Bibel – wegen der aphrodisischen und fruchtbarkeitsfördernden Qualität ihrer reifen Früchte – mit dem Namen „dûdâ ’îm“ erwähnt wurde.48
Über den geheimnisvollen Soma-Kult der alten Indoeuropäer wurde ebenfalls viel spekuliert. Richard Gordon Wasson – der Begründer der Ethnomykologie und Wiederentdecker der mexikanischen Pilzkulte – war der Ansicht, dass es sich bei Soma um den Fliegenpilz (Amanita muscaria) handelte, auch wenn er, laut Aussage von McKenna, persönlich keine ekstatischen Erfahrungen nach dem Verzehr von Fliegenpilzen machte.49 Gartz ist der Auffassung, dass die psychoaktive Wirkung des „pharmakologisch eher uninteressanten”50 Fliegenpilzes in vieler Hinsicht überbetont wird.51 Andere Autoren sind der Meinung, dass es sich bei Soma um die Steppenraute (Peganum harmala) oder um psilocybinhaltige Pilze gehandelt haben könnte.52 Die Suche nach dem Soma der Veden – den ältesten religiösen indischen Zeugnissen – wird wohl noch weitergehen.
Abb. 7 Relief der biblischen Szene „Das Gericht im Paradies“ auf der Bernwardstür im Dom von Hildesheim
Abb.8 Bernwardssäule mit Pilzmotiv im Dom von Hildesheim (Deutschland, ca. 1020 n. Chr.)
Fest steht, dass in vielen traditionellen Kulturen der Gebrauch von Naturdrogen mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht wurde, was sehr gut an den Entstehungsmythen dieserpsychoaktiven Pflanzen und Pilze ablesbar ist.53 Laut Samorini wurden psychoaktive Pflanzen und Pilze „überall als Geschenk betrachtet, das den Menschen von der Gottheit gegeben wurde, und hin und wieder wurden sie sogar vollständig mit einem Gott gleichgesetzt“54.
2.3 Die „moderne“ Erforschung von Naturdrogen
Die systematische Erforschung der Naturdrogen begann erst im 19. Jahrhundert durch den liberal gesinnten Ernst Freiherr von Bibra. Bibra stellte schon 1855 fest, dass nirgends „auf der ganzen weiten Erde wird ein Land gefunden [wird], dessen menschliche Bewohner sich nicht irgendeines narkotischen Genussmittels bedienen, ja fast alle haben deren sogar mehrere, und während einige dieser Narcotica vielleicht nur von einzelnen Stämmen gebraucht werden, ist die größere, überwiegendere Menge derselben von Millionen Menschen angenommen“55. Heute nimmt laut Hartmut Laatsch jeder vierte Mensch Rauschmittel irgendwelcher Art ein. Zählt man die „legalen” Rauschmittel hinzu, ist es jeder zweite.56 Durch Bibra wurde in Deutschland eine Welle der interdisziplinären Drogenforschung ausgelöst, wobei sich erst im 20. Jahrhundert die Ethnologen für den Gebrauch von psychoaktiven Pflanzen, Pilzen und Tieren interessierten.57 Hier ist das bereits erwähnte Werk „Magische Gifte“ von Victor A. Reko zu nennen, der schon im Vorwort zur ersten Auflage aus dem Jahre 1936 feststellte, dass die „Einstellung der modernen Menschheit zum Problem der betäubenden Genussmittel (...) heute noch ebenso uneinheitlich und unlogisch [ist], wie sie es im tiefsten Mittelalter war.”58
Die frühe chemische Erforschung der Naturdrogen fokussierte sich auf das Opium, woraus Friedrich Wilhelm Sertürner Anfang des 19. Jahrhunderts das Morphin isolierte und damit eine neue Klasse von Pffanzeninhaltsstoffen – die Alkaloide – entdeckte.59 Als weiterer Meilenstein kann die Entdeckung und Reindarstellung des wirksamen Prinzips des Kokastrauchs (Erythroxylum coca...