Es gab keinen Knall, und es gab auch keinen Schmerz in dem Moment, der meine Karriere in das Vorher und das Nachher teilt. Ich bin einfach irgendwie hängen geblieben mit meinem Knie, als ich mich an meinem Gegenspieler Sebastian Biederlack vorbeischlängeln wollte. Ich stürzte, stand wieder auf, spielte weiter. Etwas schwammig fühlte es sich an, das rechte Knie, aber das war nichts, was mich daran gehindert hätte, dieses Testspiel gegen den Club an der Alster zu beenden. Schließlich sollte eine Woche später die Feldbundesligasaison 2011/12 beginnen, und ich war in der Form meines Lebens.
Zehn Tage zuvor war ich mit den deutschen Herren Europameister geworden, bei der Heim-EM in Mönchengladbach. Das war, nach dem WM-Triumph von 2006, der nächste Coup im eigenen Land, und für mich war es ein ganz besonderes Turnier. Im Juni 2011 hatte sich meine damalige Freundin und heutige Frau Stephanie von mir getrennt, nach acht Jahren Beziehung. Zusammengekommen waren wir, bevor meine Leistungssportkarriere richtig Fahrt aufnahm, und deshalb war es das erste Mal, dass ich mit der Bürde spielte, im Privatleben einen schweren Einschnitt erlebt zu haben.
Man kann also durchaus behaupten, dass Steph mitverantwortlich für all das war, was in den 15 Monaten des Wahnsinns, wie ich sie rückblickend nenne, auf mich einstürzte. Sie hatte mich mit ihrer Entscheidung, mich zu verlassen, zum ersten Mal in meinem Leben dazu gebracht, mich selbst zu hinterfragen. Und ein bisschen Selbstreflexion hatte ich wahrlich mehr als nötig. Ich machte an der SRH Fernhochschule Riedlingen ein Fernstudium in Wirtschaftspsychologie und befand mich in einer Findungsphase, die nicht nur mein Privatleben, sondern auch den Sport mit einschloss.
Vor der Trennung von Steph hatte ich nie etwas darum gegeben, was andere von mir hielten oder wie ich auf mein Umfeld wirkte. 2006 hatte ich, als 21-Jähriger, im WM-Finale, das wir 4:3 gewannen, ein Tor gegen Australien geschossen, 2008 hatte ich mit dem Uhlenhorster HC erstmals die Euro Hockey League gewonnen, und danach war ich in Peking Olympiasieger geworden. Das waren alles frühe Erfolge, die ich nie richtig verarbeitet hatte. Als Weltmeister und Olympiasieger fühlte ich mich unverwundbar, in Zeitungsinterviews sagte ich so Sachen wie, ich könne auf den Mond fliegen und den Mann im Mond umdribbeln. Kurz: Ich gab mich als Freak, der meinte, sich nicht an Regeln halten zu müssen, und der sein Ding machte. Und ich dachte nicht daran, dass andere ein Problem damit haben könnten. Ich war der coole Mo, das junge Supertalent. Dass meine bisweilen zynische, auf jeden Fall aber ziemlich selbstsichere Art bei vielen Menschen negativ ankommen könnte, damit rechnete ich nicht.
Ich konnte lange nicht verstehen, warum viele mich nicht mochten oder sich doch sehr reserviert zeigten. Ich dachte: Ich bin doch immer nett! Erst als Steph mich verlassen hatte, wurde mir klar, dass ich etwas ändern musste.
Zwar nicht meinen Charakter – man kann sich nicht verbiegen, darum geht es auch gar nicht –, aber ich musste an meinem Auftreten arbeiten. Ich hatte mich in den Monaten vor der EM zu einem arroganten Besserwisser entwickelt, der andere kritisierte, ohne sich selbst je zu hinterfragen. Mein Ziel war stets der größtmögliche Erfolg, aber mein Auftreten war, so wurde mir klar, alles andere als zielführend. Ich musste es anders anpacken. Es lag an mir, etwas zu verändern.
Mit diesen Gedanken beschäftigte ich mich während der Vorbereitung auf die EM intensiv. Umso glücklicher war ich dann, dass es tatsächlich funktionierte. Ich hatte mir vorgenommen, als Leader, als Führungsspieler zu agieren, aber gleichzeitig mannschaftsdienlicher zu spielen, meine Mitspieler mehr in mein Spiel einzubeziehen, ohne meine eigenen Stärken zu vergessen. Aufgrund der privaten Probleme war der Sport mehr denn je ein Ventil für mich. Ich konzentrierte mich voll und ganz auf Hockey und gab alles für den Erfolg.
Mit 26 Jahren, die ich damals alt war, hatte ich das optimale Leistungssportleralter erreicht. Mit unserem Konditionstrainer Rainer Sonnenburg hatte ich sehr viele zusätzliche Trainingseinheiten absolviert und befand mich athletisch auf einem sehr hohen Niveau. Dazu kam die Erfahrung, die ich in den vielen internationalen Turnieren, die ich mittlerweile gespielt hatte, gesammelt hatte. Nicht zuletzt aber waren wir eine großartige Mannschaft. In der Vorrunde schlugen wir Belgien und Spanien jeweils mit 3:1 und Russland mit 7:0. Im Halbfinale gewannen wir die Regenschlacht gegen England mit 3:0, das Spiel stand wegen Starkregens und überflutetem Platz kurz vor dem Abbruch, aber wir wollten unbedingt am selben Abend zu Ende spielen und schafften es mithilfe von Bierbänken, das Wasser vom Kunstrasen zu schieben.
Im Finale machten wir dann gegen unseren Erzrivalen Niederlande im ausverkauften Warsteiner Hockeypark ein unfassbar geiles Spiel, siegten 4:2 – ich traf kurz vor der Pause per Siebenmeter zum 2:1: Es war sportlich ein absolutes Sahnestück, das wir als Team ablieferten. Ich wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt und hatte auch selber das Gefühl, das höchste Level meines sportlichen Könnens erreicht zu haben. Die Flucht vor den privaten Sorgen in den Sport hatte sich für mich ausgezahlt. Oder anders ausgedrückt: Die Auseinandersetzung mit mir selbst hatte mich zumindest zu einem besseren Hockeyspieler werden lassen.
Dass dieser Prozess damit nicht abgeschlossen sein, sondern erst beginnen würde – damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Wie im Hockey üblich, begann 14 Tage nach dem EM-Finale bereits die Bundesligasaison. Nach einer Woche Pause ging es für meine Nationalmannschaftskollegen und mich wieder ins UHC-Training und in das zu Beginn erwähnte Testspiel gegen Alster. Ich spürte, dass ich meine EM-Form hatte konservieren können, und schwebte förmlich über den Platz. Drei Tore schoss ich in der ersten Halbzeit, mir gelang wirklich alles. 20 Minuten vor Schluss fädelte ich beim Zweikampf mit Sebastian Biederlack ein, blieb hängen und stürzte. Nach dem Spiel sagte ich unserer Physiotherapeutin, dass mein rechtes Knie ein wenig instabil wirke, und sie empfahl mir, eine Kernspintomografie machen zu lassen. Also ging ich am nächsten Morgen in die MRT-Praxis eines Hamburger Krankenhauses. Ich hatte überhaupt keine schlechte Vorahnung, sondern dachte, dass es maximal darum ginge, ein paar Tage mit dem Training auszusetzen. Im Wartezimmer daddelte ich gelangweilt an meinem Telefon herum, als der Arzt mich aufrief, um mir lapidar mizuteilen, dass mindestens ein Teilriss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie vorliege.
Ich hatte mir als Jugendlicher oft die Bänder im Fuß gerissen, weil mein Körper im Wachstum recht instabil war. Ich hatte diverse Knochenbrüche erlitten – Handgelenke, Nase, einmal sogar eine Schädel- und Jochbeinfraktur, als ich in der Halle das Knie eines Gegenspielers ins Gesicht bekam. Aber das waren alles Verletzungen, die mich nicht länger als einen Monat beschäftigt hatten. Und nun sollte ich plötzlich einen Kreuzbandriss haben? Das, wovor Sportler sich so fürchten, weil es in der Regel mindestens ein halbes Jahr Pause bedeutet? Ich stand unter Schock, konnte nicht einmal heulen, obwohl mir genau danach zumute war.
Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss: Es sind nur noch zehn Monate bis London! Und nur noch acht, bis die Nominierungen bekannt gegeben werden! Es ist verrückt, dass man in solchen Momenten nicht in erster Linie daran denkt, was eine solche Verletzung für den eigenen Körper bedeutet oder welche Auswirkungen es auf das Alltagsleben haben wird. Der alles beherrschende Gedanke war zunächst: Du musst es unbedingt in den Olympiakader schaffen! Und danach kamen sofort auch die Zweifel: War es das jetzt, vielleicht für immer?
Glücklicherweise stellte sich heraus, dass nur das vordere Kreuzband betroffen war. Oftmals gehen mit Kreuzbandrissen auch Totalschäden im Knie einher, die nicht nur sehr schmerzhaft sind, sondern auch Operationen und im Anschluss daran lange Rehabilitationszeiten erfordern. Bei mir war die Substanz so gut, dass ich nach drei Wochen Pause, nach denen die Schwellung im Knie vollständig verschwunden war, ohne OP mit der Reha anfangen konnte. Das war am 29. September 2011. Zuvor war ich von Arzt zu Arzt gelaufen, um verschiedene Meinungen über das weitere Vorgehen einzuholen, und auf Anraten unseres UHC-Vereinsarztes Jörg Huhnholz und des Hamburger Kniespezialisten Carsten Lütten hatte ich mich schließlich gegen eine Operation entschieden.
Für mich war klar, dass mein vorderes Kreuzband nicht wieder so zusammenwachsen würde, dass es die Haltefunktion ausfüllen könnte, für die es in unserem Körper vorgesehen ist. Das bedeutete, ich musste die Muskulatur um die betroffene Region herum so stark aufrüsten, dass sie die Funktion des Kreuzbandes mit übernehmen konnte. Rund 25 Prozent der Halte- und Stützarbeit verrichtet das Kreuzband, also wusste ich, was mein Ziel war: mindestens 25 Prozent.
Zum Glück hatten mein Athletikcoach Rainer Sonnenburg und der Trainingswissenschaftler Norbert Sibum vom Olympiastützpunkt vom ersten Tag an keinen Zweifel daran – und sie ließen auch keinen zu –, dass ich bis zu den Olympischen Spielen in London wieder fit sein würde. Und deren Optimismus habe ich mir dann zu eigen gemacht. Rainer hat mich durch diese Zeit gepusht, mit ihm hatte ich fachlich wahrscheinlich den besten Mann an meiner Seite gehabt. Ich habe während der Reha kein einziges Mal daran gedacht, aufzugeben. Mir war immer klar: Wenn ich...