Zwei
Das Nichts des Wertes
Vom Status zur Bestätigung
Mother I tried, please believe me,
I’m doing the best that I can.
I’m ashamed of the things
I’ve been put through,
I’m ashamed of the person I am.
JOY DIVISION1
… man reagiert mit Zeigen auf die übermächtige Wirkung des Gezeigtwerdens …
HANNAH ARENDT2
Das Problem des sozialen Wertes wurde klassisch unter dem Begriff der »Ruhmsucht« behandelt. Problematisiert wurde ein Zuviel des Bedürfnisses, nicht der Mangel oder die Schwankungsbreite dessen, worauf das Bedürfnis geht. Das trifft noch auf Hobbes, auch auf Kierkegaard zu. Heute wird statt des ethischen der psychologische Begriff des »Narzissmus« gebraucht.
Abgesehen davon fällt auf, wie viele Philosophen und – später – Soziologen das Thema nicht kennen. Tocqueville und Eva Illouz gehören zu den Wenigen, die es ins Zentrum ihrer Analysen stellen.
Sogar Sartre, der bekanntlich schreibt: »Der Andere besitzt ein Geheimnis: das Geheimnis dessen, was ich bin«,3 geht es nur um die Wahrheit des Ich (»was ich bin«), nicht um dessen Wert. Das Ich erfährt wohl die Dezentrierung, den »Diebstahl« seines Seins durch die Anderen; sozialer Wert aber ist keine Kategorie. Noch Axel Honneth diskutiert diese fundierende Struktur von Wertverleihung4, nicht die soziale Wertverleihung selbst, wie sie heute mittels nicht-kollektiver Merkmale, persönlicher Zuschreibungen wie rücksichtsvoll, interessant, zuverlässig, stilvoll, zärtlich, attraktiv, originell, kompetent, witzig, selbständig usw. vorgenommen wird, bzw. die in Wertverleihungen zweiter Ordnung besteht, die sich auf die Wertung durch einen Dritten oder viele Dritte beziehen (z.B. »Er hat viele Freunde.« – »Sie hat Erfolg.« – »Sie ist bei XY angestellt bzw. unter Vertrag.«) und die sich innerhalb einer Dyade, zwischen Ego und Alter, gar nicht erfassen lassen.
Hautlosigkeit
»Warum fühle ich mich immerzu ungenügend? Warum sind alle meine Beziehungen zu anderen Menschen geprägt vom Bewusstsein meiner Mängel, meiner Fehltritte, meiner defizitären Liebenswürdigkeit, vom Bewusstsein, dass die Anderen mich nicht ausreichend schätzen, nicht lieben, mich meistens missverstehen, dass ich ein Monstrum bin, dass sie Monstren sind, warum ist alles, was ich tue, ein Kampf gegen die Wertlosigkeit? Warum steht bei jeder Begegnung mit anderen Menschen mein Wert auf dem Spiel, bei jeder Tätigkeit, in jedem Job, in jeder Mail- und SMS-Kommunikation? Warum ist mein Liebesleben eine Geschichte der Beschämungen, mein Familienleben eine Geschichte der Beschämungen, mein Berufsleben eine Geschichte der Beschämungen, warum bin ich noch im Erfolg ein Schwankender, Verletzter, warum kann ich mir nie sicher sein? Warum lebe ich immer an der Kränkungskante, bin ein Hautloser?«
So fragen die freien Menschen.
Sie rechnen in der Familie und der Liebesbeziehung stets mit dem Angriff, in der Gruppe mit dem Ausschluss, in der Arbeit, beim Sport mit dem Versagen, der Lächerlichkeit. Sie denken, das Leben begänne erst, wenn sie dieses oder jenes erreicht, in eine Anstellung gekommen, einen Erfolg verbucht hätten.
Sie haben Recht. Sie haben Recht insofern, als sie ja empfinden, dass das, was sie für andere darstellen und darstellen könnten, einer Stütze bedarf, die diesem augenblicklich fehlt. Sie empfinden eine unerträgliche Unsicherheit, und wer wollte es ihnen verdenken, dass ihnen also jeder Schritt, der doch unweigerlich ein Schritt in Gegenwart anderer, auch vorgestellter anderer, zu sein hat, zur Last wird.
Aber sollten sie nicht ihre merkwürdige Zeitrechnung über den Haufen werfen – und zu leben beginnen? Das fragen sie sich in einem fort. Sollte es nicht möglich sein, den Augenblick zu fangen, anstatt zu hoffen und unausgesetzt hinzuarbeiten auf diesen Augenblick, da der Erfolg sich um sie als eine blitzende Rüstung schließt, da sie endlich unberührbar, unverletzlich sind? Ist das nicht ein böser Wahn? Muss dieser Augenblick nicht ein Leben lang auf sich warten lassen?
Vielleicht. Doch das bedeutete noch nicht, dass sie im Wahn gewesen sind. Es bedeutete nur, dass kein Erfolg die Fläche ihrer Verletzlichkeit zu decken vermag, dass die Destabilisierung ihres Wertes, dessen fortwährender Fall ins Nichts, eine andere, so schnell nicht einzuholende Dimension hat. Nein, sie sind nicht im Wahn. Ihre Angst ist begründet. Jede Tätigkeit, jede Begegnung droht ihnen ihre Wertlosigkeit zu bestätigen. Ja, sie haben Grund, zuhause zu bleiben. Sie haben Grund, sich nach einem Erfolg zu sehnen und zu strecken, der ihnen Sicherheit gäbe. Der Mangel ist echt.
Liebe deinen Nächsten
Doch wäre nicht das Gegenteil zu erwarten? Die Zeit der Schwarzen Pädagogik ist vorbei. Kinder sollen mit Respekt behandelt werden, dürfen nicht »verletzt« werden, benötigen nicht »Abhärtung«, sollen nicht »zurechtgebogen« werden. Die Kinder brauchen, wie man sagt, Liebe, Zuwendung, körperliche Nähe, um »ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln«.
Und am Kind wird bestimmt, was dem »Menschen« gemäß sei. Dies ist die erste Gesellschaftsform in der Geschichte, in der der soziale Wert des Einzelnen als höchster Wert gilt, nicht mehr die »Lebenstüchtigkeit« und nicht mehr die »Fügung ins Ganze«, nicht mehr Kaiser, Vaterland, Volk und Rasse. Dies ist die erste Gesellschaftsform, in der niemand »diskriminiert« werden darf aufgrund von Klasse, Hautfarbe, Geschlecht usw., in der alle Menschen – in ihrer Verschiedenheit und Individualität – als gleich wertvoll gelten sollen.
Natürlich entspricht der Norm nicht die alltägliche Realität; der Sprung in eine andere Welt ist gleichwohl nicht zu leugnen. Es ist die erste Gesellschaftsform, in der das Gebot »Liebe deinen Nächsten« nicht in erster Linie ein Gewaltverbot und die Aufforderung, Bekannten wie Fremden zu helfen, ausdrückt, sondern buchstäblich zu nehmen ist: Liebe! Sehe und verstehe! Berühre! Spiegele! Lobe! Bestätige deinen Nächsten!
Die Ontologisierung der Geschichte
Dennoch haben wir es mit einer Gesellschaftsform zu tun, die, in historisch ungekannter Weise, den Wert des Menschen zu einem flüchtigen, fallenden gemacht hat. Mit einer Welt, in der die Würde des Menschen ununterbrochen, ohne dass es justiziabel wäre, angetastet wird.
Der »Kampf um Anerkennung«, der von Philosophen ontologisiert worden ist, wird erst im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer alltäglichen, massenhaften Erfahrung.
Natürlich ist es eine ontologische Tatsache, dass ich nur durch andere Menschen zu einer Wahrheit über mich selbst gelange, dass der »Herr« einen »Knecht« braucht, der ihn nicht ignoriert, sondern zur Kenntnis nimmt und als Herr »anerkennt«.
Doch mit Anerkennung im umgangssprachlichen Sinn, also mit Wertverleihung, hat das nur soviel zu tun, als Zurkenntnisnahme Voraussetzung für jede Wertverleihung ist, ein Ignoriertwerden auch als »Wertlosigkeit« verstanden werden kann. Der Begriff Anerkennung verweist auf die Intersubjektivität jedes Selbstbewusstseins, nicht zwingend auf die soziale Konstitution individueller Wertschätzung, er kann letztere sogar unkenntlich machen. Darum wollen wir im Weiteren auf den ontologisch geprägten Begriff Anerkennung verzichten.
Erst in dieser Welt kämpfen die Menschen pausenlos darum, dass ihnen ihr Wert bestätigt bzw. »zurückgegeben« wird. Das Wertverleihungstheater der Talentshows mit ihren inszeniert-grausamen Jurys hat universellen Charakter. Die Menschen sagen: »Ich habe ein schlechtes Selbstwertgefühl. Im Augenblick ist mein Selbstwertgefühl am Boden. Mein Selbstwertgefühl ist nie besonders gut gewesen. Ich will es verbessern.«
Das, was Alfred Adler als neurotischen Zweck überhaupt erkannte, »die Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls«, den »ständigen Kampf um die Überlegenheit«, das permanente »Gefühl des schwachen Punktes«, das »verschärfte Messen und Vergleichen«5 – damit Nietzsches »Willen zur Macht« und »Willen zum Schein« psychologisch aktualisierend –, das muss nun – gut 100 Jahre später – soziologisch aktualisiert werden als Zwang und Leid des freien Menschen.
Keine Kollektive kämpfen hier – wie einst und immer noch die Frauen, die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Kolonisierten, die Dunkelhäutigen, die...