01 / Staubige Zeiten
Wie das Ende der Brockhaus-Ära unser Bücherregal verändert
Wann haben Sie zum letzten Mal einen Band Ihres Lexikons gegriffen, ihn aus dem Bücherregal geholt, um etwas darin nachzuschlagen? Sie wissen schon, was ich meine: die lange Reihe gleichfarbiger Bücher, die ihren festen, angestammten Platz in so vielen Regalen hat. Machen Sie doch einmal einen kleinen Selbstversuch: Gehen Sie zum Regal, stellen Sie sich vor Ihr Lexikon, schließen Sie die Augen und tasten Sie mit einer Hand den Kopfschnitt, die Oberseite der Bücher, ab – vorausgesetzt, Sie können sie problemlos erreichen. Fühlen Sie den Staub? Ja? Wahrscheinlich haben die meisten von Ihnen gerade eine mehr oder weniger dicke Staubschicht abgewischt. Seien Sie nicht zu streng mit sich selbst, weil Sie nicht ordentlich sauber gemacht haben. Bücher zu entstauben gehört eben nicht zu den favorisierten Alltagsbeschäftigungen. Greifen Sie lieber einen der Bände aus der Reihe A bis Z und schauen nach, in welchem Jahr diese Ausgabe gedruckt wurde. Wie alt ist dieser Band?
Versuchen Sie nun, sich wirklich einmal zu erinnern, wann Sie zum letzten Mal Ihr Lexikon benutzt haben. Ich selbst bin erschrocken bei diesem kleinen Test. Die Bände meiner Brockhaus-Taschenbuchausgabe stammen aus dem Jahr 1984, die Staubschicht darauf war enorm und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, vor wie vielen Jahren ich zum letzten Mal das Lexikon gebraucht hatte. Dabei habe ich es seit meiner Kindheit außerordentlich geliebt, in Nachschlagewerken zu stöbern, mich von einem Band zum nächsten verweisen zu lassen und dabei immer wieder Neues zu entdecken. Das zweibändige Lexikon meiner Eltern habe ich auf diese Weise noch von A bis Z durchgearbeitet. Und während meines Studiums habe ich nahezu täglich in meiner nun über 30 Jahre alten Brockhaus-Ausgabe geblättert und auch andere Nachschlagewerke genutzt. Begriffe wie »Globalisierung«, »Digitalisierung« und »Internet« suche ich natürlich in meiner Ausgabe vergebens, und unter dem Stichwort »Computer« finde ich die lapidare Erklärung: »Rechenanlage oder Datenverarbeitungs-(DV-)Anlage, bestehend aus Ein- und Ausgabegerät(en) und Zentraleinheit«.
Welchen Wert haben diese 20 Bände mit ihren 130 000 Stichwörtern, 6000 Abbildungen und 120 Farbtafeln also noch im Zeitalter von Google und Wikipedia? In Zeiten, in denen ich mit einem Fingerstreich über eine kleine Glasplatte auf Milliarden von Webseiten zugreifen, im Sekundentakt aktualisierte Informationen im Moment abrufen und mit Hilfe derselben Glasscheibe einen erfahrenen Menschen anrufen kann, um mich bei ihm zu vergewissern und letzte Zweifel und Fragen zu beseitigen? Aber: Kann ich mich auf die Informationen hinter dieser kleinen Glasscheibe genauso verlassen, wie ich mich damals auf die Informationen in meinem Brockhaus verlassen konnte?
»Wikipedia ist keine Bedrohung«
Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Radiointerview, das mit dem damaligen Brockhaus-Geschäftsführer wenige Jahre nach dem Start von Wikipedia 2001 zur Entwicklung von Enzyklopädien geführt wurde. Er war sich ganz sicher, dass Wikipedia niemals an sein ebenso bewährtes wie verlässliches Produkt heranreichen werde. Sei dort doch amateurhaft zusammengetragenes Wissen versammelt, das in Qualität und Seriosität mit den von Brockhaus redigierten Informationen niemals konkurrieren könne. Kurz, er meinte abschließend sagen zu können: Wikipedia ist keine Bedrohung für Qualitätsprodukte wie Brockhaus. Was die Menschen immer schon suchten und weiterhin suchen würden, sei »Qualität«, und für die garantiere seine Redaktion, sein großes Team von Experten und das über zwei Jahrhunderte hindurch zusammengetragene Fachwissen.
Wissen als ewig währende unveränderliche Größe? Nur sieben Jahre nach dem Start von Wikipedia wird Wissen nicht mehr in Metern gemessen und nicht mehr nach Beständigkeit qualifiziert.
Nur wenige Jahre später sah die Welt schon ganz anders aus. Brockhaus und auch andere Verlage hatten massive Umsatzeinbrüche zu verzeichnen, vielen drohte die Insolvenz. »Die Zeit, in der man sich eine hervorragende Enzyklopädie von anderthalb Metern Umfang ins Regal stellt, um sich dort herauszusuchen, was man wissen will, scheint vorbei zu sein«, sagte der Verlagssprecher des Brockhaus, Klaus Holoch, im Jahr 2008. Das Ende war eingeläutet. Nur sieben Jahre nach dem Start von Wikipedia wurde Wissen nicht mehr in Metern gemessen.
Die Encyclopædia Britannica, das englischsprachige Pendant zum Brockhaus-Lexikon, stellte bereits im März 2012 die Druckausgabe ihres 32-bändigen Werkes komplett ein. Das gesammelte Wissen der Encyclopædia Britannica ist seitdem nur noch online verfügbar. Ein Jahr nachdem die Briten keine Meterware mehr liefern wollten, im Juni 2013, kündigte der Bertelsmann-Konzern, der den Brockhaus-Verlag übernommen hatte, das Ende der gedruckten Ausgabe für das Jahr 2014 an. 206 Jahre, nachdem Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823) mit dem Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten den Standard für deutschsprachige Nachschlagewerke gesetzt hatte, ist die Zeit der mit der 21. Auflage auf 30 Bände angewachsenen und 70 Kilogramm schweren Enzyklopädie vorbei.
Ein Blick in meinen eigenen Arbeitsalltag zeigt: Ich brauche diese Lexikonbände nicht mehr. Nicht nur, dass sie an Aktualität eingebüßt haben, sie haben auch erheblich an Attraktivität verloren. Jeder kann zu jeder Zeit und von jedem Ort aus im Internet recherchieren, in Echtzeit Informationen zu jedem Thema und in jeder Sprache bekommen und sich auf ein Netzwerk von interessierten Menschen verlassen, die freiwillig und ohne Honorar diese Informationen ständig aktuell halten. Sicher, es gibt die Momente, in denen ich mir die Zeiten zurückwünsche, die überschaubare Zahl von 20 Bänden im Regal zu wissen mit dem Gefühl, dass ich dort alles Wesentliche des menschlichen Wissens zusammengetragen finde. Aber diese Momente sind selten und gehören zu dem Set an Nostalgie, das mich bisher auch davon abgehalten hat, den Brockhaus-Platz im Regal für anderes frei zu machen.
Auf meine kurze Rundfrage bei meinem Einführungsvortrag 2013 vor Studierenden der HPI School of Design Thinking, wann sie zum letzten Mal ein Lexikon in der Hand gehabt hätten, erntete ich nur noch fragende Blicke. So etwas habe man schon längst nicht mehr zu Hause, bekam ich unisono zuhören.
Ich werde meinen Brockhaus vorerst nicht wegwerfen, allein schon aus dem Grund, weil er mich ab und zu erinnert an das Denkmodell, das wir nun langsam, aber sicher verlassen werden.
Das Brockhaus-Denken
Was ist das aber, das Brockhaus-Denkmodell? Es ist eine aus meiner Sicht wundervolle Metapher für die Art und Weise, in der wir seit Jahrhunderten erfolgreich versuchen, unsere Wirklichkeit zu verstehen, zu organisieren, zu strukturieren, zu vermitteln. Wir sortieren, wir unterteilen, wir trennen – zum besseren Verständnis – in kleinere Sektionen, wir strukturieren, bauen Raster, Schubladen und verstauen dort die Wirklichkeit.
Machen Sie einfach noch einen kleinen Selbstversuch, gehen Sie noch einmal zum Bücherregal und stellen Sie sich vor Ihr Lexikon. Und nun versuchen Sie, sich Aufbau und Struktur des Unternehmens oder der Organisation, in dem/der Sie zurzeit arbeiten, vor Augen zu führen. Stellen Sie sich das Logo Ihres Unternehmens über dem Lexikon schwebend vor – erkennen Sie die darunter zusammengefassten verschiedenen Abteilungen und Organisationseinheiten, aneinandergereiht wie die Bände eines Nachschlagewerkes? Oder denken Sie an die Schule, die Sie besucht haben, und stellen Sie sich den Namen Ihrer Schule, in der Sie vermutlich wie ich zwölf oder dreizehn Jahre Ihres Lebens verbracht haben, über dem Lexikon schwebend vor.
Tadellos reihen sich die verschiedenen Klassenstufen nebeneinander. Stellen Sie sich Ihren Stundenplan vor – das Dutzend im 45-Minuten-Takt abgespulter Unterrichtsfächer können Sie sicherlich in diese so vertraute Struktur einbauen. Das gesamte Schulgefüge passt wunderbar in diese Reihung, die Sie gerade vor sich sehen. Und nun zu Ihrer Hochschule, in der Sie vielleicht weitere vier, fünf Jahre Ihres Lebens verbracht haben oder gerade verbringen. Sehen Sie die verschiedenen Fachbereiche, von dem Sie einen für sich gewählt haben, vor sich? Lassen Sie in Gedanken den Namen Ihrer Hochschule über den Büchern in großen Lettern erscheinen, und schon können Sie die Architekten, die Betriebswirte, die Chemiker, Designer, Ethnologen, die Juristen, Mediziner, Verfahrenstechniker bis hin zu den Zoologen fein säuberlich getrennt erkennen.
Wir haben sie subtil verfeinert – die Kunst des Trennens, des Auseinandersortierens. Noch die letzten Winkel unseres Wissens und unserer Einrichtungen haben wir dadurch geadelt. Und heute? Heute wird diese Fertigkeit zum Hindernis.
Stellen Sie sich nun einen Ihrer letzten Gänge zu einer Behörde vor, nehmen wir als Beispiel das Bürgeramt, in dem Sie Ihren neuen Personalausweis beantragt haben. Schreiben Sie in Gedanken »Bürgeramt« über Ihr Lexikon, und schon sehen Sie an die 20 unterschiedliche Abteilungen, betraut mit Aufgaben rund um die Interessen der Bürger. Und Sie erinnern sich vielleicht, wie schwer es war, die für Sie zuständige Stelle zu finden. Vielleicht erinnern Sie sich aber auch an einen freundlichen Herrn, der Ihnen mit einem geschickten Hinweis geholfen hat, die richtige Amtsstube zu finden.
Und nun noch ein kleiner Sprung. Schreiben Sie in Gedanken »Bundesregierung« in dicken Lettern auf schwarz-rot-goldener Flagge über ihr Lexikon. Schon tauchen...