2. Religionen, Sprachen und Ethnien
Ethnizität und Kultur werden in der Wissenschaft heute als soziale Konstrukte verstanden, die Zugehörigkeit, Solidarität und Identität stiften sollen. Das trifft auf Stammesverbände ebenso zu wie auf religiöse und nationale Gemeinschaften. Sie alle konstituieren sich, sieht man von vollkommen abgeschieden und endogam lebenden Gruppen ab, nicht quasi naturwüchsig durch Herkunft und Abstammung (Volk), sondern werden im Wesentlichen von Menschen erdacht oder »vorgestellt«.[2] Das schließt nicht aus, dass die anthropogenetische Forschung biologische Abstammungslinien identifiziert, wie sie das mit der raschen Weiterentwicklung gentechnischer Methoden seit neuerem wieder tut, nachdem derartige Vorhaben vor allem in Deutschland lange Zeit unter Rassismusverdacht standen. Aber biologische Abstammung und Gruppenbildung sind nicht identisch, und daher werden »Völker« und »Stämme« nicht primär durch die Biologie, sondern im weitesten Sinn durch (Interessen-) Politik gestiftet. Aus der gemeinsamen Abstammung folgt auch nicht die gemeinsame Sprache und umgekehrt. In noch höherem Maß gilt dies für das Verhältnis von Abstammung, Religion und Kultur.
Kulturell gesehen war die Region zumindest jenseits des Maghrebs und der Arabischen Halbinsel bis ins 20. Jahrhundert hinein ungemein vielfältig, allenfalls übertroffen durch den indischen Subkontinent. Der Irak zum Beispiel bot ein geradezu atemberaubendes Bild des kleinteiligen Mit- und Nebeneinanders ethnischer, sprachlicher und religiöser Gruppen und Gemeinschaften. Soziale Gruppen und Gemeinschaften, die vorrangig mit Bezug auf Abstammung, Sprache und Kultur konstituiert bzw. konstruiert wurden, werden im Folgenden als »ethnisch« bezeichnet. Gelegentlich waren diese Gruppen zugleich in religiöser Hinsicht einheitlich; ein markantes Beispiel bieten hier die christlichen Armenier. Häufig diente ein ethnisches Label als Sammelbegriff für ein Bündel einzelner Gruppen, die keineswegs immer als Einheit auftraten; das gilt etwa für Berber (die Eigenbezeichnung lautet heute Imazighen, Sing. Amazigh), Kurden und Tscherkessen. Die ethnischen Zuordnungen wandelten sich immer wieder: So bezeichnete der arabische Begriff ʿarab bis ins 19. Jahrhundert die arabischsprachigen nomadischen Bewohner der Wüsten und Steppen, nicht die arabischsprachige Population insgesamt. Mit türk waren die Wanderhirten und Bauern des ländlichen Kleinasiens gemeint, nicht die Gesamtheit aller türkischsprechenden Personen. Die türkischsprechenden Städter im südöstlichen Balkan und in Westanatolien, den ehemals byzantinischen Kernzonen des Osmanischen Reiches, galten als rumi (Römer, Byzantiner). Im Arabischen wiederum waren rum die griechisch-orthodoxen Christen. Vermeintlich ethnische Labels beschrieben somit unterschiedliche soziale Gruppen.[3] Ethnisch verstanden wurden sie vor allem unter dem Vorzeichen des Nationalismus, und diese Ethnisierung religiöser, sprachlicher und geographischer Zugehörigkeit ist keineswegs selbstverständlich. Gleiches gilt für die Betonung religiöser Zugehörigkeit gegenüber Ethnizität und Sprache, wie sie besonders klar im Verhältnis von »Muslim« und »Türke« zum Ausdruck kommt.
Vom 16. bis in das ausgehende 19. Jahrhundert wurde die Bevölkerung des Vorderen Orients und Nordafrikas nicht durch massive Migrations-, Verdrängungs- oder Vernichtungsprozesse verändert. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sich niemand bewegte: Freiwillig oder unfreiwillig wanderten im 16. Jahrhundert aus Spanien und Portugal vertriebene sephardische Juden nach Nordafrika und in das Osmanische Reich ein; im Osmanischen und im Safavidischen Reich wurden aus strategischen und ökonomischen Gründen immer wieder tribale, ethnische und religiöse Gruppen zwangsumgesiedelt. Die Zeiten des massenhaften Zustroms tribaler Verbände aber waren vorbei. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an gerieten die Gesellschaften dann erneut in Bewegung: Die forcierte Migration und Vertreibung sunnitischer Muslime aus Südosteuropa, der Krim und dem Kaukasus hatte bereits in den 1770er Jahren eingesetzt; in den 1880er Jahren verstärkte sich die jüdische Zuwanderung nach Palästina; massive Auswirkungen hatten Vertreibung und Massenmord an kleinasiatischen Christen seit den 1890er Jahren und der sogenannte Bevölkerungsaustausch zwischen Türken und Griechen in den frühen 1920er Jahren. Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 war mit der Flucht und Vertreibung Hunderttausender arabischer Palästinenser verbunden, wenig später gefolgt von der Migration und Ausweisung Hunderttausender orientalischer Juden.
Die Entkolonisierungs- und Nationalisierungspolitik im Maghreb, in Ägypten und in Teilen des Fruchtbaren Halbmonds führte in den 1950er und 1960er Jahren zur Flucht und Vertreibung europäischer Staatsangehöriger und nichtmuslimischer Minderheiten, die mit Kolonialismus oder Zionismus in Verbindung gebracht wurden. Die Etablierung der Islamischen Republik Iran im Jahr 1979 war begleitet von einem Massenexodus regimefeindlicher Iraner; die Kriege im Irak, in Syrien und am Persischen Golf lösten seit den 1990er Jahren riesige Flüchtlingsströme aus, und deren Zahl potenzierte sich noch einmal im Gefolge der politischen Proteste der Jahre 2010/11 (Arabellion, Arabischer Frühling) und der eskalierenden Hegemonialkonflikte zwischen sunnitischen und schiitischen Regionalmächten. Weniger politisch als vielmehr ökonomisch bedingt war dagegen die Massenmigration von Arbeitskräften in die ölproduzierenden Staaten der Arabischen Halbinsel und nach Libyen, die in den 1970er Jahren einsetzte und neben Arabern erstmals auch Millionen von Arbeitskräften aus Südasien und Südostasien erfasste, die allerdings als Gastarbeiter eingestuft wurden und deren Aufenthalt entsprechend als zeitlich begrenzt galt und gilt.
Es ist mit Recht argumentiert worden, dass Religion und Sprache für Politik und Gesellschaft des Vorderen Orients und Nordafrikas generell bedeutsamer waren als die ethnische Herkunft.[4] Fast überall zählte, ob jemand als Muslim, Christ, Jude oder Zoroastrier galt, wenn dies auch nicht unbedingt in der Weise rechtlich festgeschrieben und politisch relevant wurde wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unter den Vorzeichen moderner Nations- und Staatsbildung. Für alle großen religiösen Gemeinschaften stellte sich daher die Frage nach Rechtgläubigkeit und Häresie. Grenzziehungen sind im islamischen Recht und in der islamischen Theologie ebenso angelegt wie in der jüdischen, christlichen und zoroastrischen – und häufig genug übersetzten sich diese Grenzziehungen in staatliches Handeln. Der heutige Betrachter muss die entsprechenden Zuschreibungen kennen, er muss sie jedoch nicht übernehmen.
Fast überall im Vorderen Orient und in Nordafrika bildeten Muslime zahlenmäßig die Mehrheit – Sunniten im Maghreb, in Ägypten, Sudan, im Fruchtbaren Halbmond und auf der Arabischen Halbinsel mit Ausnahme des nördlichen Jemens, Omans und der nordostarabischen Golfküste; Zwölferschiiten in Iran, in bestimmten Regionen des Iraks, an der Ostküste der Arabischen Halbinsel und im südlichen Libanon; fünferschiitische Zaiditen im nördlichen Jemen; die aus der frühislamischen Bewegung der Kharijiten hervorgegangenen Ibaditen in Oman (vgl. Schaubild im Anhang). Kleinere muslimische Gemeinschaften wie die siebenerschiitischen Ismailiten lebten verstreut im heutigen Indien, Pakistan, Afghanistan, Iran, Syrien, Libanon, Jemen und Ostafrika; ihr Zentrum lag bis ins 20. Jahrhundert auf dem indischen Subkontinent. Die muslimischen Untergruppen können nur in Ermangelung eines passenden deutschen Ausdrucks als »Konfessionen« oder »Denominationen« bezeichnet werden. Die Bezeichnung »Sekte« sollte man grundsätzlich meiden.
Neben den Sunniten, Schiiten und Ibaditen lebten in verschiedenen Regionen Gruppen, die sich selbst als Muslime verstanden oder dies zumindest unter bestimmten Umständen taten, die von der Mehrheit aber nicht als Muslime anerkannt wurden oder wiederum nur, wenn dies politisch opportun schien. Zu nennen sind hier die türkischen und kurdischen Aleviten, die aus der weitverzweigten, auf Ali, den Cousin und Schwiegersohn des Propheten Muhammad, ausgerichteten religiösen Strömung hervorgingen, die mit ihnen nicht identischen syrischen Alawiten, die früher oft Nusairis genannt wurden, oder auch die Drusen. All diese Gemeinschaften lebten bis ins 20. Jahrhundert hinein in bestimmten Regionen und brachten ihre religiösen Traditionen erst spät in schriftliche Form. Im 19. Jahrhundert entstanden neue religiöse Bewegungen wie die Ahmadiyya, die sich selbst als Muslime verstanden, von der Mehrheit aber als Abtrünnige (Apostaten) ausgegrenzt wurden und werden. Die Bahais hingegen lösten sich vom Islam und entwickelten sich zu einer eigenständigen Religionsgemeinschaft; auch sie werden in weiten Teilen der islamischen Welt als Apostaten verfolgt.
Das Spektrum der orientalischen Kirchen reichte von den griechisch-orthodoxen Christen als Angehörigen der früheren byzantinischen Reichskirche über die mia- bzw. monophysitischen Armenier und Kopten bis zur duophysitischen Kirche des Ostens. Nachdem sich im 12. Jahrhundert bereits die libanesischen Maroniten der Autorität des Papstes unterstellt hatten,...