Alarmzustand
Der Verstand glaubt stets,
dass wahr sei,
was er fürchtet.
Ovid
Es war im Advent, wenige Wochen nach den Terroranschlägen von Paris. Ich war auf dem Weg zum Büro und musste dafür an den Absperrgittern vor der französischen Botschaft in Berlin vorbei, die von einem Meer aus Blumen und Kerzen gesäumt wurden. Ich hatte das Ende des Blumenteppichs beinahe erreicht, als mir im Augenwinkel eine Frau auffiel, die sich mitten im Gewusel am Brandenburger Tor fast zeitlupenartig auf die Absperrung zu bewegte. Sie hatte die Arme vor dem Körper angewinkelt und die Augen geschlossen. Sie trug eine hellgraue Burka. In dem Moment erschrak ich. Im Bruchteil einer Sekunde lief ein Horrorfilm vor meinem inneren Auge ab, in dem ein Sprengstoffgürtel, eine Explosion und das blanke Chaos die Hauptrollen spielten. Im nächsten Moment erschrak ich wieder. Ich hatte innegehalten und beobachtete die Frau. Sie stand da und betete. Auf einem Platz, der nie stillsteht, war sie der einzige ruhende Pol. Nachdem ich sie einige Sekunden lang verstohlen angeschaut hatte, ging ich weiter. Und schämte mich.
Als ich Freunden später davon erzählte, berichteten alle von ganz ähnlichen Erlebnissen. Einem war im Flugzeug unwohl geworden, nachdem hinter ihm zwei bärtige Männer Platz genommen hatten, die offenbar Arabisch sprachen. Eine erzählte, sie habe jüngst auf dem Heimweg den U-Bahn-Waggon gewechselt, nachdem ein Mann mit einem rollenden Metallgestell zugestiegen war, auf dem sich eine klobige Kiste befand. Der Typ, meinte sie, habe irgendwie seltsam gewirkt. Ein Dritter berichtete, er habe mit seiner jungen Familie gerade erst die Urlaubsreise nach Thailand storniert. Thailand? In irgendeiner Zeitung habe er eine Meldung aufgeschnappt, dass dort ein Anschlag drohen könnte. Und mit seinem kleinen Kind sei ihm das zu unsicher.
Wohin ich auch blickte, von überallher starrte die Angst zurück. Sie prangte auf den Titelseiten aller Zeitungen und Magazine. Sie war zu Gast in fast allen Talkshows der Republik. Und sie waberte durch die sogenannten sozialen Netzwerke, in denen Menschen vieltausendfach unglaubliche Gruselgeschichten miteinander »teilten« und sich eine Art Bürgerkrieg herbeiphantasierten. Auf den Marktplätzen der Republik wurde frenetisch gejubelt, wenn davon die Rede war.
Nach Silvester wurde aus der Angst Panik. In Köln hatte angeblich ein 1000-köpfiger »Sex-Mob«, bestehend aus entfesselten arabischen Männern, gegen deutsche Frauen gewütet. Kurz darauf kursierten im ganzen Land noch mehr Meldungen, die das dumpfe Klischee vom triebgesteuerten, mordlüsternen Fremden zu bestätigen schienen. Eine furchterregender als die andere. Eine so falsch wie die andere. Aber Millionen nahmen sie für bare Münze, wie überhaupt in diesen Monaten Lüge, Gerücht und Wahrheit munter durcheinanderpurzelten. Nach Köln ploppten überall im Land – sogar in Dörfern, wo nur ein paar alte Großmütter Kopftuch tragen – »Bürgerwehren« aus dem Boden. Manche von ihnen bliesen zur Menschenjagd; alle paar Tage brannte eine Asylunterkunft. Behörden kamen nicht mehr nach mit dem Ausstellen kleiner Waffenscheine, Bürger stürmten Apotheken, um sich mit Pfefferspray einzudecken. Mancherorts waren sogar Tierabwehrsprays ausverkauft.
Irgendetwas war spätestens seit dem Sommer 2015 ins Rutschen geraten. Mit den zahllosen Hilfesuchenden aus Syrien, Irak, Eritrea, so schien es, war auch die Verunsicherung massenhaft eingewandert nach Deutschland. Oder war sie schon vorher da und durch den Treck der Elenden nur ausgelöst worden? Schnell war von einer »Flüchtlingskrise« die Rede, und gemeint war nicht etwa der Zustand der vor Fassbomben und fanatischen Halsabschneidern geflohenen Menschen, die nun zusammengepfercht in der Fremde auf eine Art Zukunft warteten. Gemeint war, dass diese Menschen uns bedrohten. Wenn man durchaus seriösen Politikern und Medien Glauben schenken konnte, würde Deutschland nicht mehr lange der steinreiche und strahlende Wirtschaftsmotor Europas sein, mit Verhältnissen, von denen andere nicht mal mehr träumen. Vielmehr sei das Land auf dem besten Weg zu einem failed state. Das ging an den Menschen nicht spurlos vorüber.
Ende 2015 präsentierte die »Stiftung für Zukunftsfragen« die Ergebnisse ihrer jährlichen Umfrage zum persönlichen Empfinden der Bundesbürger. 55 Prozent der Befragten gaben demnach an, »angstvoll in die Zukunft« zu blicken – das waren fast doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor.[1] Vor allem die älteren Menschen in Deutschland zeigten sich übermäßig besorgt, aber auch unter den Jüngeren zwischen 14 und 34 Jahren frisst sich die Angst, wie es scheint, zunehmend in den Alltag. Die Forscher attestierten überrascht eine »Rückkehr der German Angst«. Drei Monate später erstarkte dann bei drei Landtagswahlen eine neue Partei, die die bundesdeutsche Gegenwart in düstersten Farben gezeichnet hatte. Viele Bürger mochten das gerne glauben. Sie hatten die Angst gewählt.
Und kann man es den Menschen verdenken? 2015 war ja tatsächlich ein Jahr, das vor lauter Krisen kaum Luft zum Atmen ließ. Terror in Paris, Terror in Syrien und Irak, Ebola in Westafrika, der Absturz einer Germanwings-Maschine, Tausende Ertrunkene im Mittelmeer, ein verheerendes Erdbeben in Nepal, der drohende Staatsbankrott in Griechenland, schwere Turbulenzen bei der Deutschen Bank, Terror in Tunesien, Hunderttausende Fliehende auf dem Weg nach Europa, brennende Asylunterkünfte in ganz Deutschland, »Islamischer Staat«, ein Abgasskandal bei VW, ein gekauftes Fußball-Sommermärchen, Terror in der Türkei, ein Attentat auf die Kölner OB-Kandidatin, noch einmal Terror in Paris, eine Art Staatsputsch in Polen, Terror in Kalifornien. Ein Jahr so voller Heimsuchungen und Schrecken wie die Bilder von Hieronymus Bosch. Und mit einer Terrorwarnung in München und einem Terroranschlag in Istanbul fing 2016 gleich spiegelbildlich an. Der Alarmzustand war ganz allmählich zum Normalzustand geworden.
Zumal sich zu den vielen globalen und bedrohlichen Gefahren in unserem Alltag anscheinend noch unzählige weitere heimtückische und unterschätzte Risiken gesellen. Gift auf dem Acker, Chemie in Lebensmitteln, Feinstaub, Weichmacher, analoge und digitale Viren, Abzocker, Einbrecher, Scharlatane, Kinderschänder. Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Bochum, sammelt seit Ausbruch der BSE-Krise in Europa an seinem Lehrstuhl die »Angst der Woche« – im Lauf der Zeit ist ein bedrohliches Kompendium dabei entstanden: Es reicht von A wie »Airbag als Todesfalle« über »Benzol im Babybrei«, »Brustkrebs durch Flatrate-Trinken«, »Gefahr durch Energiesparlampen«, »Invasion stinkender Käfer«, »Krebserregende Stoffe in Babyschnullern« und »Umweltgift in Babysocken« bis Z wie »Zuckerfreie Limonade«, die der Gesundheit anscheinend ebenfalls schadet.[2]
Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen sich und ihr Umfeld als bedroht wahrnehmen. Nicht nur in Deutschland. »Westliche Gesellschaften werden in zunehmendem Maße von einer Kultur der Angst dominiert.«[3] Die Psychologin Jean Twenge von der San Diego State University hat 269 Studien zum Angstempfinden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miteinander verglichen. Ihr Befund: Die Angstkurve zeigt in allen Altersgruppen nach oben.[4] Die Zahl der Menschen, die sich wegen Depressionen und Angststörungen behandeln lassen, steigt daher in westlichen Gesellschaften seit Jahren. Ebenso die Zahl der Apps, mit denen sich Ängstliche – so das Versprechen – selbst auf Knopfdruck kurieren können: Sie tragen Namen wie »Panik Ambulanz«, »Relax Melodies«, »Inner Balance« und »Worry Watch« und werden Monat für Monat tausendfach aus dem Netz heruntergeladen.
Und welche Ängste sind es genau, die die Deutschen in ihren schlaflosen Nächten heimsuchen? Wenig verwunderlich sind es, neben finanziellen Sorgen, vor allem unkontrollierbare Bedrohungen von außen, die den größten Schrecken verbreiten: Kriminalität, Terror und Krieg, Naturkatastrophen und der »Zuzug von Ausländern«.[1]
Aber sind das auch tatsächlich die größten Gefahren, die den Deutschen drohen? Man darf es bezweifeln. Nehmen wir die Kriminalität: Jeder vierte Deutsche hat Umfragen zufolge Angst oder sogar große Angst davor, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.[5] Und fast die Hälfte der Bundesbürger ist felsenfest überzeugt davon, dass derartige Verbrechen von Jahr zu Jahr zunehmen. Nur, das Gegenteil ist der Fall. Beispiel Mord: Registrierte die Polizei im Jahr 2000 noch 454 Morde in Deutschland, waren es fünf Jahre später 387, weitere fünf Jahre danach 293 – und 2015 noch 281. Einen deutlichen Rückgang der Fallzahlen gab es auch bei gefährlicher Körperverletzung und Raub. Die Gesamtzahl der Gewaltverbrechen nahm von 218000 (2007) auf 181000 (2014) ab. Aber fragt man die Menschen in Deutschland, sagen sie: Das kann nicht sein. Wir lesen es doch dauernd. Wir sehen es im Fernsehen. Unsere Freunde posten es auf Facebook. Von 2014 bis 2015 sprang die Angst vor Kriminalität in einem gewaltigen Satz von 60 auf 82 Prozent, was nicht...