7. Dezember
Ich hole tief Luft und hämmere mit beiden Fäusten gegen die Tür. Meine Stimme überschlägt sich, und ich klinge wie ein Handmixer, der seine besten Zeiten lange hinter sich hat.
«Mach endlich auf, du Pupsgesicht!»
Die Frau neben mir nickt anerkennend. «Sehr gut. Aber bitte noch lauter und aggressiver.»
«Lass mich rein, du widerliche Kackbratze!»
Einige der Anwesenden schauen erschreckt. Im Raum nebenan setzt das Klavierspiel kurz aus. Die Sache beginnt, mir Freude zu machen.
Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich auch noch keine Ahnung, was auf mich zukommt und dass diese Tür mein Leben für immer verändern wird.
Ich war zu einer Zeit auf den Hinweis mit dem Personality Coaching der berühmten Hamburger Stage School gestoßen, zu der ich normalerweise längst im Bett bin.
Ich hatte mich in einer sich hinziehenden Sonntagabend-Krise befunden und einige grundlegende Überlegungen trübsinniger Natur bezüglich meiner Persönlichkeit, meines Gewichts und meiner Frisur angestellt.
Meine Haare und meine Kinder waren mir schwer erziehbar vorgekommen, und der Sinn meiner Existenz wollte sich mir zu dieser späten Stunde nicht erschließen. So war ich zu dem Schluss gelangt, dass es mit meinem Leben nicht weitergehen konnte wie bisher.
Keine einzige der mir bekannten Frauen will, dass ihr Leben so weitergeht wie bisher.
Alle Frauen in der Lebensmitte sind auf der Suche.
Aber es gibt kaum eine, die genau weiß, wonach sie eigentlich sucht. Nach dem Sinn des Lebens? Nach Selbstbewusstsein, Gelassenheit, Achtsamkeit? Nach einem neuen Mann oder lieber doch nur nach einer neuen Haarfarbe?
Wie eine panische Büffelherde fegt eine riesige Schar sich selbst verwirklichender Frauen rund um den Globus. Und wer nicht mindestens Yoga macht oder eine Gluten-Unverträglichkeit vorzuweisen hat, verhält sich verdächtig.
Ich bin mit fortschreitendem Alter ebenfalls zunehmend nervös geworden, aus meinem linken Hirnlappen erklingt immer häufiger ein unheimliches Gequake.
Ich versuche dann, meiner inneren Unke meist mit ein paar bereitgestellten Erdnussflips das Maul zu stopfen. Manchmal verstummt sie, in letzter Zeit aber nicht mehr.
Und dann werde ich aus den Tiefen meines Bewusstseins wie aus einem dunklen Brunnen allzu deutlich angemeckert: «Soll es das jetzt gewesen sein? Willst du einfach so weiterleben bis zum Schluss? Jetzt ist noch Zeit, Neues zu entdecken. Aufbruch. Oder Ausbruch. Was willst du noch tun, bevor es zu spät ist? Wovon hast du mal geträumt? Und, sag mal, hast du deine eigene Mitte überhaupt schon gefunden? Oder eine akzeptierende, gelassene Haltung gegenüber deiner Frisur? Und was ist mit Yoga? Nein, die Probestunde von neulich zählt nicht! Jetzt ist noch Zeit. Höchste Zeit! Hör doch mal, wie deine Knie schon knacken. Ohrenbetäubend. Deine klagenden Knochen sind die Totenglocken, die dein Alter und dein Ende einläuten. Also los, es ist noch nicht zu spät. Abmarsch! Nein, die Erdnussflips bleiben hier.»
An jenem Sonntagabend hatte ich beschlossen, ein anderer Mensch zu werden, und mich voller Tatendrang im Internet auf die Suche nach einem neuen, angesagten Ich gemacht.
Auf der Seite selbstbewusst-hamburg.de las ich: «Lösen Sie Ihre Bremsen, dann kommen Sie schneller ans Ziel. Zeigen Sie, wer Sie sind! Entdecken Sie sich neu und optimieren Sie Ihre Fähigkeiten. Wir zeigen Ihnen den Weg zu einem spannenden Menschen: Ihrer Persönlichkeit.»
Am nächsten Morgen hatte ich betroffen festgestellt, dass ich mich tatsächlich für das Seminar angemeldet hatte, was eigentlich nicht meine Art ist, denn ich habe es gern gemütlich und gehe meiner Persönlichkeit, wann immer ich mit ihr aneinandergerate, üblicherweise aus dem Weg.
«Mach die Tür auf, oder ich ramm dir das Brotmesser in deinen Schwabbelbauch!», höre ich mich bedrohlich brüllen. Ich will mich ja nicht selber loben, aber wenn es sich derartig anbietet, tu ich es ausnahmsweise mal gern: Bei der Wut-Übung bin ich die absolute Nummer eins. Unschlagbar im derben Rumpöbeln und wüsten Beschimpfen. Rumschreien, bis die Scheiben klirren, dazu kommt man im Alltag ja viel zu selten.
Die Übung begann mit einer Frage unserer Seminarleiterin, der Schauspieldozentin Karin Frost-Wilcke: «Wer von euch kann richtig wütend werden?»
Zwei der drei teilnehmenden Männer und ich hoben den Finger. Von den sieben anderen Frauen rührte sich keine einzige.
Die Übung bestand darin, auf eine imaginäre Tür zuzugehen, wütend gegen sie zu hämmern und den Menschen, den wir uns hinter ihr vorstellen, laut und unflätig zu beschimpfen.
Was dann zu beobachten war, war eine dramatische Unfähigkeit der Frauen zur Wut.
Eine hauchte «Du Doofmann» und machte zarte Klopfbewegungen in die Luft. Eine andere verließ der Mut bereits auf dem Weg zur Tür. Eine dritte rief zwar halbwegs energisch «Mach auf, du Schwein!», brach dann jedoch in verschämtes Kichern aus und huschte mit eingezogenen Schultern zurück zu ihrem Platz.
«Komm mal zu mir», forderte Karin sie auf. «Und jetzt brüll mich an und schubs mich weg. Los, trau dich!»
Es war ein Trauerspiel. Das Schubsen war, wenn es hochkommt, ein verhaltenes Tätscheln, und das Gebrüll erinnerte an eine heisere Prinzessin Lillifee.
Was hindert Frauen bloß an ihrer Wut?
Warum leiden sie regelrecht, wenn sie Aggressionen zeigen sollen?
Vielleicht hat man ihnen einmal zu oft ins Poesiealbum geschrieben: «Sei wie das Veilchen im Grase, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.»
Ich habe nichts gegen Rosen und nichts gegen Bewunderung, und manchmal möchte ich eines dieser dusseligen Veilchen rütteln und schütteln, bis die verdammte Bescheidenheit von ihm abfällt wie der defekte Hitzeschild eines Raumgleiters beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre.
«Verglüh doch, du Würmchen!», möchte ich ihnen ins Gesicht brüllen. «Dann bist du wenigstens einmal in deinem Leben zu sehen!»
Die Schüchternheit mancher Frauen lässt mich ratlos zurück. Was mag da hinter dem Panzer aus Zurückhaltung und Konvention alles schlummern? An Energie und Phantasie und, ja, auch an Wut und Gewalt?
Oder funktioniert unsere Welt nur, weil Frauen tendenziell brav sind, sich um die Weihnachtsgeschenke für die Schwiegereltern kümmern, leere Klopapierrollen auswechseln und später keine Kriege anzetteln?
In deutschen Gefängnissen sitzen zu fünfundneunzig Prozent Männer. Vielleicht würde es eng werden hinter Gittern, wenn Frauen keine Veilchen wären.
Aber die Sehnsucht bei Frauen nach mehr Selbstbewusstsein und weniger Bescheidenheit ist da, und ebenso die Lust, den ewigen Platz im Zuschauerraum zu verlassen, um sich endlich mal auf die Bühne des Lebens zu stellen.
Im Rampenlicht wachsen keine Veilchen, und in der letzten Reihe blühen keine Rosen.
Es geht um Auftreten und Stimme, es geht um Haltung statt Zurückhaltung – und um die Überwindung des niemals schlafenden, gefräßigen Untieres, das in den Winkeln unserer Seele haust: unseres inneren Schweinehundes.
Und nun bin ich hier mit einem ganzen Rudel von Schweinehunden, meiner Persönlichkeit sowie der von neun anderen: Menschen, die sich verändern wollen, die das Optimum aus sich rausholen wollen und sich manchmal einfach eingestehen müssen, dass auch das Optimum nicht immer optimal ist. Und dass es keinen einfachen Weg gibt, besser zu werden, glücklicher zu werden, freier zu werden. Veränderung tut weh.
Auf die Wut- folgt eine Partnerübung. Wir sollen aufeinander zugehen und uns begrüßen, wobei abwechselnd einer den Chef und der andere den Untergebenen spielen soll. Durch unsere Körperhaltung sollen wir Überlegenheit beziehungsweise Unterlegenheit ausdrücken.
Friedemann und Regina, ein Ehepaar aus Tübingen, das den Kurs in Kombination mit einer Hamburg-Tour und einem Musicalbesuch gebucht hatte, geraten sich dabei derartig in die Haare, dass man ihnen, auch im Sinne der bedrohten Gesamtharmonie der Gruppe, einen vorzeitigen Abbruch des Kurses nahelegen möchte.
«Er kommt einfach nie runter von seinem Thron!», ruft Regina klagend in die Runde. «Er kann sich mir nicht mal im Spiel unterordnen.»
«Du bist dominant und merkst es gar nicht, das ist dein altes Problem», schimpft Friedemann. Sein gewaltiger Bauch bebt böse, und Seminar-Chefin Karin schlägt zur Entspannung der Situation eine Übung vor, bei der wir Hunde spielen sollen, die sich wütend anbellen.
Regina und Friedemann klingen wie zwei überreizte Pitbulls bei einem Hundekampf-Festival in Tschetschenien.
Mein Partner bellt mich so engagiert und überzeugend aus, dass ich es schon fast persönlich nehme.
Ich finde meine Performance aber auch recht gelungen. Ich sehe mich selbst als eine Mischung aus aufgeschrecktem Foxterrier und wachsamem Weimaraner und bekomme zunehmend den Eindruck, dass meiner Bühnenkarriere nichts mehr im Wege steht.
Das ändert sich schlagartig bei der nächsten Übung.
«Es geht um Mut», sagt Karin, und mir rutscht das Herz in die Strumpfhose. Ich ahne, dass ich nun dem unangenehmeren Teil meiner Persönlichkeit begegnen werde, mit dem ich mich seit Jahren rumschlage und immer den...