Materielle Bilanzpolitik[54] wird immer dann unterstellt, wenn die Unternehmensleitung bewusst und im Hinblick auf die unternehmerischen Zielsetzungen zweckorientiert Entscheidungen hinsichtlich der materiellen Gestaltung der Bilanz vornimmt, die darauf abstellen, im Rahmen des rechtlich Zulässigen durch eine Veränderung des ausgewiesenen Periodenergebnisses das Verhalten[55] der Interessengruppen des Jahresabschlusses zielkonform zu beeinflussen.[56]
Im Hinblick auf die unterschiedlichen Objekte scheint der Begriff Rechnungslegungspolitik terminologisch passender als der Begriff Bilanzpolitik zu sein,[57] da sich die zweckorientierte Beeinflussung des Datenmaterials durch das Management i.d.R. nicht nur auf die Bilanz beschränkt, sondern u.a. ebenfalls Ausstrahlungskraft auf die Gewinn- und Verlustrechnung (GuV), den Lagebericht, den Anhang, die Segmentberichterstattung oder die Kapitalflussrechnung entfaltet.[58] Neben den genannten normierten Instrumenten ist auch eine Beeinflussung nicht normierter Objekte, z.B. des Value Reporting (VR)[59] oder der Stellungnahmen des Vorstandes oder des Aufsichtsrates, denkbar. Da jedoch im Rahmen dieser Analyse lediglich ein geringer Ausschnitt der Rechnungslegungspolitik in Form materieller Gestaltungsparameter der Bilanzierung und Bewertung fokussiert wird, wird im Folgenden am Begriff der Bilanzpolitik festgehalten.
Die Bilanzpolitik ist grds. in die übergeordnete Unternehmenspolitik eingegliedert,[60] die selbst wiederum ein Bündel hochgradig vernetzter Partialpolitiken darstellt.[61] Dem entscheidungsorientierten Ansatz folgend hat die Unternehmenspolitik dem Management konkrete Entscheidungsregeln zur Verfügung zu stellen, um bestimmte unternehmerische Ziele bestmöglich zu realisieren.[62] Bilanzpolitische Zielsetzungen können keinen originären Charakter tragen,[63] sondern haben sich den vorgelagerten Unternehmenszielen unterzuordnen.[64] Im Schrifttum werden die Ziele der Bilanzpolitik daher als betriebliche Subziele beschrieben, auf die im nachfolgenden Gliederungspunkt 2.2 eingegangen wird.[65]
2.2.1.1 Beeinflussung des Ausschüttungspotentials
Im Rahmen der finanzwirtschaftlichen Zielsetzungen der Bilanzpolitik, die regelmäßig auf eine Sicherstellung der Liquidität des Unternehmens abstellt,[66] wird der Beeinflussung unternehmerischer ertragsabhängiger Auszahlungen,[67] insbesondere der Gewinnansprüche der Anteilseigner, des Managements sowie des Staates ein zentraler Stellenwert beigemessen.[68] Die mögliche Höhe dieser Entnahmen erfährt zum einen eine Beschränkung durch gesetzliche Regelungen, andererseits wird häufig die tatsächliche Höhe der Ausschüttungen durch Willensbekundungen der Gesellschafter und durch Satzungen festgelegt.[69]
Zwischen den Kapitalanlegern auf der einen und der Unternehmensleitung auf der anderen Seite besteht i.d.R. ein Interessenkonflikt,[70] der auf der Principal Agent-Theory beruht.[71] Die strategische und operative Unternehmensplanung wird durch das Management (Agent) generiert, das im Allgemeinen durch möglichst hohe Gewinnthesaurierungen an einer Unternehmensfortführung und einer nachhaltigen Zukunftssicherung interessiert ist. Der Aktionär (Principal) hingegen verfolgt stattdessen häufig eine kurzfristige Sichtweise und präferiert ein möglichst hohes Ausschüttungsvolumen.[72]
Bilanzpolitische Maßnahmen zur Verfolgung finanzwirtschaftlicher Ziele dienen in erster Linie der Sicherstellung des Finanzierungspotentials infolge einer Bildung stiller Reserven[73], der Steuerung der Gewinnermittlung und –verwendung sowie einer weitgehenden Thesaurierung des Jahresüberschusses (JÜ) zur offenen Rücklagenbildung.[74] Die Bilanzpolitik stellt somit ein wirkungsvolles Mittel zur Innen- bzw. Selbstfinanzierung dar.[75]
Sie dient regelmäßig der Generierung der kontinuierlichen Zahlungsfähigkeit des Unternehmens und der Erfüllung sonstiger finanzieller Anforderungen, die aus anderen Partialpolitiken abgeleitet werden.[76] Bilanzpolitische Maßnahmen implizieren eine bewusste Einflussnahme auf die Vermögens- und Kapitalstruktur des Unternehmens im Hinblick auf eine nachfolgende Bilanzstrukturanalyse.[77]
Ein besonderer Anreiz besteht für das Management in der Erzielung einer Dividendenkontinuität,[78] die im Schrifttum als Gewinnglättungspolitik[79] bzw. Income smoothing[80] bezeichnet wird.[81] Sie stellt den bewussten Versuch der Geschäftsführung dar, Schwankungen des ausgewiesenen Jahresergebnisses im Zeitablauf bzgl. eines bestimmten Sollgewinns durch Ergreifen materieller bilanzpolitischer Maßnahmen zu verringern und eine Glättung des Ausschüttungspotentials herbeizuführen.[82] Eine Bildung stiller Reserven bietet sich daher in ertragreichen Perioden an, während eine Verbesserung des Gewinnausweises durch eine Auflösung stiller Reserven in Zeiten unternehmerischer Schieflagen von Vorteil sein kann.[83] Für eine derartige Strategie sprechen gewichtige Gründe. Diese werden vor allem durch das spezifische Verhalten und die Bedürfnisse der Unternehmenseigner determiniert, die im Allgemeinen einen gleich bleibenden Ausschüttungsstrom positiver beurteilen als im Zeitablauf stark schwankende Periodenergebnisse.[84] Eine Glättungspolitik fördert i.d.R. die Zufriedenheit unter den Investoren und erleichtert ggf. die Aufnahme neuen Eigenkapitals.[85] Neben der Stärkung des Vertrauens in die Unternehmung und der Anziehung neuer Investoren kann die Schaffung einer Dividendenkontinuität ggf. mögliche Lohnforderungen durch Gewerkschaften und Arbeitnehmer abwehren.[86] Eine wesentliche Voraussetzung für die wirkungsvolle praktische Umsetzung dieser Strategie ist jedoch, dass die Anteilseigner bereit sind, auf Teile des Gewinns zu verzichten, der ihnen ansonsten als Ausschüttungsmasse zur Verfügung steht.
2.2.1.2 Ziele der Kapitalbeschaffung
2.2.1.2.1 Verbesserung der Eigenkapitalbeschaffung mit Hilfe des Shareholder-Value-Ansatzes
Neben der Steuerung des Ausschüttungspotentials können bilanzpolitische Maßnahmen auch direkt zur Sicherstellung externer Finanzierungsmöglichkeiten im Bereich der Außenfinanzierung zum Einsatz kommen.[87] Die Finanzierung kann dabei durch Kapitalerhöhungen, die sog. Beteiligungsfinanzierung, oder durch Kredite externer Kapitalgeber, die sog. Fremdfinanzierung, erfolgen.[88] Die Bestrebungen des Managements liegen in der nach außen gerichteten Vermittlung einer möglichst ertragreichen Unternehmensentwicklung durch die zielgerichtete Beeinflussung der Struktur des Jahresabschlusses.[89] Je nach individueller wirtschaftlicher Lage bedarf es ggf. einer konkreten Einflussnahme auf bestimmte Bilanzpositionen, um durch günstigere bilanzanalytische Kennzahlen die Erwartungshaltung der jeweiligen Interessengruppen entsprechend anzupassen.[90] Gelingt eine positive Einflussnahme auf die Kapitalgeber durch Zuhilfenahme des materiellen bilanzpolitischen Instrumentariums, führt dies im günstigsten Fall zu einer Akquisition neuer Investoren und einer geringeren Eigenkapitalkostenbelastung durch die Vertrauensstärkung bestehender Anteilseigner.[91]
Hinsichtlich der langfristigen Unternehmensstrategie wird im Schrifttum seit langem die Maximierung des Unternehmenswertes als Ziel des Managements und als Möglichkeit zur Verbesserung der Eigenkapitalbeschaffung diskutiert.[92] Seit Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erfährt das von Rappaport maßgeblich beeinflusste Shareholder Value-Konzept (ShV-Konzept) als modernes Führungsprinzip eine wachsende Bedeutung, welches sich ursprünglich auf den US-amerikanischen Kapitalmarkt beschränkte und sich in kurzer Zeit auf den globalen Kapitalmärkten ausgebreitet hat.[93]
Die Außenfinanzierung durch Beteiligungskapital...