Die Menschenschnecke
Der höhere Mensch ist
ein bauendes Tier.
Oswald Spengler
Keine Aussage über
die Vergangenheit ist so unmittelbar
wie die Bauten einer Epoche.
Der Mensch formt seine Umwelt so,
wie er sich selbst in ihr erlebt.
Das findet seine elementarste Darstellung
in der Art, wie er baut.
Warum baut eine bestimmte Zeit
so und nicht anders?
Versucht man, ihr Raumerlebnis
nachzuempfinden, so gelangt man
zu Erkenntnissen, die weit über
dem Wert der schriftlichen
Überlieferung liegen.
Die Geschichte der Menschheit ist der fantasiereichste Roman, der je erdacht worden ist. Wie bescheiden wirken die Lügengeschichten des Baron von Münchhausen neben diesem abenteuerlichen Gesellschaftsklatsch aus raffiniertem Propagandaschwindel, Druckfehlerteufeln, sensationslüsternen Verzerrungen, nationalem Pathos, verdrängten Schuldkomplexen, aus Vergessenem, falsch Verstandenem, frei Erfundenem und schamlos Gefälschtem. Aber, so könnten Sie jetzt einwenden, und was ist mit der schriftlichen Überlieferung, mit den Augenzeugenberichten aus jener Zeit? Sie sind doch zweifellos vorhanden.
Wer jemals in einem Polizeibericht die widersprüchlichen Zeugenaussagen über einen Verkehrsunfall gelesen hat, der wird zugeben müssen, dass auch auf die schriftliche Überlieferung der Augenzeugen kein Verlass ist.
Aber was ist mit den Gesetzen, den Friedensverträgen, den königlichen und päpstlichen Erlassen, deren Originale wir mit Siegel und Stempel besitzen? Ist auch auf diese Urkunden kein Verlass?
Nein, auch sie reden falsch Zeugnis wider ihre Zeit.
Von den Urkunden der Merowinger (500 bis 750) sind mehr als die Hälfte Fälschungen.
Von den überlieferten 270 Urkunden Karl des Großen sind über 100 unecht. Alle Papsterlasse vor dem Jahr 385 wurden nachträglich gefälscht. Die »Konstantinische Schenkung«, wonach Kaiser Konstantin bei seinem Umzug von Rom nach Byzanz im Jahre 330 Rom und das Abendland an Papst Silvester verschenkt haben soll, ist eine Fälschung, 400 Jahre später von römischen Geistlichen begangen. Die Geschichte keiner europäischen Stadt ist frei davon. Die Aufzählung der uns bekannten historischen Urkundenfälschungen würden die Seiten dieses Buches füllen. Kirchenfürsten, Bischöfe, Kloster und Päpste haben gewissenlos die Wahrheit verfälscht. Sie taten es zum Ruhme Gottes und zum Vorteil der allein seligmachenden Kirche, und das stand moralisch höher als die Wahrheit.
Aber nicht nur die alten Religionen manipulierten die Vergangenheit. Auch in der gegenwärtigen marxistisch-leninistischen Ethik hat die Propaganda absoluten Vorrang vor der Wahrheit. Die Historiker des realen Sozialismus mussten die Geschichte bereits innerhalb eines Jahrhunderts mehrmals umschreiben. Wer sich mit der Materie befasst, ist immer wieder verblüfft und entsetzt, mit welcher Dreistigkeit hier Geschichtsfälschung betrieben wird.
Durch einseitige christliche Propaganda wurde ein so ehrenwerter Mann wie Tiberius zum blutrünstigen Scheusal, und aus den wirklich blutigen Raubzügen der Kreuzritter wurden fromme Pilgerfahrten zum Grabe Christi.
Andere Ereignisse wurden unbewusst verfälscht. Das Blutbad von Verden, bei dem Karl der Große um die 4 500 Anhänger seines Rivalen Widukind erschlagen haben soll, fand in Wahrheit nur im Tintenfass eines Mönches statt, der die lateinischen Partizipien decollati und delocati verwechselte. Ersteres heißt »hingerichtet«, und Letzteres »umgesiedelt«.
Die Beispiele ließen sich seitenlang fortführen. Nein, es ist kein Verlass auf die schriftliche historische Überlieferung.
Wie aber erfährt man die Wahrheit über eine zurückliegende Epoche?
Bleiben wir bei unserem Beispiel mit dem richterlichen Prozess. Bei der Wahrheitsfindung wiegt hier das Corpus Delicti, das Beweisstück des Tatbestandes, mit Recht mehr als alle individuellen Zeugenaussagen. Menschliche Eindrücke lassen sich widerlegen, nicht so die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe.
Caesar berichtet in seinem Tagebuch über den gallischen Krieg, dass die Elche in Germanien keine Kniegelenke hätten und sich daher nicht niederlegen könnten. Sie würden sich in der Nacht gegen Schlafbäume lehnen, die man bloß anzusägen bräuchte, um die Tiere einzufangen. Einmal zu Fall gebracht, kämen sie ohne fremde Hilfe nicht mehr auf die Beine. Da wir wissen, wie Elche aussehen, wissen wir auch, dass die Aussage von Gaius Julius Caesar falsch ist (wie oft mag er noch die Unwahrheit gesagt haben). Das Corpus Delicti Elch hat die Glaubwürdigkeit des großen Feldherrn widerlegt.
Überall auf der Erde findet man versteinerte Muscheln und Schneckenhäuser. Ihre Bewohner sind vor vielen Hunderttausend Jahren ausgestorben. Keines Menschen Auge hat sie jemals gesehen, denn sie haben lange vor unserer Zeit gelebt, und trotzdem wissen wir so viel von diesen ach so vergänglichen Weichtieren, als wenn sie noch lebendig wären. Am bekanntesten sind die spiralig gewundenen Schalenhäuser der Ammoniten. Obwohl diese Kopffüßler vor 100 Millionen Jahren ausgestorben sind, kennen wir mehr als 1 000 verschiedene Arten so genau, dass wir sie als sicher bestimmbare Leitfossilien für das Erdmittelalter vom Silur bis zur Kreidezeit verwenden können.
Diese sichere Kenntnis verdanken wir einzig und allein ihren Häusern. Und so wie das Schneckenhaus ein naturgetreuer Abguss der lebendigen Schnecke ist, so sind auch unsere Bauten lebendige Abdrücke ihrer Erbauer, versteinerte Gedanken und Empfindungen. Keine Aussage über einen bestimmten Zeitabschnitt ist so unmittelbar wie die Sprache der Bauten. Sie vermitteln uns Kenntnisse, die durch nichts zu überbieten sind. Die klassische Baugeschichte, wie sie an unseren Universitäten gelehrt wird, fragt: »Wie wurde das Gebäude einer bestimmten Zeit errichtet, in welchem Stil und zu welchem Zweck?«
Stellt man jedoch die Frage: »Warum ist dieses Bauwerk so gestaltet worden, welches Raumgefühl gab ihm seine architektonische Form?«, und versucht man, die in Stein festgehaltenen schöpferischen Kräfte nachzuerleben, so gelangt man zu Erkenntnissen, die weit über dem Aussagewert der schriftlichen historischen Überlieferungen liegen.
Kunstwerke sind Spiegelbilder der Menschen und ihrer Zeit. Das Lebenswerk eines Künstlers ist zugleich auch seine innerste Biografie. Das gilt auch für die Menschheit als Ganzes.
Die Kunstgeschichte ist die wahrhaftigste Biografie des Menschengeschlechts.
Der Mensch gestaltet seine Umwelt so, wie er sich selbst in ihr erlebt. Das findet seine elementarste Darstellung in der Art, wie er baut. Für die ältere Vergangenheit hat das Haus als Privathaus noch keine Bedeutung, wie auch der Privatmann als Einzelperson noch keine Rolle spielt. Der Mensch erlebt sich als Teil einer Gemeinschaft. Tempel, Dom, Palast und Rathaus sind Ausdruck von Gruppenerlebnissen. Der Einzelne ist nur in dem Maß existent, wie er teilhat an der übergeordneten Gemeinschaft des Stammes, der Kirche oder der Zunft.
Keine andere schöpferische Disziplin ist so eng mit dem Raum und der Zeit verbunden wie die Architektur. Als Einzige formt sie neue reale Räume, die der Mensch betreten kann. Der Zeitfaktor für Bauten ist ein ganz anderer als für Musik, Malerei oder Dichtung. Die Entstehung ist nicht an die Lebenszeit eines Künstlers gebunden. Von ihm erfolgt oft nur der schöpferische Impuls. Bisweilen bauen mehrere Generationen an einem Werk, wie bei den ägyptischen Tempeln oder gotischen Kathedralen. Aber selbst innerhalb einer Generation wird das Bauwerk von vielen schöpferischen Geistern geformt. Damit wird es wie kein anderes Kunstwerk zum Spiegelbild seiner Epoche.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das vom Ablauf der Zeit und damit von der Vergänglichkeit Kenntnis nimmt. Alle Zivilisation ist ein Kampf gegen die Zeit. Die Kunst des Schreibens – die bedeutendste menschliche Erfindung aller Zeiten – war vor allem ein Sieg über die Zeit. Mithilfe der Schrift sprechen Sokrates und Jesus über Jahrhunderte deutlicher zu uns als unsere Mitmenschen. Die großen Werke der Menschheit erlangten Unsterblichkeit.
Mit der Erfindung der Fotografie und der Schallplatte, und damit des Tonfilms, wurde die Vergangenheit direkt, ohne den Umweg über die abstrahierende Schrift, so zugänglich wie die Gegenwart. Tote sprechen und bewegen sich unter uns. Greise begegnen ihrer Jugend.
Architekturen sind Abbilder und Schallplatten ihrer Epoche, gebannte Vergänglichkeit, Siegessäulen über die allmächtige Zeit.
Camus hat einmal gesagt: »Von einem bestimmten Alter ab ist jedermann für sein Gesicht verantwortlich.« Er meint, dass die Fassaden unserer Köpfe von unserem Charakter geprägt werden, von dem, was wir wirklich sind. Das gilt auch für die Fassaden unserer Bauten. Sie werden vom Charakter ihrer Epoche geformt....