Start-up-Arbeit ist weder effizient noch innovativ
Unternehmen geben ihren Mitarbeitern normalerweise Aufgaben und Ziele vor – Dinge, die sie erledigen müssen, wenn sie ihren Job behalten wollen. Start-ups nicht. Die geben ihren Mitarbeitern einen Aufgabenbereich, ein allgemeines Betätigungsfeld, auf dem die Mitarbeiter dann ihre eigenen Ziele abstecken und erreichen sollen. Es ist also Flexibilität gefragt: Aufgaben, Verfahren, Ideen, alles muss sich verändern können, und zwar schnell.
Das ist jedenfalls die Idee dabei.
Mein normaler Tagesablauf bei Rivalchemy hieß, ich saß an meinem Schreibtisch und arbeitete mit meinem Team, und ansonsten waren wir mehr oder weniger auf uns allein gestellt. Es gab keine Ziele, keine Aufgaben, keine Projekte – nichts Konkretes, was die Firmenleitung von uns hätte haben wollen. Stattdessen bekamen wir alle gesagt, was grundsätzlich von uns erwartet wurde, schlicht und einfach die Vermarktung des Unternehmens mit messbaren, positiven Ergebnissen. Dieses Ausmaß an Freiheit hört sich vielleicht großartig an, stellte aber in Wirklichkeit eine sehr große Herausforderung dar, besonders wenn, wie bei uns und bei den meisten Start-ups, folgende Bedingungen zutreffen: a) Die Abteilung hat kein eigenes Budget zur Durchführung großer Projekte. Und b) das Unternehmen wird trotz angeblicher Offenheit sehr wohl hierarchisch geführt, was wiederum bedeutet: Am Ende jonglierst du deine bescheidenen kleinen Ideen und Projekte durch das Management, das deine Arbeit in jeder Phase genehmigen muss – und das eben immer wieder nicht tut.
Angesichts der herrschenden Erwartungen mussten wir jedoch messbare Daten vorweisen, die im Idealfall die Fortschritte der Firma in Sachen Marketing belegten. Also meldeten wir einfach Woche für Woche die Zahlen, die wir hatten: die Zahl der Follower, die Tweets, die Erfolge einbrachten. Was auch immer unsere Jobs waren – Jobs, die wir wohlgemerkt selbst definiert und je nach den Ansprüchen von Timo und Felix wieder umdefiniert hatten –, irgendwie fanden wir messbare Daten, die wir vermelden konnten.
Meine Mitbewohner nannten mich bereits spöttisch »Computerdisplay-Manager«, denn im Grunde tat ich ja den ganzen Tag kaum etwas anderes, als auf den Bildschirm zu starren. So witzig das war, es tat auch ein bisschen weh – vermutlich, weil es den Nagel auf den Kopf traf.
Und dann wuchs das Unternehmen auch noch. Es kamen immer neue Leute dazu, deren Aufgaben unklar waren. Wachstum signalisiert den Investoren eine positive Entwicklung, und es zeigt, dass es der Firma gut geht, aber es schafft keine solide Arbeitsumgebung, in der jeder weiß, was Sache ist.
Einmal kam ich ins Büro und musste feststellen, dass, sozusagen über Nacht, gleich eine ganze Truppe neuer Leute dazugekommen war. Es waren Praktikanten, und sie belegten die Hälfte des Großraumbüros im oberen Stockwerk. Als ich fragte, was sie denn machten, sagten sie mir, das ganze Team sei mit der Bearbeitung von Beschwerden betraut. Anstatt das Produkt und den Kundenservice in Ordnung zu bringen, blähte die Firma einfach ihre Beschwerdeabteilung mit billigen Arbeitskräften auf.
Klingt das nach Innovation oder Effizienz?
Natürlich nicht.
Wie man sieht, werden in Start-ups aufkommende Probleme alles andere als innovativ angegangen. Vielmehr wird die Inkompetenz in einem Bereich des Unternehmens dadurch behoben, dass man die Komplexität in einem anderen Bereich noch erhöht. Der Vertrieb macht Versprechungen über das Produkt, von denen er weiß, dass sie gelogen sind? Kein Problem, man verschlimmert einfach diese Inkompetenz durch Einstellung von Praktikanten, die natürlich nie eine Einführung darüber bekommen haben, wie mit Beschwerden umzugehen ist!
Wir behaupteten, unsere Technologie sei innovativ und unsere Firma effizient, doch in Wahrheit war alles, was jeder Einzelne in der Firma tat, aufwendig und schwerfällig. Das ideale Unternehmen hingegen, die Traumversion, die wir gerne in unserer Firma sehen wollten, wurde in den Strategiemeetings zelebriert. Und wenn ich sage »die wir gerne sehen wollten«, dann war das bei mir in meinen ersten paar Monaten wirklich der Fall – trotz der ineffizienten Arbeitsmethoden, trotz des Mangels an Kommunikation, trotz der fehlenden Flexibilität und der sehr eingeschränkten Möglichkeiten, irgendwo Innovationen zu verwirklichen. Ich redete mir immer noch ein, meine Zeit, in der ich meine Ideen würde verwirklichen können, würde schon noch kommen.
Die Strategiemeetings, die in jedem Projekt nahezu täglich stattfanden, verliefen ungefähr wie folgt:
•Jemand organisierte ein Meeting und einen geeigneten Raum via Google, alle nahmen teil.
•Wir redeten dreißig Minuten lang über die großartigen möglichen Ergebnisse, die wir erreichen könnten.
•Wir stellten eine Liste mit den nächsten Schritten und »To-dos« auf.
•Nichts wurde fertig, weil jede Idee zuerst von Timo und Felix begrüßt und gefördert, am Ende aber wieder abgeschossen wurde.
Eine Verliererkultur also, nichts wurde zu Ende gebracht, einmal abgesehen von nutzlosen Tätigkeiten, frei von jedem Sinn und präsentiert mit dem Nebelhorn für ein Team, das ebenso ungläubig wie gelangweilt auf den nächsten Thrill wartete. Was soll an dieser sogenannten neuen Start-up-Welt glanzvoll oder innovativ sein?
Beim Lunch nach der Party
Und doch gab es selbst in diesem Quasidauerzustand betrieblicher Erstarrung und professionellen Chaos ein organisatorisches Prinzip: das Selbst. Wie Timo auf der Party zu mir gesagt hatte, oblag es jedem Einzelnen selbst, sich um jeden Preis zu optimieren, sich die besten Formen der Organisation im Alltag zu erarbeiten, Projekte selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen und dem Unternehmen zu sagen, was zu tun war.
Ich begrub also meine Beschwerden über die Firma und beschloss, die Dinge nun wirklich selbst in die Hand zu nehmen.
Eigentlich war der Moment, in dem ich diesen Entschluss fasste, der Tag nach der Party, genauer: die Mittagspause.
Nachdem wir am Tag nach der Party das Büro wieder in Ordnung gebracht hatten, beschlossen wir vier vom Marketingteam, es sei Zeit fürs Lunch. Wir tankten in der Mittagssonne bei starkem vietnamesischen Tee und Hühnchen mit sahniger Erdnusssoße neue Energie. Wir lachten trotz unseres Katers über die Ereignisse vom Vorabend und darüber, wie Klaus (einer aus dem Vertriebsteam) und Felix mit der neuen asiatischen Werkstudentin flirteten.
»Sie lächelte immer nur, sie wusste überhaupt nicht, wie sie reagieren sollte«, lachte Johannes.
»Und Klaus meinte so: ›Weißt du, ich liebe die japanische Poesie‹, und sie antwortete bloß: ›Ach ja, wie schön, ich komme übrigens aus Hongkong, aber macht nichts, alles gut‹«, erzählte Pablo.
»O Mann, hast du gesehen, wie sich Felix und Klaus gegenseitig taxiert haben? Das war der pure Zweikampf, wer ist der Stärkere – in der blauen Ecke: Felix, in der roten Ecke: Klaus«, sagte Claudine.
»Hey, ich habe gesehen, wie du dich mit Timo unterhalten hast, da schien es um was Ernstes zu gehen. Worüber habt ihr gesprochen?« fragte Johannes.
»Ach nichts«, sagte ich. »Einfach nur, damit wir uns besser kennenlernen, würde ich sagen.«
»Er ist manchmal echt nervig, weißt du«, sagte Pablo. »Er wollte wirklich jedes einzelne Mädchen in der Firma ins Bett kriegen. Und Felix genauso. Die sind echt ziemlich pervers drauf.«
»Timo ist eklig«, sagte Claudine. »Ich warne dich, Sam. Sei nicht überrascht, wenn sie dich übers Ohr hauen wollen. Bei denen musst du echt aufpassen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich.
»Na ja, ich meine, wenn sie dich mögen, helfen sie dir, aber wenn nicht, lassen sie dich schuften, bis du schwarz wirst.«
Sie wandte sich wieder ihrem Essen zu.
»Wie genau meinst du das? So kannst du das nicht stehen lassen!«, sagte ich.
»Na überleg doch mal. Für die ist das Gründen dieser Firma eine spannende Sache. Es gibt ihnen ein gutes Gefühl. Aber die eigentliche Arbeit machen – das wollen sie nicht. Richtige Arbeit ist langweilig. Etwas weggeschafft zu kriegen, das ist langweilig. Die wollen bloß, dass es aussieht, als hätten sie etwas geschafft, dass jeder glaubt, sie wären erfolgreich, aber in Wirklichkeit geht es für sie bloß um den Kick, darum, Macht auszuüben. Am Anfang bekam die Firma einen Haufen Presse, so wie alle neu gegründeten Start-ups. Aber jetzt müssen sie den Laden aktiv vermarkten. Und da wissen sie nicht, wie sie es anstellen sollen. Felix will es so machen, Timo genau anders herum. Am Ende würgen sie die Ideen des...