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E-Book

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie

AutorUndine Zimmer
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104023267
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ein authentischer Erfahrungsbericht: eine Kindheit am Rande der Gesellschaft Wir sind die Summe der Erfahrungen, die wir machen. Für ein Hartz-IV-Kind zählen aber auch die, die es nicht macht: Familienurlaub, Klassenausflug oder einfach ein Eis essen gehen. Für Undine Zimmer war das die Realität. In einem ganz eigenen, souveränen Ton erzählt sie davon: von ihren Eltern, die als »nicht integrierbar in den Arbeitsmarkt« gelten, von mitleidigen Lehrern und verständnislosen Sachbearbeitern, von der Furcht, bloßgestellt zu werden, und dem Gefühl, nicht dazuzugehören. Jenseits aller Klischees gibt sie Einblick in eine Welt, über die viel geredet wird, von der aber kaum jemand wirklich etwas weiß. »Träumen kostet Mut, wenn dir keiner Hoffnung macht. Und es bleibt immer diese Angst, dass ich trotz aller Anstrengung versagen und das Leben meiner Eltern leben werde.« Undine Zimmer

Undine Zimmer, geboren 1979, studierte in ihrer Heimatstadt Berlin Skandinavistik, Neuere Deutsche Literatur und Publizistik. Sie schrieb nach Stationen u.a. bei der »Zeit« und »AVIVA-Berlin« als freie Journalistin für verschiedene Publikationen. Für ihre Reportage »Meine Hartz-IV-Familie«, erschienen im »Zeit-Magazin«, war sie 2012 in der Kategorie Essay für den Henri-Nannen-Preis nominiert. Sie lebt in Berlin und Reutlingen.

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Leseprobe

KAPITEL EINS »Trau dich!«


In dem es um eine Studentin mit Abschluss geht, die statt Aufbruchsstimmung eine große Müdigkeit verspürt und sich damit auseinandersetzen muss, dass selbst die Zukunft noch von der Vergangenheit bestimmt wird.

Meine Mutter hat mir beigebracht, dass in diesem Land jeder die gleichen Chancen hat. Sie hat mich dazu ermutigt zu träumen. Obwohl sie sich in den Warteräumen des Jobcenters nicht als vollwertiger Mensch und oft hilflos fühlte, habe ich sie nie auf andere oder auf den Staat schimpfen hören. »Du kannst alles im Leben erreichen, was du willst«, hat sie zu mir immer gesagt – obwohl sie wusste, dass sie mir dann irgendwann bei den Hausaufgaben nicht mehr würde helfen können, obwohl sie nachts von all den Leckereien träumte, die nie in unserem Einkaufswagen lagen.

Hartz-IV-Empfänger gelten in der Öffentlichkeit allzu oft als Jammerlappen, Flaschensammler, gewaltbereite junge Männer, sie werden eher als »Asoziale« wahrgenommen denn als Mitbürger. Oder man führt sie in Talkshows und Reportagen als traurige Helden vor, als tapfere Alleinerziehende, als unfreiwillige Frührentner oder als arme Selbständige, die ohne Schuld in Not geraten sind und um das Recht auf ihr Auto kämpfen.

Meine Eltern gehören weder zur einen noch zur anderen Gruppe: Sie haben ein mittleres Bildungsniveau, sie legen Wert auf gesunde Ernährung und sie hören Kulturradio. Womöglich sind sie nicht die Einzigen.

*

Als ich das erste Mal neben meiner Mutter auf der breiten Holzbank eines Wartesaals saß, war ich noch nicht einmal drei Jahre alt und meine Mutter schon arbeitslos. Ich war noch sehr klein, aber ich erinnere mich an die weite Steinhalle, so endlos wie die Wartezeit, an dröhnende Lautsprecher und daran, dass meine Mutter geweint hat. Damals, 1981, war das Sozialamt im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz in Kreuzberg untergebracht. Es war schmutzig und es wurde viel geraucht. Eine Spielecke für Kinder gab es nicht. Die Lautsprecherdurchsagen waren so unverständlich, dass meine Mutter die ganze Zeit Angst hatte, vor lauter Rauschen ihren Namen zu überhören.

Wir hatten schon lange gewartet, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei Stunden. Also hat sie zaghaft an eine Tür geklopft, um nachzufragen, ob sie vielleicht doch schon aufgerufen wurde. Hinter der Tür hatte der Sachbearbeiter gerade seine Stullen ausgepackt und die Zeitung aufgeschlagen. Er hat sie gleich angeschnauzt. Da hat sie angefangen zu weinen.

Meine Eltern waren, solange ich denken kann, Langzeitarbeitslose: Eine alleinerziehende Mutter und ein geschiedener Vater und Aufstocker, der als Taxifahrer weniger verdiente als ich mit meinen schlecht bezahlten Studentenjobs. Mittlerweile sind sie beide über sechzig und erhalten eine kleine Rente mit ergänzender Sozialhilfe. Leider ist keinem von beiden die sogenannte »Integration in den Arbeitsmarkt« gelungen. An der Zahl der Bewerbungen, einem mangelnden Wunsch nach Unabhängigkeit und Arbeit lag das nicht.

Für mich gehören meine Eltern zu jenen unsichtbaren Helden, die in unserem Land jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen. Im Vergleich zur Mehrheit haben sie in diesem Kampf eine schlechte Ausgangsposition. Sie haben sich, obwohl sie sich oft erniedrigt fühlten, ihre Würde bewahrt. Trotzdem beeinflusst die Sozialhilfe bis heute ihr Leben und damit auch meins.

*

Als man mich zu Beginn meiner Hospitation beim Zeit-Magazin fragte, was ich denn an Themenvorschlägen parat habe, war der Vorschlag, über meine langzeitarbeitslosen Eltern zu schreiben, eine Verlegenheitslösung. Die spontane begeisterte Reaktion war die erste Überraschung. Beim Schreiben überkamen mich immer wieder Zweifel; ob das Thema jemanden interessieren würde, ob ich genug zu erzählen hätte, ob ich überhaupt die geeignete Person bin, etwas zum Thema Armut zu sagen. Meine Bekannten verstanden auch anfangs nicht, was ich da genau berichten wollte. Was sollte an mir so anders sein? Sie konnten keinen Unterschied sehen. Bis der Text druckfertig war, ging er einige Male zwischen mir und meiner Redakteurin hin und her. Ein paarmal war ich kurz davor, das Projekt zurückzuziehen. Dann dauerte es Monate, und ich dachte schon, die Redaktion hätte es sich anders überlegt. Als ich nachfragte, kam die zweite Überraschung: Der Text sei für den Titel eingeplant. Typisch, dachte ich, entweder verschwinde ich ganz in der Menge oder ich falle richtig aus der Reihe. Einfach »normal« scheint es für mich nicht zu geben. Als der Text endlich erschien, war meine Mutter am nervösesten. Doch die Reaktionen aus der Redaktion hätten nicht lobender und von den Lesern nicht anrührender sein können. Ich hatte einen Ton getroffen, mit dem beide Seiten – Beobachter und Betroffene – etwas anfangen konnten. Im folgenden Frühjahr 2012 stand ich, eine Anfängerin und Außenseiterin, plötzlich mit meinem ersten großen Text auf der Nominiertenliste für den Henri-Nannen-Preis, einen der bekanntesten Journalistenpreise in Deutschland. Ich fand es einfach nur skurril. Den Preis habe ich zwar nicht bekommen, aber, was für mich persönlich die wichtigere Auszeichnung war, einen Buchvertrag. Dann erst war ich sicher, ich hatte doch etwas zu erzählen.

*

Ich bin mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen. Ich war unter den 38,5 Prozent der Studierenden, die den BAG-Höchstsatz ohne weitere Nachfragen bekommen haben. In meiner Familie gab es kein Haus, kein Auto, keine Ersparnisse, die angerechnet werden konnten. Es gab nur Sozialhilfe, wie es damals noch hieß. Ich habe als Erste in meiner Familie ein Studium abgeschlossen und habe jetzt jede Menge Bildungsschulden. Statistisch gesehen bin ich mit dem Karrierefahrstuhl nach oben gefahren. Als Akademikerin Teil des ach-so-vielversprechenden Potentials der Nation, hochqualifiziert, mit einem guten, aber mittlerweile zum Aussterben verurteilten Magisterabschluss, vier Fremdsprachen und jeder Menge Erfahrung. Ich könnte sagen: Ich habe es geschafft!

Eigentlich sollte die Vergangenheit meiner Eltern jetzt keine Rolle mehr spielen. Meine Situation zeigt mir, dass die Realität anders aussieht. Gerade wenn es um die Zukunft geht, wird die Herkunft plötzlich wichtig. Ich habe nur das Versprechen der Chancengleichheit ernst genommen und versucht, im Berufsleben Fuß zu fassen. Ich werde, zu meiner Überraschung, als etwas Besonderes wahrgenommen. Dass ich über meine persönlichen Erfahrungen und meine Herkunft offen spreche, ist offensichtlich immer noch ungewöhnlich. Ich dachte, wir wären längst weiter.

Ich habe mich nie dafür geschämt, woher ich komme und wer ich bin. Ich habe nie versucht zu verstecken, dass meine Eltern geschieden sind, mein Vater Taxifahrer war und meine Mutter zu Hause blieb. Genauso wenig habe ich mich dafür geschämt, dass ich nach meinem Studienabschluss in einem Charlottenburger Café kellnerte statt im Akkord Bewerbungen zu schreiben. Da bekamen meine Kommilitonen ihre ersten – natürlich befristeten – Jobs, promovierten oder stellten ihren Antrag für Hartz IV. Ich wollte auf keinen Fall zum Jobcenter gehen. Ich war 29 und mit meinem monatlichen Kellner-Lohn war ich auf niemanden angewiesen, konnte die Miete für meine kleine Einzimmerwohnung bezahlen und endlich meinen Führerschein machen.

In meinem Café fühlte ich mich zu Hause. Meistens lehnte ich an dem dunklen Holztresen und wartete auf Gäste. Hinter meinem Rücken standen in den verspiegelten Regalen Biergläser, Sekttulpen, Kaffeetassen, süße Sirups, grüne und braune Likörflaschen, Aperitifs und amerikanische wie schottische Whiskys, die ich endlich zu unterscheiden gelernt hatte. Das Herzstück des wohnzimmergroßen Raumes war die Kaffeemaschine, rechts hinter dem Tresen, mein treuer Begleiter durch den Tag. Ich hatte alles, was ich brauchte: eine Arbeit, die mir leicht von der Hand ging, meinen Latte macchiato, ein Sandwich und meine Lieblingsgäste. Alles Wissen, das keinen praktischen Gebrauchswert hatte, war hier überflüssig. Das gefiel mir.

Das Café ist eins dieser alten Westberliner Cafés zwischen dem bohemienhaften Savignyplatz und der rummeligen Fußgängerzone Wilmersdorfer Straße. Seit der jetzige Chef die ehemalige Studentenklause vor fünfzehn Jahren übernahm, haben sich im Gastraum nur Kleinigkeiten verändert. Ein neuer Kleiderhaken, nach zehn Jahren eine Uhr, neue Klodeckel.

Die meisten Gäste sind Stammgäste: Kiezkönige, Journalisten, Künstler, Arbeitslose, Makler und pensionierte Lehrer mit ihren Schoßhunden. Sie kommen fast jeden Tag, sitzen ein paar Stunden an den kleinen runden Holztischen, am liebsten neben der halbvertrockneten Topfpflanze an der großen Fensterfront und trinken immer den gleichen Kaffee.

Im Sommer trugen wir die kleinen Tische mit den eingebrannten Blumenmustern und den gusseisernen Tischbeinen nach draußen. Jedes Frühjahr kam jemand und wollte sie kaufen. Ich servierte lächelnd weiße Milchschaumberge, garniert mit schlagfertigen Kommentaren, und fühlte mich selbst wie eine kleine Kiezgröße in meinem Quartier. Andererseits war es angenehm, dass dort niemand wusste, wer ich bin, was ich studiert hatte, wovon ich träumte und was ich bisher gesehen hatte. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur der Milchschaum.

An einem Sommertag saß plötzlich eine ehemalige Vorgesetzte aus der Literaturbranche in einem der Korbstühle. Bei ihr hatte ich als Schwedisch-Studentin ein Praktikum gemacht und später in ihrem Büro ausgeholfen. Danach waren wir uns nur noch einmal bei einem Empfang in den nordischen...

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