Ob es an meinem Dauereinsatz lag, ich gut genug schreiben konnte oder ob es einfach Fügung war, weiß ich nicht. Jedenfalls bekam ich im Frühjahr 2004 das Angebot, Ressortleiter der Lokalredaktion zu werden. Ich erinnere mich genau an den Moment, als mich der Chefredakteur von unterwegs auf meinem Handy anrief und sich mit mir für drei Tage später zum Mittagessen verabredete.
Ich hatte bereits gehört, dass ich für die Nachfolge des zur BILD wechselnden Lokalchefs im Gespräch sei. Also ahnte ich, was kommen würde.
Vor dem Treffen war ich aufgeregt. Ich erinnere mich nicht, ob ich vorher überhaupt mit jemandem außer dem scheidenden Ressortleiter über das Für und Wider des Angebots und über die Folgen gesprochen hatte. Ich glaube nicht. Wie so oft versuchte ich, es wieder einmal mit mir alleine auszumachen. Wobei das in diesem Fall nicht schwer war. Tatsächlich überlegte ich keine Sekunde, ob ich das Jobangebot annehmen würde. Obwohl die leitende Position eine berufliche Zäsur bedeutete: Sie wäre das Ende meines Reporterdaseins, das Ende der überschaubaren Verantwortung, die ich bislang nur für meine eigenen Artikel trug. Für die saubere Recherche aller Mitarbeiter der Lokalredaktion die im Zweifelsfall presserechtliche, zumindest aber die journalistische Verantwortung zu übernehmen, bereitete mir Sorgen. Zwar hatte ich selbst nicht viele Böcke geschossen, aber ein paar üble Fehler waren auch mir schon unterlaufen. Etwa ein Jahr zuvor hatte ich eine gewaltige Ente fabriziert, weil ich einem Aufschneider aufgesessen war. Es war die Knastgeschichte eines ehemaligen Häftlings über seinen angeblichen Zellennachbarn, einen Unterstützer der Harburger Terrorzelle. Ich konnte nur überprüfen, dass der Informant tatsächlich zum fraglichen Zeitpunkt eingesessen hatte, und verließ mich beim Rest auf mein Bauchgefühl. Es hatte mich getäuscht, die Behauptungen waren frei erfunden. Ich wäre beinahe kollabiert, als ich das erfuhr. Nie wieder, schwor ich mir, würde ich eine Geschichte veröffentlichen, die ich nicht gegenchecken konnte.
Was, wenn mir demnächst ein Mitarbeiter unabsichtlich so ein Märchen unterjubeln würde? Ich verbannte den Gedanken und dachte an den Kick, den mir der Aufstieg bescheren würde.
Nachdem der Chefredakteur mir wie vermutet den Job angedient und ich zugesagt hatte, fragte ich mich, ob und wie ich in der künftigen Rolle bestehen würde. Dass mir die Leitung des wichtigsten Ressorts der Zeitung frei jeder Skepsis zugetraut wurde, wunderte mich. Selbst hielt ich mich für noch nicht so reif, ich war erst gut drei Jahre Redakteur. Dass andere es anders sahen, gab mir Sicherheit und Zuversicht. Ich ahnte aber auch: Die Belastung, der Stress würden zunehmen. War ich dafür geschaffen, würde ich das aushalten, würde ich mir Auszeiten gönnen? Ich dachte an meine gescheiterte Ehe, an Samy. Würde ich dann überhaupt noch Zeit für ihn haben? Über die Antworten machte ich mir keine Gedanken. Stellten die Chefs meine Neupositionierung nicht in Frage, sollte ich es auch nicht tun.
Mir schmeichelte die Beförderung, gleichzeitig flößte mir der Gedanke, der Belegschaft bald schon sagen zu sollen, wo es langgehe, Höllenrespekt ein. Je näher der Tag rückte, an dem ich beginnen sollte, desto mehr bemühte ich mich, mich nicht verrückt zu machen. Es gelang mir immer weniger.
Werden die gestandenen Redakteure mich akzeptieren?
Kann ich das wirklich?
Was, wenn nicht?
Was, wenn alle es merken?
Wenn sie hinter meinem Rücken über mich lästern?
Wenn ich keine Antworten auf die Fragen meiner Mitarbeiter finde?
Wenn ich falsche Entscheidungen treffe?
Wenn ich keinen Weg finde, meine Leute zu führen?
Soll ich streng sein oder locker?
Lasse ich die Guten machen, nehme ich die Schlechten an die Leine?
Bitte ich, fordere ich, oder ordne ich an?
Mahne ich ab, wenn jemand Mist baut?
Mal so, mal so – je nach Gefühl und Situation?
Auf die Antworten verzichtete ich erneut. Einmal sprach ich mit meinem baldigen Vorgänger darüber. «Mach dir keinen Kopf. Du kannst das, den Rest lernst du, glaub mir.» Ich versuchte es.
Zwar hatte ich mit einunddreißig Jahren bereits einen vierjährigen Sohn, eine Frau (auch wenn sie die Scheidung eingereicht hatte) und ein Mittelreihenhaus. Aber ich fühlte mich nicht so gesettelt, wie es der Rahmen vermuten ließ, im Gegenteil: je wilder eine Party, desto besser gefiel sie mir. Wenn sich die Gelegenheit ergab, rauchte, schluckte oder schniefte ich noch immer gern Verbotenes. Mit Kollegen und Freunden machte ich auf dem Kiez ab und an einen drauf, ohne an den nächsten Morgen zu denken. War so jemand der Richtige für einen derart verantwortungsvollen Job?
Schon als Reporter plagten mich in Abständen einiger Wochen Selbstzweifel. Kritisierte mich jemand, nahm ich mir das sehr zu Herzen. Es kam sogar vor, dass ich mich deshalb fragte, ob ich den richtigen Beruf gewählt hatte. Als Chef würde ich weitaus mehr im Fokus stehen, meine Entscheidungen und Fehler hätten eine deutlich größere Tragweite, ich würde viel häufiger kritisiert werden. Ich ahnte, dass mir das zu schaffen machen würde, schob die Gedanken aber beiseite. Die Chance war viel zu aufregend; für ein paar Tage und Nächte überwog die Vorfreude, dann wurde ich wieder unruhig. Noch sechs Wochen bis zum Start.
Vor der ersten Morgenkonferenz, die ich leiten sollte, war ich schrecklich nervös. Ich hatte Angst, dass meine Stimme beben, ich Schweißausbrüche bekommen und mich verhaspeln würde. Ich hatte Angst, dass ich kein Chef sein kann. Erstaunlicherweise ging es irgendwie. Es war kein souveräner Einstand, aber auch keine Katastrophe. Nichts von dem, was ich befürchtet hatte, passierte. Ich hatte den ganzen Tag schwitzige Hände, mir war viel zu warm, ich war unheimlich aufgeregt. Das Adrenalin kitzelte in meinen Adern. Als am Abend mein erster Lokalteil fertig und die Zeitung im Druck war, begann ich dran zu glauben, dass ich es packen würde. Ein kleines Wunder. Warum sollte es sich morgen nicht wiederholen?
Und das tat es. Nach den ersten Wochen hatte ich raus, was das Wichtigste war: Entscheidungsstärke zeigen. Alle paar Minuten kam jemand zu mir, um sich einen Termin, die Zusage für einen Praktikanten, eine Dienstreise, einen Urlaubsantrag, eine Dienstplanänderung, die Recherche eines brisanten Themas, ein Informantenhonorar, die Bestellung eines Kameraobjektivs, eine Fortbildung, Sonderspesen oder die Antwort auf einen wütenden Leserbrief abnicken zu lassen. Alle paar Minuten sollte ich etwas zur Themenplanung sagen, wollte jemand meine Meinung zu einem Seitenlayout oder einem Kommentar hören. Redakteure kamen zu mir, die in ihrer Recherche feststeckten, deren Geschichte geplatzt war oder die etwas gehört hatten, was unbedingt noch ins Blatt musste. Dem Chefreporter gefiel eine von mir redigierte Passage seines Textes nicht, ein Volontär ließ mich wissen, dass seine Informationen die geplante Überschrift nicht bestätigen würden. Jeder kam mit der Erwartung, eine schnelle Antwort zu erhalten. Und alle hatten darauf Anspruch. Egal, ob mir etwas Sinnvolles einfiel, egal, ob ich am Vorabend massiv gefeiert, zu Hause Beziehungsstress hatte oder frisch verknallt und mit meinen Gedanken ganz woanders war, und egal, was der Kollege vor ihm und der Kollege nach ihm von mir wollten.
Entscheidungsstärke. Ich gewöhnte mir an, mehr aus dem Bauch heraus zu entscheiden, den spontanen Impuls aufzunehmen und zur Grundlage meiner Antwort zu machen. Das war die Chance, der Flut von Themen, Anliegen, Bedürfnissen Herr zu werden. Das erhöhte das Risiko einer Fehlentscheidung, aber das war mir lieber, als die Antworten aufzuschieben und damit einen gewaltigen Entscheidungsstau zu verursachen. Und doch passierte es manchmal, dass ich einem Mitarbeiter sagte, ich wisse nicht mehr, wo mir der Kopf stehe. Das war das Bescheuertste, was ich tun konnte. In kürzester Zeit spricht sich das rum. «Überleg dir gut, ob du heute zu ihm gehst, der ist im Vollstress», warnt derjenige die anderen, den ich meinen Druck habe spüren lassen. Das ist an einem einzigen Tag okay, vor allem dann, wenn wirklich mal der Baum brennt. Passiert es häufiger, bekommt der Ruf einen Knacks. Ich habe also trainiert, mir nicht anmerken zu lassen, wenn es mir zu viel wurde. Was bedeutete: den Ärger runterzuschlucken, die Anspannung mit dem Fuß nervös wegzuwippen, die Luft anzuhalten und in Gedanken bis drei zu zählen. Ich hielt das für normal und die Unterdrückung meiner Stress-Symptome für professionell.
Ein Jahr nach meiner ersten Konferenz als Ressortleiter wurde ich stellvertretender Chefredakteur, im Sommer 2006 Chefredakteur. Nun war ich verantwortlich für sechzig Mitarbeiter – Volontäre, Redakteure, Chefreporter, Fotografen, Layouter, Korrektoren, Archivare und Sekretärinnen. Ich war dreiunddreißig und fragte mich erneut, ob das nicht alles viel zu schnell gegangen war.
An meinem ersten Tag als Chefredakteur dachte ich das erste Mal: Ich werde nicht mein ganzes Leben lang Journalist bleiben. Der Druck hatte sich immer weiter erhöht. Alles lag nun an mir. An diesem ersten Tag beschlich mich das Gefühl, als läge der beste Moment in meinem neuen Job bereits hinter mir. Der Moment, in dem ich zugesagt hatte. Unmittelbar danach befiel der Stress meinen Körper, meine Nerven, meine Seele. Die Begeisterung für den Traumjob, den ich ein paar Jahre zuvor gefunden zu haben geglaubt hatte, kannte auf einmal Grenzen. Der Stress wucherte in mir wie ein...