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E-Book

Nie mehr schämen

Wie wir uns von lähmenden Gefühlen befreien

AutorStephan Konrad Niederwieser
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641225605
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Scham verstehen und sich von ihr befreien
Scham verursacht ein tiefes Unwohlsein, manche erleben ein Brennen im Körper oder gar einen physischen Schmerz. Wer Scham empfindet, fühlt sich wie ein hilfloses Kind: überfordert und ausgeschlossen.

Stephan Konrad Niederwieser stellt viele Übungen vor, mit deren Hilfe man sich der eigenen Schamreaktionen bewusst werden kann, um sich so nach und nach von ihnen zu befreien.

Stephan Konrad Niederwieser, geboren 1962, bietet in seiner Praxis in Berlin Psychotrauma-Therapie an. Er ist Heilpraktiker, hat verschiedene körpertherapeutische Ausbildungen absolviert (Hakomi, NARM) und arbeitet eng mit dem renommierten Trauma-Experten Laurence Heller zusammen. Als Autor veröffentlichte er bereits Sachbücher, Romane und Ratgeber.

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Leseprobe

Einführung: Zwischen Himmel,
Haut und Schande


Scham – ein Tabuthema


Sie kennen Scham. Vielleicht weil Sie etwas an Ihrem Körper lieber anders haben würden oder überzeugt sind, auf irgendeine andere Weise nicht zu genügen. Möglicherweise verheimlichen Sie Ihre soziale Herkunft oder sind in sexuellen Belangen scheu. Das sind offensichtliche Symptome der Scham, sozusagen die Spitzen des Eisbergs. Scham aber ist viel mehr. Sie kann die Ursache dafür sein, dass Sie beruflich hinter Ihren Möglichkeiten zurückbleiben und wenig oder gar keinen Erfolg haben. Sie ist der Motor für wiederkehrende Konflikte in Partnerschaften und kann der Grund dafür sein, dass Sie in schädlichen Beziehungen verharren. Scham verhindert echte Intimität. Sie lähmt Lebensfreude, Lust und Selbstausdruck. Sie kann physisch krank machen und Persönlichkeitsstörungen, Süchte und selbstverletzendes Verhalten hervorbringen und damit einen vorzeitigen Tod bescheren.

Der Begriff Scham

Woher kommt das Wort Scham? Im Mittelhochdeutschen lautete der Begriff nach Duden scham(e), scheme und im Althochdeutschen scama. Ursprünglich bedeutete er »Beschämung« und »Schande«. Das englische Wort shame leitet sich vom indoeuropäischen shem oder skem ab, aus dem im Englischen die Worte skin (Haut) und sky (Himmel) entstanden sind (Nathanson 2009). All das deckt sie ab: Scham schmerzt wie Schande, grenzt ab wie unsere Haut und hat das Potenzial von der Weite des Himmels.

Jeder Mensch ist mit der Fähigkeit ausgestattet, sich zu schämen. Aber wir sprechen nur selten über sie. In der Schule ist Scham kein Thema, ebenso wenig in den allabendlichen Talkshows. Seit Anfang des Jahrtausends sind mehr als zehnmal so viele Bücher über Angst geschrieben worden wie über Scham. Wer »Scham« googelt, bekommt 3 Millionen Einträge. Für »Wut« sind es jedoch 22 Millionen und für »Liebe« 300 Millionen (Stand: 1.8.2018). Obwohl Menschen seit über 100 Jahren Psychotherapie praktizieren, fand der erste europäisch-amerikanische Kongress zum Thema Scham erst 1984 statt. Und selbst das liegt mehr als 30 Jahre zurück – trotzdem fehlt die Auseinandersetzung mit Scham immer noch in den Lehrplänen von Schulen, künftigen Ärzten und Psychologen.

Aufgrund dieser Zahlen könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass Scham keine große Rolle spielt. Warum aber stellt die amerikanische Soziologin Brené Brown, die seit Jahren dazu forscht, fest: »Scham korreliert mit Sucht, Depression, Gewalt, Aggression, Mobbing, Selbstmord und Essstörungen«? (Brown 2012)

Dr. Stephen Porges, Professor für Psychiatrie an den Universitäten von Indiana und North Carolina, ist überzeugt, dass Scham bestimmt, »wie Menschen ihr Leben leben. Scham löst auf der körperlichen Ebene Reaktionen aus, die einer Lebensbedrohung sehr ähnlich sind […] Wenn Menschen sich schämen, verlieren sie ihre Fähigkeit, sich nach ihrem Willen zu verhalten« (Porges 2016).

Der amerikanische Philosoph und Psychologe John Bradshaw bezeichnete Scham als vergifteten Seinszustand: »Scham als Identität ist toxisch und entmenschlichend […] [sie] ist unerträglich und muss vertuscht werden […] Sobald man ein falsches Selbst annimmt, hört man psychologisch auf zu existieren.« (Bradshaw 2005, S. xvii)

Solche Aussagen machen deutlich, welchen Stellenwert einige Wissenschaftler und klinische Psychologen der Scham beimessen. Umso mehr erstaunt es, dass Scham immer noch für eine Begleiterscheinung von Problemen und Krankheiten gehalten wird, anstatt sie als Ursache zu erkennen.

Scham in der Renaissance

Die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Scham, die ich finden konnte, wurde in der Renaissance verfasst. Der junge Arzt Annibale Pocaterra zeigt in seinem 1592 erschienenen Buch »Zwei Dialoge über Scham« wesentliche Facetten dieser Emotion auf.

Scham beeinträchtigt Fühlen, Denken und körperliche Gesundheit


Wer sich chronisch schämt, der verliert nicht nur Lebensfreude und Lebendigkeit. Auch Nerven-, Immun- und Hormonsystem geraten aus dem Gleichgewicht. Bildgebende Verfahren belegen zudem, dass Scham die Aktivität bestimmter Regionen des Gehirns dämpft und damit die Denkfähigkeit reduziert. Manche Menschen erleben unter Scham sogar eine komplette Lähmung ihres Denkapparates, sie können nicht einmal mehr sprechen. Es ist leicht auszumalen, welche Weichen das für Kinder in der Schule stellt. Aber natürlich ist das auch für Erwachsene sehr hinderlich.

Und das ist noch nicht alles. Scham

  • bindet Menschen an ihre unverarbeiteten Erfahrungen in der Vergangenheit und blockiert dadurch geistiges, emotionales und auch spirituelles Wachstum;
  • kapert ihre Identität;
  • macht Menschen für wirtschaftliche Interessen und für Meinungen manipulierbar;
  • ermöglicht, Menschen auszubeuten, Kriege anzuzetteln oder ganze Völker auszulöschen.

Nicht zuletzt sind Scham-Gefühle massive Stolpersteine in Beziehungen. Wer sich nicht liebenswert wähnt, kann sich nicht verbunden fühlen, denn körperliche und emotionale Nähe zuzulassen, geht mit der Angst einher, als nicht liebenswert »entlarvt« zu werden – sich zugehörig zu fühlen fällt schwer. In Partnerschaften und Familien entwickeln Scham-Gefühle geradezu zerstörerische Kräfte. »[Scham] spielt eine zentrale Rolle in der Regulation jeden emotionalen Ausdrucks und daher in jeder menschlichen Interaktion«, schreibt Allan N. Schore (1998, S. 72), Professor für Psychiatrie und Bioverhaltenswissenschaften an der Universität von Kalifornien, Los Angeles.

Ich bin der Überzeugung, dass es zu den wesentlichen Aufgaben des Menschen zählt, den automatisierten Mechanismus der Scham zugunsten bewusster Entscheidungen aufzugeben.

Wenn ich Scham als Hauptwort verwende, erweckt das vielleicht den Eindruck, es sei ein bestimmtes Ding, abgegrenzt, klar umrissen, genau definiert. Ganz im Gegenteil: Scham tritt in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auf – vom unangenehmen Zusammenzucken oder einem Hitzegefühl im Gesicht über schmerzhafte Impulse, sich zurückzuziehen, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten oder Suizid. Nicht zuletzt meldet sie sich selten allein an, sondern ist meist nur Speerspitze für weitere Affekte, wie zum Beispiel Angst und Wut.

Vielleicht denken Sie jetzt: So ein bisschen Scham kann doch nicht schaden! Oder Sie wünschen sich sogar, dass sich so mancher Banker, Politiker oder Gewalttäter mehr schämen sollte – in der Hoffnung, dass dies Verbrechen verhindern würde. Aber Scham verhindert keine Verbrechen, es provoziert sie sogar, wie die zahlreichen Beispiele von Menschen in den USA zeigen, die regelrechte Massaker anrichten.

Mögen meine Zeilen dazu anregen, über die großen Fragen unserer Gesellschaft neu nachzudenken: über Erziehung, Integration, die Nutzung von Medien und das Altwerden. Mögen Sie durchschauen, wie Politik, Medizin, Werbung, Justiz und sogar Psychotherapien Scham-Gefühle aufrechterhalten, und dass Scham nicht nur bestimmt, wie Sie über sich selbst denken, sondern dass sie auch Rangordnungen in Gruppen und Gesellschaften organisiert: Menschen, die dazugehören, und viele, die nicht dazugehören (dürfen). Scham ermöglicht wenigen, mächtiger zu sein als der Rest der Welt.

Es würde mich freuen, wenn es mir gelänge zu verdeutlichen, welch zentrale Rolle Scham in unserem Alltag spielt, denn ich glaube, dass wir erst am Anfang stehen, dies zu erfassen. In diesem Buch möchte ich Ihnen zeigen,

  • wie genial im Grunde diese Emotion ist,
  • wie gefährlich sie sich entwickeln kann und
  • welch ungeahntes Potenzial sich darin versteckt.

Und ich hoffe, dass Sie am Ende der Lektüre fähig sind, hinter die Maske Ihrer eigenen Scham zu schauen und dort den zu erkennen, der Sie wirklich sind.

Scham-Tagebuch


Scham ist eine tückische Emotion, die oft vorhanden ist, aber selten sichtbar wird. Ich empfehle Ihnen daher, Ihre Erkenntnisse immer gleich zu Papier zu bringen. Worte dafür zu finden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, sich seiner Scham bewusst zu werden.

Notieren Sie Ihre Scham-Themen, die Ergebnisse Ihrer Selbsterforschungen und Veränderungen in Ihrem Erleben in einem Scham-Tagebuch. Betiteln Sie es mit so etwas wie »So befreie ich mich von meiner Scham« oder »Tagebuch der Selbstbefreiung«.

Eigene Scham-Themen (Teil 1)

Damit Sie Ihren Fortschritt nachvollziehen können, lade ich Sie ein, noch vor der Lektüre dieses Buchs eine kleine Bestandsaufnahme zu machen. Sie brauchen dafür nur wenige Minuten.

  1. Nehmen Sie Ihr Tagebuch hervor und schreiben Sie als Überschrift auf die Seite »Dafür schäme ich mich«.
  2. Notieren Sie darunter alles von sich,
    • womit Sie sich nicht wohlfühlen,
    • womit Sie nicht einverstanden sind,
    • was Sie anders haben wollen,
    • wofür Sie sich ablehnen oder gar hassen.
  3. Wenn Ihnen zu alldem nichts einfällt, notieren Sie das, wofür Sie andere beneiden – Nachbarn, Arbeitskollegen, Geschwister. Neid zeigt auf, inwiefern wir uns selbst nicht genügen oder inwiefern wir meinen, unserem Leben nicht zu genügen.
  4. Setzen Sie abschließend eine Zahl zwischen 1 und 10 hinter jedes dieser Themen, wobei 1 für »ein bisschen« und 10 für »sehr« steht. Damit kennzeichnen Sie, wie stark Sie sich davon eingeschränkt fühlen. Und so könnte das aussehen:
    • Ich bin zu dick … 4
    • Ich verdiene weniger als meine Kollegin auf demselben Posten … 8
    • Wenn ich spreche, stottere...
Blick ins Buch

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