2 Konventionen bestimmen unser Leben
Viele Probleme, denen wir täglich begegnen, haben eine einfache Ursache: Entfremdung durch Konventionen. Ich meine damit nicht das Postulat von Karl Marx, dass wir uns von unserer Arbeit (und damit auch uns selbst) entfremden, obwohl das sicherlich richtig ist. Doch das ist nur ein Aspekt: Der eigentliche Grund unserer Unzufriedenheit ist, dass wir uns von uns selbst, von unserem wahren Kern, entfremdet haben. Wir hören nicht mehr auf unsere Bedürfnisse. Wir leben nicht mehr im Einklang mit der Natur – was gute Gründe hat, schließlich möchte niemand bestreiten, dass isolierte Häuser, Kühlschränke und viele andere Wunder moderner Technik überaus nützlich und sinnvoll sind. Doch wir haben es auf die Spitze getrieben. Nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen das, sondern auch das Verhalten der Menschen.
Im Lauf der Evolution haben Lebewesen ihre Fähigkeit perfektioniert, sich an ihre Umgebung anzupassen. Dieser Mechanismus der Anpassung an sich ändernde Bedingungen hat über Millionen von Jahren zur Optimierung der Lebensbedingungen geführt: Tiere bekamen ein dickes Fell, um in kalten Umgebungen zu überleben, entwickelten einen Panzer gegen Feinde. Sie kamen aus dem Wasser und eroberten das Land – aus Flossen wurden Beine. Andere erhoben sich in die Lüfte und entwickelten Flügel. Manche gingen zurück ins Wasser und passten sich wieder dort an. Von Generation zu Generation veränderten sich die Merkmale einer Population und wurden weiter vererbt. Um die eigene Existenz zu sichern, mussten sich Lebewesen ständig weiterentwickeln.
Auch der Mensch entwickelte sich seit Beginn seiner Existenz, indem er sich an die Natur seiner urbanen Umgebung anpasste. Und hörte damit irgendwann auf – denn inzwischen sind wir längst die wohl erste Lebensform, die in allumfassendem Ausmaß die Umgebung an sich anpasst. Wir haben Städte errichtet, Länder erschlossen und im Zuge dessen zahlreiche Kriege geführt. Wir kommunizieren weltweit, wir reisen weltweit, und wir arbeiten weltweit. Würde man den Planeten von außen beobachten, sähe man eine beeindruckende Infrastruktur, ein offenbar funktionierendes System, das sich selbst am Leben erhält und das die Entwicklung auf Rekordgeschwindigkeit beschleunigt hat.
Der Haken: Die Anpassung an die Umgebung scheint für den Menschen nicht mehr erforderlich. Das Erschaffene ist nicht natürlich, und das spüren wir. Da wir weiterhin nach einer stimmigen Umgebung suchen, passen wir uns heute an andere, künstliche Sachen an: an Strukturen, die sich in den letzten Jahrhunderten durch uns entwickelt haben.
Wir machen, was in unseren Plänen steht. Gefühle sind dabei irrelevant, denn Pläne lassen Emotionen außer Acht.
In der Natur wachen die Lebewesen auf, wenn die Sonne aufgeht. Manche, wenn die Nacht hereinbricht oder wenn ein Feind kommt. Sie schlafen, wenn sie müde sind. Sie machen eben das, was sie fühlen, was sollten sie auch sonst tun? Wir machen, was in unseren Plänen steht. Gefühle sind dabei irrelevant, denn Pläne lassen Emotionen außer Acht. Wir werden von einem Wecker aus dem Schlaf gerissen, egal, wann wir ins Bett gegangen sind, wie unsere Tagesstimmung ist und wie müde wir sind. Und idiotischerweise stellen wir uns diesen Wecker auch noch selbst, mehr oder weniger freiwillig. Das nur ein Beispiel – und zwar eines, unter dem ich als Nachteule in der 9-to-5-Welt nun wirklich schon oft gelitten habe.
Unser Alltag findet in künstlich geschaffenen Räumen statt. Wir leben, arbeiten und fahren mit vielerlei Technik, abgeschottet gegen Wind und Wetter. Zunehmend findet unser Leben in einer digital projizierten Welt statt. Vor nicht allzu langer Zeit waren wir noch ganz und gar Naturwesen, doch davon haben wir uns weitgehend verabschiedet. In der Natursoziologie werden uns Menschen Begriffe wie »Technosaurier« zugewiesen, wir sind bis auf Ausnahmen nur noch Gäste der natürlichen Umwelt – obwohl wir von der Natur eigentlich nicht abgetrennt sein können, denn wir sind und bleiben ja Wesen der Natur. Und trotzdem leben wir größtenteils entkoppelt und entfremdet von ihr.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Das Natürlichste auf der Welt ist es, so zu sein, wie man eben ist. Aber was bedeutet das genau? Wie ist man? Für alle Lebewesen außer den Menschen ist es einfach: Ohne das Bewusstsein einer Alternative können Kühe, Hunde oder Gelbkopfschildkröten ausschließlich sie selbst sein.
Das sieht in der Realität recht simpel aus: Ein glückliches Schwein erkennt man wirklich an seinem Gesicht: Die Augen strahlen, der Blick ist aufmerksam und wach. Es darf in einer Gruppe leben, sich aussuchen, wo es fressen möchte, wo es sich hinlegen will, es darf sich wälzen, herumrennen und sich auch mal mit einem Artgenossen streiten. Auf Gut Wulksfelde in Hamburg beispielsweise sind die Schweine weder aggressiv noch depressiv: Die Hühner picken sich zufrieden aus der Wiese, worauf sie Lust haben. Die Rinder stehen auf der Weide, fressen Gras und verjagen die Fliegen. Auch Esel, Kaninchen, Meerschweinchen, Ziegen und Schafe sind einfach zufrieden, weil auf diesem Hof die Bedingungen stimmen. Sie dürfen einfach sie selbst sein und so leben, wie es ihren Bedürfnissen und ihrer Art entspricht. So einfach ist das für unsere Mitlebewesen.
Wenn diese Lebensbedingungen stimmen, kennt das Tier keine Unzufriedenheit mit sich oder mit seiner Rolle in seinem Umfeld. Mir ist bisher keine Kuh bekannt, die ihren schwarzen Fleck am Hals lieber hinten rechts hätte, auch habe ich von keinem Vogel gehört, der unzufrieden mit Form und Farbe seiner Federn wäre.
In der Natur gibt es kein zufrieden oder unzufrieden mit sich selbst. Es gibt nur richtige oder falsche Bedingungen, unter denen Tiere leben müssen. Wenn die Kuh in einen Kuhstall mit artfremden Bedingungen gestellt wird, dann ist das naturgemäß falsch. In einer Schweizer Forschungsanstalt testeten Verhaltensforscher beispielsweise, auf welcher Unterlage Rinder am liebsten ruhen, denn mehr als 16 Stunden macht eine Kuh nichts anderes als herumzuliegen und wiederzukäuen – ein herrliches Leben, wenn die »Matratze« stimmt. Sie fanden heraus, dass Rinder, die auf einem zu harten Betonboden stehen, es vermeiden, oft aufzustehen oder sich hinzulegen. Mit dem richtigen Bodenbelag bewegten sich die Tiere natürlicher, öfter und blieben insgesamt gesünder – was am Ende auch den Einsatz von Antibiotika reduzierte.24
Aber diese Zufriedenheit oder Unzufriedenheit hat ihre Ursache in den von Menschen geschaffenen Bedingungen. Nun behaupten manche, die Zufriedenheit von Tieren könne man nicht mit der von Menschen vergleichen, da Tiere gar keine Gefühle hätten. Doch das ist erwiesenermaßen Unsinn: Wer mit Tieren zusammenlebt, weiß, dass dem nicht so ist. Sogar ein Bewusstsein für sich selbst wurde inzwischen belegt, wie Wissenschaftler der University of Wisconsin-Madison herausfanden:
»Bisherige Studien per Rouge-Test hatten gegen ein Ich-Bewusstsein bei Rhesusaffen gesprochen: In Spiegelbildern schienen die Tiere eher Artgenossen als sich selbst zu erkennen. Die Videoaufnahmen des Forscherteams legen nun das Gegenteil nahe. Die Affen betrachteten im Spiegel – teils unter akrobatischen Verrenkungen – selbst Körperstellen, die sonst nicht in ihrem Blickfeld lagen. Diese Stellen berührten sie immer am eigenen Körper, nie am Spiegel.«25
Nutztierethologen in Deutschland und der Schweiz beschäftigen sich in den letzten Jahren verstärkt mit den Gefühlen von Schafen, Schweinen oder Rindern. Jede Tierart zeigt ihre Gefühle anders: Das Schwein grunzt in verschiedenen Tonlagen, dem Schaf lässt sich eher an den Ohren ablesen, wie es sich fühlt, dem Hund am Schwanz. Bei all dieser Verhaltensforschung sind aber bisher keine Zwänge bekannt, die ein Tier sich selbst auferlegt.
»Kein Tier fühlt diese Qual; alle Tiere sind vollkommen zufrieden mit dem, was sie sind. Der Mensch ist das einzige Tier, das im Innersten unzufrieden ist …«26
Der Mensch verfügt über wesentlich mehr Möglichkeiten und nutzt diese auch. Insbesondere hat er die Möglichkeit, unzufrieden zu sein, und macht davon von Herzen gern Gebrauch. Aber warum? Was hindert uns Menschen daran, einfach zu sein, wie wir sind und fühlen?
Dieses darf man nicht – jenes muss
man doch
Beginnen wir am Anfang unseres Lebens: In der Regel werden wir schon als Kleinkind daran gehindert, nach unserem inneren Antrieb zu leben. Kinder können hierzulande schwer eine der wichtigsten Triebfedern der Entwicklung ausleben: ihre Neugier. Sie können eben nicht ohne Einschränkungen ihre Umgebung entdecken und erforschen – weil aus Sicht westeuropäischer Eltern zu viele Gefahren drohen: Autos und Züge, Drogen, Entführer und Bakterien oder herunterfallende Balkone. Die Liste der Einschränkungen ist lang. »Du musst aufpassen!« Oder: »Das darfst du nicht …« So bedauerte bereits Albert Einstein, der weltberühmte Physiker: »Jedes Kind bringt eine göttliche Neugier mit, die so oft frühzeitig verkümmert.«
Ja, man beraubt Kinder unbewusst ihrer Abenteuer, Entdeckungen und Begegnungen mit der Natur. Damit hindert man sie daran, die Welt zu begreifen. Das Wort heißt ja nicht umsonst »be-greifen«. Wie soll ein Kind etwas begreifen, wenn es dies nie greifen durfte – oder fühlen, schmecken, ausprobieren. Selbstverständlich ist der Sand im städtischen Sandkasten des Kinderspielplatzes dreckig: Wahrscheinlich haben Katzen hineingepinkelt, und die waren sicher nicht die Einzigen. Auch der...