Einleitung
Die berühmten Zenturien (centuries) von Nostradamus, eine nach Hundertschaften gegliederte Sammlung von prophetischen Vierzeilern oder quatrains, ziehen sich wie ein roter Faden durch die vorliegende Untersuchung und geben Anlass, einige merkwürdige Aspekte der überlieferten Geschichte zu beleuchten. Dabei wird sich erstens zeigen, dass die bedrohlich wirkenden Prophezeiungen des provenzalischen Sehers nicht auf unsere Zeit, d.h. nicht auf unsere Gegenwart und Zukunft gemünzt sind, sondern ausnahmslos Epochen der Vergangenheit betreffen. Vielleicht werden manche enttäuscht sein zu erfahren, dass der Weltuntergang, soweit er von Nostradamus beschrieben wurde, nicht unmittelbar und auch bis auf weiteres nicht bevorsteht - allerdings dürfte die optimistische Meinung, dass uns überhaupt kein Weltuntergang bevorstehe, auch nur eine trügerische Hoffnung sein! Es ist nur so, dass Nostradamus nicht den allenfalls uns Heutigen bevorstehenden Weltuntergang beschrieben hat, sondern einen anderen, vergangenen, nämlich den, der nun schon etliche Generationen zurückliegt, und auf dessen Trümmern unsere Zivilisation steht.
Zweitens werden wir sehen, dass die uns angeblich bekannte Geschichte nicht wenige Unstimmigkeiten aufweist, die in ihrer Summe so mysteriös und unauflösbar sind, dass wir „die Geschichte“ als solches verwerfen müssen. Dass unser Blick zurück stark getrübt ist, kann viele Ursachen haben. Nicht zuletzt scheint es immer wieder kleine „Weltuntergänge“ gegeben zu haben, welche die Menschheit aus beachtlichen Zivilisationshöhen weit zurückgeworfen haben, und einhergehend mit diesen Abstürzen kollektive Traumen verursacht haben, die bis heute als Verdrängung, Angst und Irrationalität nachwirken. Ob die Menschheit vielleicht solche Zerstörungen und Umwälzungen endzeitlichen Ausmasses braucht, um sich weiter zu entwickeln, ist eine beunruhigende Frage, die sich automatisch stellt, wenn man sich einmal neutral die geschichtlichen Tatsachen vor Augen hält. Wir können aber dieses im Grunde religiöse Thema hier nicht tiefer ausloten, auch wenn es in einigen Versen von Nostradamus durchzuschimmern scheint.
Als eine kleine Elite von Historikern an der Schwelle zur Neuzeit sich daran machte, die grösstenteils verlorengegangenen oder disparat herumliegenden Fäden der überlieferten Geschichte wieder zu rekonstruieren und zusammenzuknüpfen, machte sie einige gravierende, aber leider aufgrund unzureichender menschlicher Erkenntnisfähigkeit unvermeidliche Fehler. Und kein ernstzunehmender Historiker wird noch bestreiten wollen, dass solche Fehler passiert sind; aber dieselben Historiker bestreiten vehement (falls sie nicht einfach nur schweigen), dass genau diese Fehler bis heute im konventionellen Geschichtsraster überdauert haben. Es sind diese im wahrsten Sinne des Wortes epochalen Fehler, die unser Bild der Geschichte verfälschen und verwirren, und die uns letztlich darin hindern, überhaupt ein klares Verständnis der wirklichen geschichtlichen Prozesse zu gewinnen. Insofern gebärden sich heute die meisten Historiker als verschwörerische Handlanger der Verschleierung und nicht als Fahnenträger der Aufklärung.
Was hat nun aber Nostradamus mit dieser Geschichts(ver)fälschung zu tun? Dieser angebliche Seher, der bis weit in die Neuzeit hinein bedeutende Persönlichkeiten in ihrem Denken und in ihrer Planung und damit indirekt die Weltgeschichte beeinflusste, lebte und wirkte in unmittelbarer Nähe jenes Epizentrums, wo unser modernes Bild der Geschichte „gemacht“ wurde, nämlich im Umfeld der Gelehrtenfamilie Scaliger. Die Hypothese, dass sich in Nostradamus‘ Schaffen noch Spuren dieses geschichtlichen Wirkens und Verwirrens auffinden lassen, war daher nicht allzu gewagt und erwies sich tatsächlich als sehr fruchtbar. Nostradamus raunt uns aus dem Dunkel der Zeiten die Daten und Stichworte zu, die wir dann in ein neues Licht, in andere chronologische Zusammenhänge stellen können.
Es müssen aber zunächst zwei wichtige Begriffe der Chronologie geklärt werden, die uns in diesem Buch ständig begleiten werden: es sind dies die Epoche und die Ära. In der Fachsprache benennt die Epoche den Beginn eines neuen Zeitalters (d.h. einer neuen Zeitrechnung), während die Ära das Zeitalter selbst bezeichnet. In der Umgangssprache werden beide Begriffe meist im Sinne eines „geschichtlichen Zeitabschnitts“ gebraucht. Der Leser wird in den folgenden Kapiteln immer wieder mit verschiedenen Epochen bzw. Ären konfrontiert werden, von denen er womöglich noch nie gehört hat. Den meisten dürfte immerhin bekannt sein, dass unsere gegenwärtige Zeitrechnung auf einer Epoche basiert, die sich vom Datum der Geburt Christi herleitet. Aber leider weiss niemand, wann genau diese epochale Niederkunft stattgefunden hat und ob überhaupt.
Tatsächlich ist es so, dass unsere Zivilisation, die Atome spalten und Raketen ins All schiessen kann, mit ihrer Zeitrechnung auf unsicherem Grund steht, nämlich auf jenem Fundament, das durch apokalyptische Spekulationen antik-mittelalterlicher Mönche gelegt wurde. Um aber von dieser peniblen Tatsache abzulenken, wurden Zeitrechnung und Kalenderwesen schon vor Jahrzehnten durch internationale Verträge säkularisiert, d.h. aus der Obhut der Kirche genommen und den für das Messwesen zuständigen staatlichen Institutionen unterstellt. Es gab damals in den 1930er Jahren sogar Ansätze zu einer umfassenden Kalenderreform, der sich auch der Vatikan nicht verwehrt hätte. Doch es kam bekanntlich anders, und unterdessen sind kalendarische Fragen und Probleme aus der öffentlichen Diskussion fast ganz verschwunden. Es lohnt sich aber, hier wieder einmal etwas genauer hinzuschauen!
Der Fokus unserer Untersuchung beschränkt sich auf die abendländische Geschichte, weil Nostradamus, wie sich zeigen wird, mit seinen Visionen diesen Erdkreis, der Europa und die das Mittelmeer angrenzenden Gebiete umfasste, nicht verlässt. Die Historiker kennen verschiedene Epochen, die unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurückreichen. Wir werden hauptsächlich mit den folgenden Ären und Epochen zu tun haben:
Abkürzung | Epochenbezeichnung | Nominaljahr per 1.1.1600 CHR |
NPR | neupersisch, ab Dschelaleddin | 521 |
APR | altpersisch, ab Yazdegerd | 969 |
MOH | mohammedanisch, ab Hedschra | 1008 |
CHR | christlich, ab Christi Geburt | 1600 |
ACT | ab Seeschlacht von Actium | 1629 |
SLK | ab Seleukos Nikator | 1911 |
URB | ab Gründung der Stadt (urbe) | 2352 |
OLY | ab erster Olympiade | 2375 |
ORB | ab Erschaffung der Welt (orbe) | 5549 |
BYZ | Byzantinische Weltära | 7108 |
Es handelt sich hier um eine Auswahl der für die Geschichtsschreibung wichtigsten Epochen, wobei ich mir die Freiheit genommen habe, die Abkürzungen nach einem formal einheitlichen Schema neu zu gestalten. Jahreszahlen ohne nähere Epochenbezeichnung verstehen sich implizit als „CHR-Datierung“, d.h. „nach Christi Geburt“ im modernen Sinn. Die relative Datierung der Epochenjahre stützt sich im wesentlichen auf das Schema von Scaliger (+1609) und - darauf aufbauend - von Calvisius (+1615), der die erste „Weltgeschichte“ schrieb, die nach einem durchgängigen chronologischen System konstruiert war, das mehr als nur eine Handvoll antiker Ären umfasste. Es kann hier leichte Abweichungen zu anderen, neueren Datierungen geben, was aber ohne Belang ist,...