Einleitung:
Die Erschütterung
Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit, sagt man. Das lässt sich ebenso über den Terror sagen. Die Täter verbreiten Propaganda, ihre Helfer verbreiten Lügen. Und die Sicherheitsbehörden können versuchen, ihr Versagen zu verschleiern und zu vertuschen. Das wiederum beflügelt Verschwörungstheoretiker, die eifrig an Legenden stricken. So entsteht ein Wust aus Information und Desinformation, aus Fakten und Fiktionen. Die Suche nach der Wahrheit ist mühsam und langwierig.
So ist es auch und ganz besonders im Falle des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Mehr als 13 Jahre lang lebten die Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe unter falschen Namen mitten in Deutschland. Der NSU ermordete zehn Menschen, verübte mindestens drei Sprengstoffanschläge, beging 15 Raubüberfälle. Eher zufällig kam die Polizei den Tätern auf die Spur, am 4. November 2011 fand sie die Leichen von Mundlos und Böhnhardt in einem Wohnmobil in Eisenach. Beate Zschäpe steckte daraufhin die Zwickauer Wohnung des Trios in Brand, vier Tage später stellte sie sich den Behörden. Bekennervideos tauchten auf und versetzten Deutschland in einen Schockzustand. Erstmals erfuhr die Öffentlichkeit von der Existenz des NSU – und erkannte ein beispielloses Versagen des Staates.
Fünf Chefs von Verfassungsschutzämtern mussten im Zuge der Aufklärung des NSU-Komplexes zurücktreten. Neun Parlamente – der Bundestag und die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen – haben Untersuchungsausschüsse eingerichtet, teilweise über zwei Legislaturperioden hinweg. Hunderte Zeugen wurden befragt, Hunderttausende Dokumente ausgewertet. Zahlreiche Kommissionen und Sonderermittler sollten Licht ins Dunkel bringen, parallel zu einem der größten und längsten Strafverfahren, die es in der Bundesrepublik bisher gegeben hat.
Mehr als fünf quälende Jahre hat das Oberlandesgericht München versucht, das Geschehene juristisch aufzuarbeiten. Es hat mehr als 500 Zeugen gehört und mehr als 50 Sachverständige. Fast 100 Nebenkläger und 14 Verteidiger waren an dem Prozess beteiligt. Am Ende stand ein Urteil über fünf Angeklagte, aber kein Urteil über den gesamten NSU-Komplex. Die individuelle Schuld von Beate Zschäpe und vier Mitangeklagten ist die eine Seite, das kollektive Scheitern der Gesellschaft und des Staates die andere. Dass die Öffentlichkeit lange Zeit nicht einmal von der Existenz der Terrorgruppe wusste, lässt die Verbrechen des NSU noch perfider wirken. Was die Neonazis angerichtet haben, war auch im Gericht immer wieder zu spüren.
Den trauernden Vater hält es nicht mehr auf dem Zeugenstuhl. Er springt auf und ruft in den Saal: »Warum haben sie mein Lämmchen getötet?« Er weint um seinen Sohn. Der Vater fand den blutigen Körper und hielt ihn in seinen Armen. Jetzt wirft er sich auf den Boden. Er will zeigen, wie sein niedergeschossener Junge gelegen hat. Die Richter und die Angeklagten blicken auf einen alten Mann, der am Boden liegt.
An einem anderen Tag im NSU-Prozess soll eine Witwe über ihre Familie sprechen, soll erzählen, wie es ihr ergangen ist nach dem Mord an ihrem Mann. Gereizt gibt sie die Frage an den Richter zurück: »Wie soll es sein?« Wie soll es ihr schon gehen? Ihr Mann ist umgebracht worden, sein Blut haben die Angehörigen selbst wegputzen müssen.
Ein Polizist, der nach einem Schuss in den Kopf wie durch ein Wunder überlebte, berichtet von seiner Krankenakte. Ganz gesund wird er nie mehr werden. Tapfer hat er sich ins Leben zurückgekämpft, tapfer kämpft er sich nun durch seine Aussage vor Gericht. Wie es in seinem Inneren aussieht, kann man erahnen, als er sagt: »Mein Kindertraum, Polizist zu sein, ist komplett zerstört.«
Eine Bankkauffrau, der die Terroristen eine Pistole in die Seite drückten, als sie eine Sparkasse ausraubten, kommt ins Stocken. Sie muss ihre Aussage unterbrechen. Die Erinnerungen überwältigen sie, sie kann nicht mehr. Mit einem Taschentuch läuft sie hinaus. Ihre Stelle bei der Bank hat sie aufgegeben.
An einem anderen Tag tritt eine junge Frau auf. Sie hat ein hübsches Gesicht. Später werden Fotos an die Wände des Gerichtssaals projiziert, auf denen ist dieses Gesicht ein unförmiger, blutiger Klumpen. Das war nach dem Bombenanschlag auf den Laden der Eltern. Spuren der Verletzung sind, wenn man genau hinsieht, geblieben. Es stört sie, sagt die junge Frau, dass sie oft gefragt wird: »Was ist denn mit dir passiert, was hast du gemacht?« Sie hatte gar nichts gemacht. Sie stand kurz vor dem Abitur, sie wollte zur Schule gehen und ahnte nichts Böses, als der Sprengsatz hochging.
Jahrelang wussten die Familien der Opfer nicht, wer für die Taten verantwortlich war. Jahrelang wurden sie scheel angeschaut und von der Polizei behandelt wie Verdächtige. Auch jetzt, mit dem Wissen über den NSU, bleibt die Unsicherheit groß. Wie kamen die Terroristen auf die Tatorte? Gab es noch mehr Täter und Helfer? Warum ist die Polizei dem NSU nicht auf die Spur gekommen?
Eine Mutter sagt, seit dem Mord an ihrem Sohn finde sie nicht mehr zur Ruhe. Seit Jahren könne sie nachts nur wenige Stunden schlafen. »Ich denke immer: Wie konnte das geschehen?«[1]
Wie war es möglich, dass die Neonazis untertauchen und ungehindert rauben und morden konnten? Darauf hat auch das Strafverfahren in München keine befriedigende, abschließende Antwort gefunden. Die Richter sehen in Zschäpe eine Mittäterin an allen NSU-Verbrechen, die Beteuerungen, sie habe mit den Anschlägen nichts zu tun gehabt und davon stets erst hinterher erfahren, glaubten sie ihr nicht. Die Richter halten Zschäpe für das dritte NSU-Mitglied neben Mundlos und Böhnhardt und die anderen Angeklagten für Unterstützer dieser terroristischen Vereinigung.[2] Die lange Haftstrafe für Zschäpe, die das Urteil vorsieht, kann für die Familien der Opfer und für alle, die eine Aufklärung des NSU-Komplexes wünschen, eine Genugtuung sein. Doch in diesem Fall geht es um mehr als um die individuelle Schuld Zschäpes und der vier verurteilten NSU-Unterstützer.
Der NSU hatte weitere Helfer. Ihre Taten sind zum Teil verjährt, zum Teil schwer nachweisbar. Wie groß das Netz der Unterstützer oder Mittäter war, darüber wird weiter diskutiert. Und auch über die Rolle des Staates, seiner Behörden, seiner Agenten und Informanten. Mit dieser Seite des NSU-Komplexes haben sich in den vergangenen Jahren die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und etliche journalistische Rechercheprojekte beschäftigt. Das Urteil, das sich daraus bilden lässt, ist ernüchternd: Ignoranz und Inkompetenz auf allen Ebenen der Sicherheitsbehörden. Aus Sicht vieler Kritiker ist das noch zu milde formuliert. Wohin man blickt: fatale Fehler. Von einem »Fiasko« und einem »einzigen Desaster« sprach der erste NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen.[3]
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Verbrechen des NSU als Anschlag auf die gesamte Gesellschaft bezeichnet. »Sie sind eine Schande für unser Land.«[4] Sie sind eine Schande nicht nur, weil die Terroristen die Werte des Grundgesetzes verhöhnt haben. Sie sind auch deshalb eine Schande, weil es einen Kollaps der Sicherheit gab. Die Behörden befanden sich in unheimlich schlechter Verfassung. Polizei und Verfassungsschutz haben es den Tätern viel zu leicht gemacht, abzutauchen und in aller Ruhe ihre Verbrechen zu planen. Das ist selbst dann schwer zu verstehen und kaum zu verzeihen, wenn man keine Belege dafür sieht, dass es mit Absicht geschah und eine schützende Hand des Staates den NSU gezielt abschirmte.
Die Kette von Versäumnissen und falschen Entscheidungen der Behörden ist so lang, dass für viele ein »Verdacht gezielter Sabotage« nicht fernliegt.[5] Das Verstörende ist, dass solche Vorwürfe und Verdächtigungen oft sogar aus dem Sicherheitsapparat selbst kommen. Die Mitarbeiter in den verschiedenen Ämtern trauen sich gegenseitig nicht über den Weg. Sie belauern und blockieren sich. Sie werfen sich gegenseitig vor, unsauber zu arbeiten oder Böses im Schilde zu führen. Schon bei der Fahndung nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, den untergetauchten Neonazis aus Jena, kamen sich die Behörden gegenseitig in die Quere und brachten weder allein noch gemeinsam etwas zustande. Später, als der NSU viele Male zuschlug, stocherten andere Beamte in falschem Gelände herum. Statt den Tätern auf die Spur zu kommen, misstraute die Polizei den Opfern und deren Angehörigen.
Heinz Fromm, lange Zeit Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, hat gesagt, man habe die Terroristen nicht verstanden: »Wir haben die Dimension ihres Hasses ebenso unterschätzt wie ihren Willen zur Tat.« In den Behörden habe man sich einfach nicht vorstellen können, dass Neonazis systematisch Exekutionen ausführen. »Dabei hätte man es durchaus besser wissen können«, sagte Fromm. »Schließlich kennen wir die historischen Vorbilder dieser Leute.«[6] Er meinte die Nationalsozialisten und deren Mordmaschinerie.
Wo war die Polizei, als man sie brauchte?
Im Sommer des Jahres 2006 schieben viele Polizisten Überstunden und sichern die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Zehntausende Beamte sind im Einsatz, scheinbar haben sie alles im Griff. Auf den Straßen herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die Fans aus aller Welt bereiten kaum Probleme, die Deutschen feiern mit ihnen ein großes, friedliches Fest. »Die Welt zu Gast bei Freunden« lautet...