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E-Book

Nüchtern

Über das Trinken und das Glück

AutorDaniel Schreiber
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783446246997
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Lange Zeit gehörte das Trinken so selbstverständlich zu Daniel Schreibers Leben wie die Arbeit. Manchmal fragte er sich, ob er nicht dabei war, eine Schwelle zu übertreten, doch meistens war die Rechtfertigung so griffbereit wie das nächste Glas Wein. Bis ihm irgendwann klar wurde, dass er längst dabei war, sein Leben zu zerstören - und sich Hilfe suchte. Mit großer Aufrichtigkeit und literarischer Kraft erzählt Schreiber von den Mechanismen der Selbsttäuschung, die es so vielen Menschen erlauben, ihr Alkoholproblem zu ignorieren. Und er fragt, warum sich eine Gesellschaft eine Droge gestattet und dann diejenigen stigmatisiert, die damit nicht umgehen können.

Daniel Schreiber, 1977 geboren, ist Autor der Susan-Sontag-Biografie Geist und Glamour (2007) sowie der hochgelobten und vielgelesenen Essays Nüchtern (2014) und Zuhause (2017). Er lebt in Berlin. Auf Instagram: @thedanielschreiber

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Leseprobe

ALS ALLES BEGANN


Es ist immer einfacher, sich an den Anfang einer Liebe zu erinnern als an ihr Ende. Ich kann noch mit hundertprozentiger Genauigkeit das Gefühl jener Zeit in mir hervorrufen, als das Trinken zu einem festen Bestandteil meines Lebens wurde, zu einem unverrückbaren, beglückenden Bestandteil. Es war in New York, in Park Slope, um genau zu sein, einem malerischen Stadtviertel in Brooklyn, dessen Straßen mit hübschen Brownstone-Häusern und mit um die Jahrhundertwende gepflanzten Ginkgo-Bäumen gesäumt sind und in dem man die Sonntagnachmittage mit Kaffeebechern in der Hand und einem Hund an der Leine im weitläufigen Prospect Park verbringt. Doch im Grunde hat diese Geschichte überhaupt nichts mit New York zu tun. Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte, die sich so oder so ähnlich auch an jedem anderen Ort der Welt abspielen könnte, in London, Barcelona oder Tel Aviv, in Dresden, Bamberg oder Offenbach. In Berlin sowieso. Suchen Sie sich einen Ort aus, ersetzen Sie New York durch die Stadt, in der Sie gerade leben, oder durch einen Ort, an den Sie sich besonders gerne zurückerinnern. Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Walnussbrot aufschneiden, einen provenzalischen Ziegenkäse aus dem Einschlagpapier nehmen, ein paar Muskattrauben dazulegen und sich einen kalifornischen Pinot Noir ins Glas gießen. Wie Sie das Glas zum Mund führen, das weiche Aroma einatmen, einen Schluck nehmen und kurz darauf spüren, wie jenes warme Gefühl der Entspannung durch Ihren Körper fließt. Wie Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin anlächeln, wenn Sie das zweite Glas hinüberreichen. Wie die schiefen Zwischentöne im Zusammenleben der vergangenen Tage, die beiderseitig unausgesprochenen Unzufriedenheiten und bösen Vorahnungen wieder leiser werden. Wie Sie wissen, dass für die nächsten Stunden das Chaos da draußen und auch das in Ihnen weitgehend in den Hintergrund rücken wird. Wie Sie eine Zufriedenheit spüren, die sich ein bisschen wie Glück anfühlt.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe immer gerne getrunken. Alleine und in Gesellschaft. In Bars und auf dem heimischen Sofa. Am Wochenende und unter der Woche. Als Student hatte ich die Partys gefeiert, die alle feierten, die Drogen genommen, die alle nahmen, die verkaterten Vormittage, Affären und Beziehungen durchlebt, die man in dem Alter meistens durchlebt. Das Trinken war dabei stets willkommen, es wirkte wie eines der selbstverständlichen Rituale des Heranwachsens, einer Zeit, in der man imstande ist, morgens in einer Bar glücklich die Sonne aufgehen zu sehen, um dann allein oder zu zweit ohne schlechtes Gewissen schlafen zu gehen. Weil man noch so jung ist und so viel Zeit hat. Weil alles, was man macht, noch nicht so richtig zu zählen scheint. Weil das Leben, auch wenn man es selbst gar nicht so sagen würde, noch in seinem vollen Umfang vor einem liegt und darauf wartet, gelebt zu werden. Weil jede Entscheidung noch so wirkt, als wäre sie ganz einfach wieder rückgängig zu machen. Weil man erst sehr viel später realisieren wird, dass alles, dass jede einzelne Minute gezählt hat. Und dass jede einzelne dieser Entscheidungen mehr oder weniger bedeutende Konsequenzen nach sich zog.

An die Anfänge von großen Lieben – und wie für fast jeden Trinker war das Trinken für mich eine große Liebe, eine ganz große sogar – erinnert man sich vor allem deshalb besser als an ihre Enden, weil sie so viel schöner sind. Die Enden von wichtigen Beziehungen ziehen sich lange hin. Man ringt so sehr und so lange um ihren Erhalt, dass man irgendwann nicht mehr weiß, wann die Liebe zu einem Kampf wurde. Die Anfänge hingegen sind meistens voller Versprechen, voll schöner Projektionen. Tatsächlich konnte ich mir damals, mit Mitte zwanzig in Park Slope, vorstellen, noch lange so zu leben. Mit meinem damaligen Partner, unseren Freunden, meinen verschiedenen Jobs – und den Flaschen kalifornischen Pinot Noirs, deutschen Rieslings, französischen Bordeauxs, australischen Cabernets oder spanischen Cavas, die ich nach eingehender Beratung in einem gut sortierten Weinladen in unserer Nachbarschaft erstand. Mit dem Gefühl der Balance, die das Trinken mir vermittelte, dem sanften Vergessen, das es nach anstrengenden Arbeitstagen förderte, mit dem Eindruck eines sinnlichen Puffers zu dieser Welt, den es bei mir hinterließ. Damit, dass es jene Stimmen in meinem Kopf zu beruhigen schien, die sich von Zeit zu Zeit lautstark meldeten, um mich daran zu erinnern, dass bei weitem nicht alles so rosig war, wie ich es wollte. Es war gar nicht so, dass wir exzessiv tranken, mein Partner und ich. Obwohl wir an den Wochenenden oft ausschweifend feierten, blieben wir lange bei der gemeinsamen abendlichen Flasche, und das noch nicht einmal jeden Tag. Die Wahrheit aber war, dass ich mir schon damals das Leben, das wir uns eingerichtet hatten, nicht ohne diesen Wein vorstellen konnte. Eigentlich hatte ich schon damals das Gefühl, dass dieses erwachsene Leben nur einen Sinn hat, wenn man auch trinkt.

Vielleicht erinnert man sich an die Enden großer Lieben schließlich auch schlechter, weil sie meistens schon zu enden beginnen, während sie noch anfangen. Der Schlusspunkt meiner Liebe zum Trinken hat sogar ein genaues Datum. Es ist der Tag, seit dem ich nicht mehr trinke. Keine Wodka Tonics, keinen Merlot, kein Glas Sekt, nicht einmal einen Tropfen Bier. Doch das Beziehungsende begann schon lange vor diesem Schlusspunkt, es begann damals in Park Slope. Wäre mir jene halbe Flasche Wein am Abend nicht so wichtig gewesen und wäre es bei ihr geblieben, würde ich mit großer Sicherheit heute noch trinken.

Hört man Menschen in Deutschland über Alkoholkrankheit sprechen oder liest man Bücher darüber, wird man sich meistens auch dann nicht als abhängig definieren können, wenn man sich morgens zur Beruhigung einen Schuss Gin ins Müsli kippt. Das einschlägige Vokabular ist meist so düster, pathologisch und humorlos, dass es nichts mit einem zu tun zu haben scheint. Die bedrohlichen Alkoholismus-Szenarien, denen man bei uns immer wieder begegnet, sind nur schwer mit der Lebensrealität des Trinkenden in Einklang zu bringen. Sehr lange funktioniert das Trinken wunderbar. Sehr lange macht es einen glücklich, glaubt man, oder zumindest hilft es dabei, halbwegs unbeschädigt durch das Leben zu kommen.

Auch fällt es einem gar nicht auf, dass man im Laufe der Zeit einfach immer mehr trinkt. Irgendwann wird aus der halben Flasche eine ganze, dann möchte man sich aber doch mäßigen und trinkt eine Weile wieder nur eine halbe. Nur um schließlich auch die Flasche am Abend als selbstverständlich anzusehen. Man legt Trinkpausen ein, eine Woche hier, zwei Wochen da, manchmal auch sechs Wochen zur Fastenzeit. Man bringt sich dazu, nicht mehr jeden Tag zu trinken, sondern bloß vier Tage die Woche, nur um sich etwas später nicht mehr daran erinnern zu können, je eine solche Entscheidung getroffen zu haben. Man stellt fest, dass man keinen Rotwein mehr verträgt, und trinkt eine Zeitlang nur noch Bier oder Champagner. Man trinkt zwischen zwei Gläsern Wein ein Glas Wasser. Man trinkt nicht mehr zu Hause, sondern nur noch unterwegs, auch wenn das heißt, dass man einfach mehr unterwegs ist. Man trinkt unter der Woche gar nichts mehr. Man trinkt nicht mehr mit bestimmten Leuten oder ruft sie zumindest nicht mehr nach einer gewissen Uhrzeit an. Man gibt das Rauchen auf, weil dies doch das eigentliche Problem ist, und fängt wieder damit an. Man belegt einen Yogakurs, der einem für zwei Monate hilft und den man dann nicht mehr besucht. Man arbeitet zu viel, ist sich sicher, dass nun genau dies das Problem ist, und versucht, weniger zu arbeiten und pünktlich Feierabend zu machen. Man trennt sich von dem Partner, mit dem man nicht sehr glücklich war, nur um sich ein halbes Jahr später wieder in einer Beziehung zu befinden, von der man schon ahnt, dass sie sich bald genauso bedrückend anfühlen wird wie die alte. Man ist allein, glaubt, dass darin das Problem liegt, und fügt sich zögerlich und unzufrieden in das Schicksal seiner vermeintlichen Beziehungsunfähigkeit. Man isst zu viel oder zu wenig, nimmt viel zu und viel wieder ab, ohne dass es sich besser oder schlechter anfühlt. Man geht jede Woche dreimal zur Psychoanalyse, redet über seine Herkunft, über seine Gefühle der Hoffnungslosigkeit, und die Analyse hilft, wenigstens ein bisschen, aber insgeheim weiß man, dass man dieser Verbesserung nicht trauen kann, dass es da noch etwas gibt, etwas, das man sich nicht anschauen will.

All das ist ein schleichender Prozess, mit Tiefen in den schwierigen Phasen, die das Leben so hat, und Höhen, wenn es einem besser geht. Irgendwann werden die schwierigen Phasen allerdings immer länger und intensiver. Und der eigene Kopf ist ziemlich gut darin, nicht zu sehen, dass das etwas mit dem Alkohol zu tun hat. Die Rolle, die dieser im Leben spielt, hinterfragt man nur selten. Im Gegenteil: Je länger man trinkt, desto selbstverständlicher erscheint es auch, weiter zu trinken. Eines haben alle Phasen, alle Kontrollversuche gemeinsam: Man trinkt.

Auch als ich längst wieder in Berlin wohnte, meine Dachterrasse mit verschiedenen Hortensiensorten bepflanzte, ein Buch geschrieben hatte, bei einer Zeitschrift arbeitete und viel reiste, trank ich. Äußerlich hatte sich mein ganzes Leben verändert, nur der Alkohol war geblieben. Schlecht gekühltes Bier auf Ausstellungseröffnungen. Supermarktwein auf Lesungen. Moët Chandon auf Messeempfängen in Basel. Raki auf Biennalen in Istanbul. Bollinger im Park Hyatt in Peking. Tequila Shots in heruntergekommenen New Yorker Bars. Wodka Tonics beim Ausgehen an den Wochenenden in Berlin. Mehr oder weniger sorgfältig ausgesuchter Spät- oder Grauburgunder, je nach Jahreszeit, alleine zu Hause, nach der Arbeit.

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