I Meine Familie und ich
Mein Vater wurde 1892 in Tilsit geboren und starb 1972, also mit 80 Jahren. Er war ein starker Raucher und liebte Bohnenkaffee. Ich habe meinen Vater Leo kaum krank erlebt. Er hatte Kehlkopfkrebs, was meine Mutter uns Kindern verschwieg, und starb an kleinen Herzattacken, vermutlich aus Angst. Meine Mutter hatte ihn noch mal aus dem Krankenhaus nach Hause geholt. Man hat ihn auf- und wieder zugemacht. Er muss gehört haben, was sich die Ärzte bei der Operation erzählt haben.
Leo war ungläubig und hat uns Kindern den Religionsunterricht in der Schule verboten. Ich habe ihn aber trotzdem besucht, weil meine Lehrerin so schön erzählt hat. Getauft sind wir vier Geschwister alle nicht. Meine Mutter war evangelisch. Den Tod meines Vaters erfuhr ich unterwegs. Ich war zu der Zeit am Staatstheater Stuttgart engagiert und hatte zu Hause angerufen, um mich zu erkundigen, wie es meinem Vater geht. Ich fuhr danach weiter im Auto und hätte fast einen Unfall gebaut. Ich habe sehr geweint. Der Polizist hatte Verständnis.
Die Beerdigungsfeier wurde vom Ohnsorg-Theater ausgerichtet, an dem mein Vater seit 40 Jahren als Inspizient und Schauspieler angestellt war. Er hatte das Theater schon früh nach dem Krieg mit Richard Ohnsorg aufgebaut. Anfangs war das eine Art Kabarettbühne. Später übernahm Hans Mahler die Intendanz. Meine Mutter war bei der Beerdigungsfeier nicht anwesend. Mein Vater wurde verbrannt, und ich stand mit meinen Geschwistern vor dem Krematorium des Ohlsdorfer Friedhofs. Wir sahen die kleine weiße kringelige Rauchwolke aus dem Schornstein aufsteigen. Seine Urne, die meine Mutter einige Zeit bei sich zu Hause unterm Bett hatte, wurde später auf dem kleinen Friedhof gegenüber ihrer letzten Wohnung in Hamburg-Ottensen beigesetzt.
Meine Eltern Johanna und Leo Hoger
Mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester Liselotte
Meine Eltern waren nicht in der NSDAP. Wie ich von meinem Bruder erfahren habe, sympathisierte mein Vater mit den Kommunisten. Leo war klein, kurzsichtig, hatte schwarze Haare und wurde in der Sonne schnell braun. Seine Eltern haben wir nicht gekannt. In der Familie kursieren mehrere Gerüchte. Eines davon war, seine Mutter sei hartherzig gewesen und sein Vater ein fahrender Musiker. Nachforschungen meiner Schwester haben zu keinem Ergebnis geführt. Mein Vater hatte noch zwei Brüder. Die Ehe mit meiner Mutter war seine zweite. Ich habe zwei Stiefgeschwister.
Im Zweiten Weltkrieg war mein Vater als «Weißer Jahrgang» Reservist in Munsterlager bei Hamburg. Er musste nicht an die Front.
Einige Jahre vor seinem Tod bin ich mit ihm im Auto nach Verdun gefahren, wo er als junger Mann gekämpft hatte. Es wurde ihm eine Hand verstümmelt, vielleicht hat das Lazarett ihm das Leben gerettet. Er hat nie wirklich darüber gesprochen, auch nicht auf dieser Reise, bei der meine Tochter Nina dabei war, und wir haben auch nie nachgefragt. Ich bin mit ihm die kilometerlangen Felder mit den Kreuzen der unbekannten Gefallenen abgefahren. Im Museum mit abgeschossenen kleineren Flugzeugen standen sich Franzosen und Deutsche mehr oder weniger stumm gegenüber. Mein Vater sagte immer nur jajaja. Ich muss wohl eine große Scheu gehabt haben. Erklären kann ich mir das alles nicht. Leider ist es zu spät, ich kann ihn nicht mehr fragen.
***
Meine Tochter Nina hat über die Reise nach Verdun einen Text für dieses Buch geschrieben:
«Ich war ungefähr neun Jahre alt, als meine Mutter, mein Opa und ich nach Verdun gefahren sind. In einem R4. Zu der Zeit war er, glaube ich mich zu erinnern, weiß. Meine Mutter hatte auch einmal einen hellgrünen R4, immer mit aufklappbarem Verdeck. Ich habe dieses Auto geliebt und damit auch meine ersten Fahrstunden gehabt. Auf den Nebenwegen auf Sylt. Mit Knüppelschaltung, immer an den Kühen vorbei.
Warum wir nach Verdun gefahren sind, weiß ich nicht. Auf jeden Fall sind wir auf dem Rückweg zu meiner Tante (der älteren Schwester meiner Mutter) gefahren, die zwischen Mannheim und Heidelberg wohnte.
Ich wusste nichts von Verdun – was für eine schreckliche Schlacht im Ersten Weltkrieg dort stattgefunden hat. Und schon gar nicht ahnte ich, dass mein Opa dort gekämpft haben muss. Meinem Opa fehlten mehrere Finger. Die hat er im Ersten Weltkrieg verloren (das hab ich irgendwann mal aufgeschnappt), warum und wo – auch das wusste ich nicht.
Vielleicht war es als Kind nicht wichtig für mich. Wichtig war, dass Opa einfach nur da war. Und zwar immer. Er hat mit mir gespielt, zum Beispiel Kinderpost. Stundenlang habe ich Telegramme und Briefe entgegengenommen, und mein Opa war nie ungeduldig oder streng. Er war immer da, hat mit mir die Eisenbahn im großen Wohnzimmer aufgebaut und im Keller einen Schrank für meine Legosteine gezimmert.
Und dann waren wir in Verdun. Auf der blutgetränkten Erde standen Hunderte, nein Tausende von weißen Kreuzen. Dieses Bild hat sich in meine Erinnerung eingebrannt. Und dann mein Opa. Er lief wie wahnsinnig geworden zwischen den Kreuzen hin und her. Suchte er Gräber von seinen Kameraden, seinen Freunden? Ich sehe ihn immer nur zwischen diesen Kreuzen laufen. Stumm.
Was meine Mutter getan hat, ich kann mich nicht erinnern, was ich getan habe, außer zugucken, ich kann mich nicht erinnern. Wieso kann ich mich nur an dieses Bild von meinem Opa erinnern? Ich versuche seit Wochen, diese Reise zu rekapitulieren, aber es bleibt nur dieses Bild. Haben wir gesprochen? Haben wir das Museum besucht? Waren wir essen? Haben wir geweint?
Dann sitzen wir wieder im R4 und fahren zu meiner Tante mit ihren fünf Kindern. Ich sitze auf der Rückbank, meine Mutter fährt, meine Mutter fährt immer, selbst heute ist sie eine schlechte Beifahrerin. Aber hatte Opa überhaupt einen Führerschein? Haben wir vielleicht Elvis im Radio gehört?
Ich sitze also hinten und versuche meinen Opa zu zeichnen, im Profil. Ich habe bestimmt Dutzende von Zeichnungen gemacht. Na ja Zeichnungen. Allein die Nase hinzubekommen, dass sie wie eine Nase aussieht, war schon schwer genug. Aber egal. Diese Zeichnungen habe ich dann meiner Cousine, die ein Jahr älter ist als ich, gezeigt, nicht aus Angabe, sondern aus Stolz. Meine Cousine hat die Blätter in die Hand genommen und zerrissen. Ich war wie gelähmt, und dieser kleine Vorfall hat mein Verhältnis zu ihr nachhaltig gestört. Aus ganz anderen Gründen konnten wir das nie klären.
Das bleibt von dieser Reise: Mein Opa, der zwischen Gräbern hin und her läuft, und meine Cousine, die meine zu Papier gebrachte Erinnerung zerreißt.»
***
Der Mittelpunkt unserer Familie war zweifellos meine Mutter, sie war der wärmende Kachelofen. Wenn ich aus der Schule kam, war mein erster Satz: «Mama, wo bist du?» Meine Mutter liebte ihre Kinder und kämpfte für sie, wenn nötig, wie eine Löwin. Mein Vater mimte mehr seine Strenge. Er ging morgens zu den Proben ins Theater und abends zu den Vorstellungen. Meine Mutter war zu Hause, besorgte den Haushalt. Nähte für andere Leute, manchmal im Akkord für eine Firma, fuhr mit ihrem alten Fahrrad Hamstern bei den Bauern und kam bepackt zurück. Zwischendurch fütterte sie ihre Kinder. Zusammen an einem Tisch saßen wir selten, weil alle zu anderen Zeiten eintrudelten. Hund und Katze wurden auch versorgt, sie bekamen meistens, was von unserem Essen übrig blieb. Ein Fischkopf wurde zerrupft, oder für den Hund fiel ein Knochen ab.
Weihnachten war ein großes Fest. Da gab es einen gedeckten Tisch mit Gläsern, und es gab einen großen Tannenbaum bis zur Decke, geschmückt von uns Kindern mit Lametta und Zuckerkringeln und Kerzen natürlich. Oft eine Gans, die meine Mutter in ihrem Heimatort Himmelpforten von Bauern, sie kannte ja mehrere, erstanden hatte. Die Gans wurde von ihr gerupft, abgesengelt und ausgenommen, dann gefüllt mit Äpfeln und getrockneten Pflaumen. Ein Stückchen gebratene Gänseleber gab es manchmal auch schnell zwischendurch.
Meine Mutter konnte gut kochen, selbst ihre «Armen Ritter», Weißbrot gebraten und mit Zucker bestreut, schmeckten unvergleichlich. Noch heute sind bestimmte Gerichte, die sie kochte, meine Lieblingsgerichte – zum Beispiel Birnen, Bohnen und Speck, Kohlrouladen, gekochter Schellfisch mit Kartoffelmus, Grünkohl dreimal aufgewärmt, selbstgemachte Rote Grütze mit Milch. Und Hühnersuppe mit einem großen Huhn vom Bauernhof.
Auch ihre Torte zum Kindergeburtstag, nicht teuer, kann ich empfehlen: Einen doppelten Biskuittortenboden zweimal durchschneiden, auf dem unteren Boden eine Schicht Vanillepudding verstreichen, zudecken mit dem zweiten Tortenzwischenstück, darauf eingemachte Erdbeeren oder anderes eingekochtes Obst, wenn vorhanden Cognac oder Likör drüberkippen, nicht zu viel natürlich, schön durchsupschen lassen, den Tortendeckel zuoberst aufsetzen und mit viel Schlagsahne abdecken, zuletzt mit Schokoladenkrümeln den Namen draufstreuen.
Alles, was meine Mutter kochte, schmeckte. Nur Reis mit Zimt und Zucker mochte ich nie. Der Topf wurde mit Zeitungspapier abgedeckt und ins Bett gestellt, damit der Reis aufquillt. Einmal war meine Mutter nicht da und hatte meinem Vater aufgetragen, mir Hagebuttensuppe, von ihr vorbereitet, zu essen zu geben. Die fand ich eklig und habe mich geweigert. Mein Vater hat mich gezwungen. Ich habe sie runtergewürgt und sofort wieder ausgekotzt. Das war’s dann.
Weihnachten haben wir auch gesungen oder jeder ein Gedicht aufgesagt. «Kling, Glöckchen, Klingelingeling» war ein Lieblingslied meiner Mama. Sie war oft der...