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Überlegungen eines Wechselwählers

AutorSebastian Haffner
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl142 Seiten
ISBN9783688100569
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Was ist und wie funktioniert Demokratie? Wodurch ist sie entstanden und welche Entwicklung hat sie genommen, bevor sie zweimal - 1918/19 und noch einmal 1945 - nach Deutschland kam? Wozu sind politische Parteien da? Was leisten sie und was nicht? Wo und wie und warum sind sie entstanden? So ungefähr lassen sich die Grundfragen unserer politischen Ordnung umreißen. Sie sind einfach, deshalb aber nicht leichter zu beantworten. Sebastian Haffner hat sie aufgegriffen, als Bundeskanzler Helmut Schmidt 1980 gegen den Herausforderer Franz Josef Strauß antrat, und er fand Antworten in einer Kürze und Prägnanz, die über die Jahre nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Dabei erklärt Haffner nicht nur die Grundbegriffe der Demokratie, er zeigt auch, daß Demokratie von nichts weniger lebt als von den festgeschriebenen Verhältnissen, daß sie vielmehr den Wechsel der Entscheidung und, immer wieder, die Korrektur von Urteilen verlangt und deshalb nichts nötiger braucht als den Wechselwähler - denjenigen Wähler also, »der nicht ein für alle Mal in blinder Loyalität dieselbe Partei wählt«, sondern sich bei jeder Wahl von neuem überlegt, welche in der gerade bestehenden Situation die wirklich erfolgversprechende Politik vertritt.

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England und arbeitete als freier Journalist für den «Observer». 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die «Welt», später für den «Stern». Sebastian Haffner starb 1999.

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Leseprobe

Vorwort
von Daniel Koerfer


Diesen neu aufgelegten Essay von Sebastian Haffner umgibt kein Geheimnis. Kriminaltechnische Analysen zur Bestimmung der Papierqualität und damit zur Ermittlung seines Entstehungszeitpunkts sind nicht erforderlich. Dennoch bietet auch dieser Text, wie fast immer bei Haffner, Stoff für Kontroversen und Debatten – ganz besonders in einem Wahljahr. Denn im Vorfeld einer Bundestagswahl und mit Blick auf eine Wahlentscheidung wurde er geschrieben, kurz nach jenem Buch übrigens, das Haffner im Alter von mehr als siebzig Jahren über Nacht und ganz zu Recht weltberühmt gemacht hat. Nach seinen »Anmerkungen zu Hitler« verfaßt er 1980 die hier neu aufgelegten Überlegungen eines Wechselwählers, Anmerkungen auch sie, aber noch assoziativer, weniger streng komponiert, zugleich flüssig und leicht formuliert, Schriftsprache und gesprochenes Wort sind bei ihm ja oft auf magische Art eins.

Haffner nimmt uns mit auf eine Zeitreise. Wir überfliegen mit ihm die sich wandelnden Parteienlandschaften, zunächst in Deutschland, dann auch in den USA, blicken noch einmal in die Abgründe der roten und braunen Einparteiendiktaturen, sehen mit Erleichterung die von den Westmächten tatkräftig geförderte Herausbildung und rasche Stabilisierung der Mehrparteiendemokratie in Westdeutschland, vernehmen am Ende, gewissermaßen unmittelbar vor der Landung, die kaum verhüllte konkrete Empfehlung unseres »Piloten« für eine konkrete Wahl- und Personalentscheidung bei der Bundestagswahl 1980.

Natürlich ist das Buch auf diesen aktuellen Punkt hin geschrieben, einem besonderen, aktuellen Anlaß gewidmet wie sonst keines dieses Autors. Stört das? Nur wenn man aufhört, etwas zu tun, was Haffner uns beständig nahezubringen versucht: zu staunen. Formulierungen wie »Wunder«, »Rätsel«, »eines der erstaunlichsten Ereignisse der Weltgeschichte« verwendet er immer wieder ungeniert und nicht von ungefähr, will er uns doch dafür sensibilisieren, daß in der Geschichte rein gar nichts selbstverständlich ist, manches Resultat hingegen höchst verblüffend ausfällt.

Staunen wir also. Zunächst einmal darüber, wie ferngerückt das Jahr 1980 mit seinen Entscheidungen und Konstellationen zwei Jahrzehnte später ist. Oder wie nah? Ein sozialdemokratischer Kanzler regierte, deutlich populärer als seine Partei. Den gleichfalls überaus populären Außenminister stellte der kleine, nicht sonderlich renitente Koalitionspartner. Die beiden Herren hießen aber nicht Gerhard Schröder und Joschka Fischer – sondern Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. Kanzler Schmidt war außerdem nicht zugleich SPD-Vorsitzender, das war 1980 noch immer und bis 1987 Willy Brandt, der am Ende 23 Jahre dieses Amt innehaben und damit sogar August Bebel übertreffen sollte. Doch die Sorge vor Terrorismus trieb schon damals die Deutschen um, aber eben »nur« innenpolitisch. Die bleierne Zeit der RAF lag erst kurz zurück. Immerhin: daß bei staatlichen Gegenmaßnahmen gerade auf diesem Feld leicht überreagiert wird, rechtsstaatliche Prinzipien vorschnell in den Hintergrund gedrängt werden können, Haffner deutet es als Gefährdung schon an.

Außen- und weltpolitisch war’s natürlich eine fundamental andere Situation, das von Haffner gewünschte deutsche »low profile« vom Nachkriegsszenario bestimmt: Von partnerschaftlich globaler, auch militärischer Mitverantwortung im Kreis der Mittel- und Großmächte, von Einsätzen der Bundeswehr »out of area« noch keine Spur. Sowjetische Raketenrüstung, westliche Nachrüstung, NATO-Doppelbeschluß und anwachsende Friedensbewegung hatten zum letzten west-östlichen Klimasturz im Zeitalter der ausgehenden bipolaren Welt geführt – der kälteste Kalte Krieg dominierte noch einmal, besonders nachdem sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert waren. Daß die USA darauf mit Konfrontation reagierten, hält Haffner im übrigen für falsch, man kann es im letzten Kapitel nachlesen und findet zugleich ein kleines Beispiel für die Hellsicht dieses Mannes. Beide Großmächte, so argumentiert er, würden zunehmend auf einen »wiedererwachten, ebenso antiwestlichen wie antiöstlichen, militanten, islamischen Glaubensfanatismus« stoßen, und ein solcher »gemeinsamer Gegner legt eher Allianz nahe als Konflikt«. Zwei Jahrzehnte später sollte die Allianz gegen die islamischen Glaubenskrieger tatsächlich Wirklichkeit werden.

Neben Haffners Hellsicht stehen natürlich auch Fehlurteile, Fehldeutungen, das war ihm selbst wohl immer klar, immer bewußt, hat ihn nie vor Pointierungen zurückschrecken lassen. Daß er den Untergang der DDR nicht erwartet hat, gehört sicher nicht dazu – wohl aber, wie nachdrücklich er sich mit dem Status quo einrichten konnte. Die SED-Kommunisten waren ihm – es steht im Mittelteil – »die relativ mildesten«, »wirtschaftlich erfolgreichsten«, und Schauprozesse, einen Gulag habe es bei ihnen nicht gegeben.

Eine im Westen damals vielfach verbreitete, allerdings wenig zutreffende Einschätzung. Gerade in den Anfangsjahren nach 1945 waren in Konzentrationslagern wie Sachsenhausen weiter Häftlinge inhaftiert, gequält, zu Tode gebracht worden, später traten große Haftanstalten wie Bautzen I und II an ihre Stelle. Stalinistische Schauprozesse kannte auch die DDR, erinnert sei etwa an die Waldheimer Prozesse, in denen mehr als 3400 Menschen in Schnellverfahren abgeurteilt, von 32 verhängten Todesurteilen 23 vollstreckt wurden. Zudem war die DDR 1979/80 schon so gut wie pleite, im Westen, besonders beim kapitalistischen Klassenfeind Bundesrepublik, hoffnungslos überschuldet, wie ihr Planungschef Gerhard Schürer rückblickend offen eingestanden hat. Honecker, als Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender von Staatsrat und Nationalem Verteidigungsrat tatsächlich ein kleiner Diktator, tat mit seinem Politbüro einiges, um die gigantische Fehlkonstruktion des Pomp- und Pump-Sozialismus in der DDR zu tarnen. Dazu gehörte etwa die Entscheidung, im ostdeutschen »Reich«, darin Hitler ähnlich, bei ohnehin staatlich subventionierten Preisen nahezu sämtliche Preissteigerungen zu verbieten, gehörte ferner die Anweisung, zugleich die Nettolöhne ohne Tarifauseinandersetzung jährlich um vier Prozent anzuheben. Wegen der damit einhergehenden heftigen heimlichen (weil preisgestoppten) Geldentwertung sanken in Wirklichkeit die Realeinkommen kontinuierlich, wurde das ökonomische System zwangsläufig immer maroder – nur eben: Es merkte keiner. Hinzu kamen die immensen Fehlinvestitionen der Ära Honecker in die Mikroelektronik. An Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt war zu keinem Zeitpunkt zu denken, auch am Ende nicht. Aber die Welt zu blenden und zu bluffen, das gelang.

Gerade im Westen ließen sich viele täuschen. Auch Haffner gehörte dazu. Als die Einheit schließlich in einer friedlichen Revolution erreicht wurde, schwieg er die letzten zehn Jahre seines Lebens, fast schmollend, zu diesem großen Thema. Gorbatschow, der die Zeitenwende überhaupt erst ermöglichte, das sowjetische Imperium darüber aufgab oder verlor (wie man’s nimmt), war ihm – das wissen wir – eben nur ein Spieler, ein Narr, der, so hat Haffner einmal gesagt, »Politik macht als Linksintellektueller, wie man es sich in den Redaktionsstuben der ›Zeit‹ vorstellt, aber nicht wie ein Weltpolitiker«.

Daß er sich nicht mehr mit dem Thema Wiedervereinigung und ihren Folgen beschäftigen mochte, ist schade und erstaunlich zugleich – schade, weil uns dadurch kluge Kommentierungen fehlen, und erstaunlich, weil ein Thema, das Haffners ganzes Werk durchzieht – und das vorliegende macht davon keine Ausnahme – abermals angesprochen worden wäre: der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft.

Wer wie Haffner auch in diesem Essay mit leichter Wehmut für immer das Versinken der »Welt der Buddenbrooks mit ihren Herrschaftshäusern und Dienstboten, ihrer Kleiderordnung, ihrem unverrückbaren Oben und Unten« registriert, wer für die Bundesrepublik feststellt, daß der Lebensstandard der Arbeiter sich »ungeheuer nach oben«, der Bildungsstandard beim Bürgertum dagegen »ungeheuer nach unten« verschoben habe, der beschreibt nicht nur die berühmte westdeutsche nivellierte Mittelstandsgesellschaft, der gibt auch zu der Vermutung Anlaß, eigentlich ein gutes Gespür für die prägenden Vorgänge in der DDR zu besitzen.

Nach der Vertreibung und Ermordung der Juden durch das NS-Regime folgte in der SBZ und dann weiter in der DDR ein zweiter, tiefer und brutaler sozialer Umbruch: die Ausbürgerung des Bürgertums. Doppelt »gesäubert«, zugleich doppelt »verarmt«, entstand tatsächlich eine neue, gegenüber Westdeutschland in zentralen Punkten andere Gesellschaft – noch kleinbürgerlicher, noch atheistischer, zugleich staatlichen Interventionen noch stärker verhaftet. Die Folgen dieser fundamentalen Mentalitätsunterschiede sind mit sämtlichen Transferleistungen in Mark und Euro nicht rasch auszugleichen. Und es wird auch noch dauern, bis aus Ostdeutschland wirklich zahlreich Nachwuchs heranwächst für die – jedenfalls nach Haffner – am härtesten arbeitende, einfallsreichste, mutigste und geistreichste Klasse Deutschlands – für das Management.

Haffner, dieser Sohn aus gutbürgerlichem Hause – sein Vater war in Kaiserreich und Republik ein höherer preußischer Beamter im Schuldienst gewesen –, hat seine Wurzeln nie verleugnet, ja zeitlebens in seinem ganzen Habitus, in seiner Kultiviertheit und...

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