Der »wunde Punkt«
Aus den bisherigen Kränkungsgeschichten Betroffener wurde ersichtlich, dass aktuelle Kränkungen in den meisten Fällen mit früheren verletzenden Erfahrungen verbunden sind, die das Selbstwertgefühl angegriffen haben. Diese bleiben als so genannte »offene Gestalten« unabgeschlossen im Unbewussten bestehen. Sie bilden den »wunden Punkt«, an dem durch Kritik, Zurückweisung, Verlassen- oder Ignoriertwerden die alten, unverarbeiteten Verletzungen aktiviert werden und Kränkungsreaktionen auslösen.
Jede Erfahrung bleibt unvollständig, eine »offene Gestalt«, solange wir nicht mit ihr »fertig« sind, sie nicht assimiliert haben. Dieser Begriff aus der Gestalttherapie bedeutet, sich etwas anzueignen und zu einem Teil von sich zu machen. Am Beispiel des Apfelessens1 möchte ich beschreiben, was gemeint ist: Wir haben einen Apfel in der Hand, mit dem wir durch Hautkontakt verbunden sind. Wir eignen ihn uns an, indem wir vom Apfel abbeißen, ihn kauen, schmecken und dann hinunterschlucken. Im Magen wird er verdaut und wir nehmen diejenigen Teile des Apfels in uns auf, die als Nährstoffe vom Körper gebraucht werden. Zugleich sondern wir jene Teile aus, die der Körper nicht verarbeiten kann. Der aufgenommene Teil des Apfels ist nun ein Teil unseres Körpers geworden, wir haben ihn assimiliert. Verschlucken wir jedoch den Apfel, ohne ihn zu kauen, so wird er wie ein Stein in unserem Magen liegen und uns belasten. Weder können wir uns seine nützlichen Anteile aneignen, noch können wir seine Schadstoffe aussondern. Er wird nicht Teil von uns, sondern bleibt ein unverdauter Fremdkörper, dessen wir uns durch jede Berührung von außen schmerzhaft bewusst werden.
Ähnlich geschieht es mit unverarbeiteten Erlebnissen: Sie drücken uns, erzeugen ein ungutes Gefühl und beschweren uns. Im Unterschied zum Apfel, der eines Tages doch durch die Magensäfte verdaut wird, bleiben sie abgekapselt zurück und können jederzeit durch äußere Ereignisse stimuliert werden, verbunden mit unangenehmen Gefühlen. Sie bilden das, was ich einen »wunden Punkt« nenne, eine Achillesferse, an der wir verletzbar sind. Werner Schmidts wunder Punkt ist die Erfahrung, andere werden vorgezogen und er geht immer leer aus. Bei Sophie Engel ist der wunde Punkt die Angst, Fehler zu machen. Irene Maiers wunder Punkt ist die Überzeugung, immer wieder verlassen zu werden, und bei Manuela Brand ist es die Angst, Anforderungen nicht zu genügen. Jeder hat gemäß seiner eigenen Lerngeschichte eine unterschiedliche offene Gestalt als Hintergrund des wunden Punktes, die aber meist nicht mehr im Bewusstsein ist. Denn frühe Verletzungen sind unserem bewussten Erinnern gewöhnlich nicht zugänglich, da sie der kindlichen Amnesie, dem Erinnerungsverlust, unterliegen. Das Nicht-Erinnern erleichtert uns das Weiterleben, es bleibt aber die Verletzlichkeit durch die nicht verarbeitete frühe Verwundung bestehen. In der Therapie haben wir die Möglichkeit, die alten Verletzungen aufzudecken und abzuschließen. Je besser uns das gelingt, umso weniger kränkbar werden wir sein.
Natürlich haben Werner Schmidt, Sophie Engel, Irene Maier und Manuela Brand noch weitere wunde Punkte, denn in der Regel existiert nicht nur eine offene Gestalt, sondern viele. Nicht alle sind jedoch im selben Maße beeinträchtigend und im Kontakt mit anderen Menschen gleichermaßen belastend. Auch führt nicht jede offene Gestalt zu einer Kränkung, sondern nur jene, die das Selbstwertgefühl beeinträchtigen.
Die Abbildung veranschaulicht diesen Zusammenhang noch einmal grafisch:
Abb. 3: Kränkungsdynamik I
Diese offenen Gestalten hinterlassen Spuren in unserer Seele und unserem Körper. Solange niemand an ihnen rührt, nehmen wir sie nicht wahr. Durch aktuelle Kränkungen werden die frühen Wunden aktiviert und wir erleben im gegenwärtigen Schmerz zugleich den alten. »... daß uns im Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes, sondern gegenwärtig und lebendig.«2
Offene Gestalten tendieren dazu, sich schließen zu wollen, wunde Punkte wollen heilen. Kränkungen, die an diesen offenen Wunden rühren, können also auch eine Chance sein, unerledigte Geschichten zu vollenden.
Introjekte – einverleibte Überzeugungen
Die ersten, tiefen Verletzungen nennt Eric Berne die primären Kränkungen,3 da sie den so genannten primären Narzissmus, also die erste Selbstliebe des Kindes, verletzten. Unter diese primären Kränkungen fallen alle ablehnenden Botschaften, die die Lebendigkeit, die Integrität und das Selbstwertgefühl des Kindes beeinträchtigen wie beispielsweise: »So, wie du bist, bist du nicht richtig« oder »Verhalte dich nicht so kindisch«, was so viel heißt wie: »Höre nicht auf deine Gefühle«. Botschaften sind jedoch nicht nur ausgesprochene Sätze, sondern auch nonverbale Signale, die ohne Worte vermittelt werden. Dies kann ein strenger Blick sein oder jede Art von Bestrafung. Es kann das Ignoriertwerden sein, der Ton der Stimme, der Strenge ausdrückt, oder die abgewandte Körperhaltung, die für das Kind bedeutet, dass es nicht in Ordnung ist.
Diese frühen Botschaften werden vom Kind aufgenommen und bilden so genannte Introjekte. Der Begriff der Introjekte, wie ich ihn hier gebrauche, stammt aus der Gestalttherapie. Introjekte sind verinnerlichte Botschaften, die nicht assimiliert, sondern ungekaut geschluckt wurden. Über die Zeit werden Introjekte zu Überzeugungen, die dem Kind vorschreiben, was es tun soll und was es nicht tun darf, sie lassen jedoch außer Acht, was es will. Introjekte sagen jedoch nicht nur etwas darüber aus, wie eine Person ist, sondern vermitteln auch ein Bild von der Welt und den anderen Menschen. Sie warnen beispielsweise davor, nicht zu vertrauensvoll zu sein, weil andere Menschen einen nur ausbeuten. Oder sie vermitteln die Vorstellung, alle Menschen seien freundlich und die Welt sei ein guter Platz.
Werner Schmidts Introjekt lautet: »Du hast keinen Platz auf dieser Welt«. Irene Maier, die sich von ihren Eltern und Großeltern verlassen fühlte, hat die Überzeugung verinnerlicht, es nicht wert zu sein, umsorgt zu werden. Weitere Introjekte werden sein: »Ich muss mich immer um andere kümmern« und »Ich muss mich immer anstrengen«. Manuela Brand hat verinnerlicht, alles falsch zu machen und eine Versagerin zu sein und am besten stillzuhalten und nichts zu tun.
Die introjizierten Einstellungen zu uns, anderen Menschen und der Welt haben wir entweder so früh im Leben gebildet, dass wir sie nicht rational hinterfragen konnten. Oder sie haben sich durch die äußeren Umstände so verfestigt, dass wir sie gar nicht in Frage stellen konnten. Ein kleines Kind glaubt, was es erfährt: So, wie seine Umwelt auf es reagiert, so wird es sein Bild von sich und seiner Umwelt formen. Je positiver die äußeren Umstände sind, in die es hineingeboren wurde und in denen es aufwächst, umso bejahender und vertrauensvoller werden sich sein Selbstbild und sein Bild über die Welt entwickeln können und umso positiver werden seine Introjekte ausfallen. Sind die Einflüsse dagegen schädigend, wird es eher Selbstzweifel ausbilden und dem Leben gegenüber eine vorsichtige oder angstbesetzte Haltung zeigen. Ebenso werden seine Introjekte hemmender und negativer ausfallen.
Die Überzeugungen, die das Kind über sich und die Welt ausbildet, verfestigen sich im Laufe der Zeit und entsprechende Erfahrungen untermauern sie. Im Erwachsenenalter werden Introjekte zu Persönlichkeitsmerkmalen und unverrückbaren Überzeugungen. Nun könnte man denken, dass sie allmählich verdaut und ein assimilierter Teil der Person geworden sind. Das stimmt jedoch so nicht. Introjekte werden zwar zu einem Teil der Person, bleiben aber immer Fremdkörper, da sie im Grunde nicht zu dieser Person gehören. Wenn ein Mensch beispielsweise früh beginnt, seine Gefühle zu unterdrücken, da diese von seiner Umgebung als kindisch abgewertet wurden, verhält er sich zwar angemessen »verkopft«, aber er muss dafür seine Emotionalität, die auch zu ihm gehört, verleugnen. Wirklich integriert wäre er als Mensch nur dann, wenn er sowohl seine Gefühle zeigen könnte als auch rational, also mit dem Verstand, handeln könnte. Dann könnte er sich erlauben, auch mal kindisch zu sein, oder er wüsste, dass Gefühle zeigen gar nicht kindisch ist.
Die Neigung zur Introjektion finden wir nicht nur in der Kindheit, sondern auch im Erwachsenenalter, indem Menschen sich nicht die Mühe machen, fremde Meinungen und Regeln zu prüfen, sondern sie der Einfachheit halber kritiklos übernehmen. Für ein Kind ist es zunächst einmal wichtig, die Meinungen und Regeln von außen zu übernehmen, da es mit ihrer Hilfe Orientierung und Halt erfährt. Im Laufe der Zeit, wenn es über mehr Möglichkeiten verfügt, nachzudenken und Dinge kritisch zu hinterfragen, kann sich das Kind eine eigene Meinung bilden und die alten Introjekte der Eltern durch neue Überzeugungen ersetzen. Wenn ein Kind beispielsweise erfährt, dass es von vielen Menschen gemocht wird, kann sich sein Introjekt »Du bist nicht liebenswert« durch diese Erfahrung wandeln. Trotzalter und Pubertät sind Zeitpunkte im Leben, in denen es mit besonderer Kraft neue, unabhängige Wege finden möchte und sich von den Elternfiguren (Eltern, Lehrer, Erzieher etc.) und den damit verbundenen Introjekten abzulösen versucht. Wem diese Ablösung nicht gelingt oder wer daran gehindert wird, sich zu verselbständigen und eine kritische Haltung zu entwickeln, wird...