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Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute

Band 1: Sommer

AutorKlaus Zeyringer
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783104031934
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die Kulturgeschichte des größten Sportereignisses aller Zeiten: die Olympischen Spiele Nach dem großen, von der Presse hochgelobten Erfolg ?Fußball. Eine Kulturgeschichte? nun das neue Buch von Klaus Zeyringer ?Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte von 1896 bis heute?. Sackhüpfen, Kanonenschießen, Seilklettern, so begann die Neuauflage der olympischen Spiele Ende des 19. Jahrhunderts. Schon daran zeigt sich, wie sehr die Idee des Barons von Coubertin in der damaligen Kultur verhaftet war; eine Geschichte der Olympischen Spiele muss also als Kulturgeschichte erzählt werden. Genau das macht Klaus Zeyringer: von den idealistischen Anfängen bis zum Massenspektakel von heute. Er rückt die zentralen Etappen der Umsetzung der »Olympischen Idee« in den kulturellen und sozialen Kontext, schreibt über Amateurismums, die Bedeutung des Marathonlaufs, die Verstrickungen mit den politischen Mächten und zeigt uns den ganzen Reichtum und die Skurrilität der olympischen Welt des Sports - durch witzige Details, pointierte Anekdoten und die Einordnung in das große Ganze. Ein Lesevergnügen der besonderen Art.

Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Professor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste und moderiert Literatur-Veranstaltungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Im S. Fischer Verlag ist »Fußball. Eine Kulturgeschichte« (2014) erschienen sowie das zweibändige Werk »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 1: Sommer« (2016) und »Olympische Spiele. Eine Kulturgeschichte. Band 2: Winter« (2018). Klaus Zeyringer »ist ein begnadeter Erzähler, seine historischen Sachbücher sind eher Romane«. NZZ am Sonntag »Wie nur wenige WissenschaftlerInnen versteht es Klaus Zeyringer, seine LeserInnenschaft literarisch zu fesseln.« Die Wochenzeitung

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Leseprobe

Voraussetzungen


Neues Olympia und Kulturgeschichte, Bilder und Erzählungen


Die Sonne, die Straße, der Durst. Shiso Kanaguri läuft. Kein Schatten schützt. Nur sein eigener läuft vor ihm her und bewegt sich klein auf dem Hitzebelag vor den Füßen.

Shiso muss laufen, sie haben ihn hierhergeschickt, zur Ehre Japans. Hinunter darf er nicht blicken, er würde taumeln. Er muss laufen, sie haben für ihn gesammelt. Keiner hat geahnt, dass es in Skandinavien so heiß ist.

Seine Beine machen weiter. Gewinnen wird er nicht, da sind welche vor ihm, wer und wie viele, weiß er nicht. Er muss ins Ziel kommen, für »aufgeben« hat er kein Wort. Er wird ins Stadion einbiegen, vielleicht spenden die Tribünen auf der letzten Gerade Schatten. Man wird ihm kaltes Wasser reichen, er wird sich ins kühle Gras legen, die Beine in die Höhe und ausschütteln. Er wird aufstehen und trinken, man wird ihm zu essen geben, er wird trinken, er wird im kalten Strahl der Dusche stehen.

Er läuft, die Sonne brennt. Der Mund keucht trocken. Die Häuser an den Vorgärtchen stehen schattig, da sitzen Leute, sie heben Gläser. Shisos Beine biegen vom Parcours ab, nur kurz, sagt sein Kopf. Die Leute sehen zu ihm auf, sie reichen ein Getränk. Shiso Kanaguri lässt sich in die Kühle nieder. Er trinkt. Sie geben ihm zu essen. Er trinkt, sein Körper streckt sich in die Liege. Shiso schließt die Augen, kurz nur, sagt sein Kopf. Er schläft ein.

So könnte sich die Szene abgespielt haben. So geht eine Erzählung von der ersten Etappe des längsten Marathonlaufs der olympischen Geschichte, sie setzt Kulturbilder in Bewegung.

Hundert Jahre später stiftet das Japanische Olympische Komitee eine Silbertafel zur Erinnerung, dass die Familie Petre in Sollentuna damals Shiso Kanaguri, der nach dem Start des Marathons sein »Bewusstsein verloren« habe, in der Not beigestanden sei. »Die Geschichte erzählte man sich in unserer Familie von Generation zu Generation«, sagt 2012 eine Urenkelin der hilfreichen Altvorderen.

 

Man schrieb den 14. Juli 1912, es war ein Sonntag. In Stockholm herrschte eine Hitze, wie man sie hier kaum je zuvor erlebt hatte.

Man zelebrierte das größte Sportereignis, das die Moderne hervorgebracht hat. In der schwedischen Hauptstadt fanden Olympische Spiele statt, die fünften, seit der französische Baron Pierre de Coubertin das antike Athletenerbe erneuert hatte.

Für den Erfolg der Veranstaltungen, ja der gesamten olympischen Bewegung hatte sich ein Wettkampf als wesentlich erwiesen, den man der griechischen Legende abgeschaut hatte: Vierzig Kilometer soll ein gerüsteter Bote von Marathon nach Athen gelaufen sein, dort den Sieg in der Schlacht verkündet haben, darauf tot niedergebrochen sein.

In Stockholm brach der Portugiese Francisco Lázaro auf der Strecke zusammen: heftiger Sonnenstich. Am nächsten Tag starb er. In Schweden organisierte man eine Sammlung zugunsten seiner Familie. Die großen Schlagzeilen der internationalen Presse verbreiteten die Nachricht. Dass der Tod mitläuft, bestätigt die Legende.

Wer hätte denn vorherzusehen vermocht, dass in Skandinavien die Sonne so heiß herniederbrennen könnte. Als man das Programm erstellt hatte, war es draußen kalt gewesen. Den Marathonlauf hatte man zur Mittagszeit um 13 Uhr 45 angesetzt, da war die Zielankunft am Nachmittag zu erwarten, wenn das Stadion voll sein würde.

An diesem Julisonntag maß man über dreißig Grad im Schatten. Zum Start reihten sich die Konkurrenten in weißer Kleidung auf, alle mit weißen Kappen oder weißen Tüchern auf dem Kopf. Die Mühen des längsten Laufes waren ihnen bekannt, nicht jedoch die Strapazen unter diesen Bedingungen. Die Hälfte der achtundsechzig Athleten blieb auf der Strecke, sie wurden mit Autos ins Stadion zurückgebracht.

Lange lief Shiso Kanaguri in einem kleinen Pulk. Dann gaben die einen auf, andere konnten ihr Tempo steigern, oder wurde er langsamer? Zwischen Kilometer 25 und 30, im Vorort Sollentuna, sah sich Shiso allein auf heißer Straße.

Erstmals hatten zwei Teilnehmer aus Asien bei Olympischen Spielen, die man in Europa und den USA als Weltmeisterschaften betrachtete, gemeldet – beide Japaner, Shiso Kanaguri und ein Sprinter. Shiso war über die Marathondistanz schon eine sehr gute Zeit gelaufen, jedoch fehlte das Geld für die lange Reise. Seine Studienkollegen sammelten für ihn, dann war er achtzehn Tage unterwegs, mit dem Schiff nach Wladiwostok, weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn. Als er in Stockholm ankam, war er erschöpft. Fast eine Woche brauchte er, um sich zu erholen.

Shiso Kanaguri lief gegen die Kilometer, er lief gegen die Hitze. Von früheren Rennen wusste er um den Durst, den musste man überwinden. Das hier jedoch war anders.

Regelmäßige Verpflegungsposten gab es damals nicht. Hinter einigen Athleten fuhren Begleiter auf dem Rad oder im Auto. Auf manchen Passagen der Strecke war zwischen zwei Kurven niemand zu sehen.

In Sollentuna lief Shiso auf ein Haus zu, im Garten saß die Familie Petre. Zwei Männer hoben volle Gläser. Er hielt an, sie boten ihm zu trinken, er ließ sich nieder und schlief ein.

Im Stadion waren die Letzten, die durchgehalten hatten, eingetroffen. Die wenigen Streckenposten und die Kampfrichter beugten sich über ihre Listen. Die Zeiten waren eingetragen, die Läufer, die aufgegeben hatten, waren vermerkt. Der Portugiese kämpfte im Krankenhaus um sein Leben. Wo aber der Japaner verblieben war, wusste keiner.

Man schickte Polizisten aus. Shiso Kanaguri kam erst am nächsten Tag – so stellt es eine Version der Geschichte dar. Eine andere erklärt, die Schande und die Scham seien dem Athleten so überwältigend erschienen, dass er zunächst nicht nach Japan zurückkehren wollte, sich dann aber auf den Weg machte, ohne sich zuvor bei den Veranstaltern zu zeigen. Auf den Listen stehe er als »vermisst« eingetragen.

In den folgenden Jahren gewann er dreimal die nationale Meisterschaft, bei den Olympischen Spielen von Antwerpen belegte er 1920 den sechzehnten Platz, 1924 stellte er einen neuen Asienrekord auf.

In seiner Heimat Japan verstand man 1912 den Sport anders als in Europa. Um 1870 begannen die Meiji-Reformen die Gesellschaft teils nach europäischem Vorbild zu modernisieren, die Körperertüchtigung blieb allerdings vor allem den traditionellen Kampfformen vorbehalten. Ein Jahr vor den Olympischen Spielen von Stockholm war der Schwertkampf Kendo Pflichtfach an Schulen geworden. Erst zehn, zwanzig Jahre später setzte sich Sport als Element westlicher Lebensart durch und wurde moderat ins Bildungswesen eingeführt.

Beim Langstreckenlauf, meinte man anfangs in Japan, sei Schweiß ein Ausdruck zunehmender Müdigkeit. Also tranken die Athleten vor und während des Wettkampfs nicht. Trotz der Hitze hielt sich Shiso Kanaguri in Stockholm zunächst daran. Am Start hatte er die Konkurrenten mit seinen japanischen Schuhen überrascht, die vorne bei den Zehen zweigeteilt waren – der kulturelle Unterschied war für die Konkurrenten sichtbar. Die sprachordnende Differenz kam 2012 bei der Überreichung der Erinnerungstafel in Sollentuna zum Ausdruck. Deren offizielle Version bedeutete, Kanaguri könne nicht wissentlich vom Weg abgewichen sein, um seinem Durst und seiner Müdigkeit nachzugeben, da er ja »nach dem Start sein Bewusstsein verloren« habe.

Shiso Kanaguri wurde Universitätsprofessor. Als er fünfundsiebzig Jahre alt war, reiste er 1967 erneut nach Stockholm. Dort setzte er seinen Lauf von jenem Haus aus fort, wo er eingeschlafen war, und vollendete der Welt langsamsten Marathon: 54 Jahre, acht Monate, sechs Tage, fünf Stunden, zweiunddreißig Minuten. »Es war ein langer Lauf«, sagte Shiso Kanaguri, »unterwegs heiratete ich, bekam sechs Kinder und zehn Enkel.«

 

Zwar stehen seit 2000 im Triathlon eineinhalb Kilometer Schwimmen, vierzig Kilometer Radfahren und zehn Kilometer Laufen auf dem Programm, aber der Marathon ist mit seiner mythischen Dimension seit 1896 der heroischste Weg zu olympischem Ruhm.

Erst 1890 – vier Jahre bevor Baron Coubertin bei einer Tagung in der Pariser Sorbonne die Erneuerung der Spiele von Olympia ausrief – hatte man mit Ausgrabungen in Marathon begonnen. Zu jener Zeit war die Legende vom Soldaten, der mit der Triumphnachricht auf den Lippen gestorben sei, wenig bekannt. Bei Herodot ist von einem Krieger zu lesen, der es in zwei Tagen von Athen nach Sparta geschafft habe, um Hilfe gegen die Perser zu holen. Bei Plutarch findet sich dann die Geschichte, ein Bote sei mit der Nachricht vom Ausgang der Schlacht bei Marathon gegen die Perser nach Athen geeilt, habe dort »nenikekamen« gerufen, »wir haben gesiegt«, und sei tot niedergestürzt.

Im Programm der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit schrieben die Veranstalter eine Distanz von vierzig Kilometern vor: von Marathon auf der Straße, am Meer entlang, nach Athen. Wäre der legendäre Krieger, der Pheidippides geheißen haben soll, tatsächlich gelaufen, hätte er jedoch wohl den kürzesten Weg über die Hügel gewählt und höchstens 34 Kilometer zurückgelegt. Im ganzen Land verstand man 1896 diesen Wettbewerb als den unzweifelhaften – da mythisch heimischen – Höhepunkt aller Kämpfe. Folglich musste ein Grieche gewinnen, das verlangten Volk und Patriotismus. Der Kronprinz nutzte den Symbolwert und...

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