In diesem Hauptkapitel des Wissenschaftlichen Projekts sollen nun die Ergebnisse aus der vorangegangenen Literaturstudie reflektiert werden. Der Aufbau folgt dabei logischerweise den zuvor erarbeiteten vier maßgeblichen Forschungssträngen des Populismus-Diskurses (vgl. Kapitel 2.1.2.2).
Bereits im Jahre 1969 konstatierten Ghita Ionescu und Ernest Gellner in ihrem Überblicksband zum Populismus: „There can, at present, be no doubt about the importance of populism. But no one is quite clear just what it is“ (Ionescu/Gellner 1969a: 1).[14] Ein Befund, der auch über 45 Jahre nach der Veröffentlichung des Standardwerkes der Populismus-Forschung, noch immer Gültigkeit besitzt. Zwar ist das Forschungsinteresse in den letzten Jahrzehnten und – befeuert durch verschiedenste rechtspopulistische Erfolge – insbesondere um die Jahrtausendwende stark angestiegen, doch „the Cinderella complex [siehe Einleitung; d. Verf.] is not yet resolved“ (Mény/Surel 2002b: 3). Statt einer generellen Definition oder einem universalistischen Forschungskonzept zur Untersuchung des Phänomens „Populismus“, existieren vielmehr Konglomerate unterschiedlichster wissenschaftlicher Ansätze, die nachfolgend geordnet werden sollen.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich die Forschung mittlerweile weitestgehend davon verabschiedet hat, eine generelle Populismus-Theorie zu entwerfen. Zu verschiedenartig und kontextabhängig sind die, unter der Kategorie „Populismus“ subsumierten, Phänomene. Dies betont in ihrem Essay „Two Strategies for the Study of Populism“ auch Canovan (1982), die folgert, dass jegliche Meta-Theorie zum Scheitern verurteilt ist, da sie weit genug gefasst sein müsste, um alle Phänomene aufzunehmen, dadurch jedoch ihre Erklärungskraft verlöre, da dann fast alles als „populistisch“ zu klassifizieren wäre (vgl. Canovan 1982: 547). Die Populismus-Forschung sieht sich also mit einem wissenschaftlichen Grundproblem konfrontiert. Denn „je umfangreicher die Darstellung eines Konzepts (Intension), desto kleiner fällt sein Anwendungsbereich aus (Extension)“ […] (Rovira Kaltwasser 2011: 253).
Die Vielfalt an potenziellen Populismus-Merkmalen speist sich vor allem auch aus dem Übergang des Begriffs in die Alltagssprache, wo er in oftmals diffusen Kontexten gebraucht wird, was es zusätzlich erschwert, eine anerkannte Meta-Theorie zu entwickeln. Oder wie Laclau (1977) formuliert: „We know intuitively to what we are referring when we call a movement or an ideology populist, but we have the greatest difficulty in translating the intuition into concepts“ (Laclau 1977: 143).
Der wissenschaftliche Konsens bezüglich der Ablehnung einer umfassenden Meta-Theorie des Populismus hat in einigen Fällen jedoch dazu geführt, dass Autoren auf die theoretische Aufarbeitung des Populismus-Begriffs gänzlich verzichtet haben. Der Verweis auf die Komplexität des Populismus wurde dabei zu einer akademischen „Pflichtübung“ (Diehl 2011b: 28), die oftmals als Argument für das Aussparen eines theoretischen Teils diente. Ohnehin waren die Arbeiten von Ionescu/Gellner (1969b) und Canovan (1981) lange Zeit die einzigen, die sich intensiv mit der Begriffs- und Ideengeschichte des Populismus auseinandersetzten (vgl. Decker 2004: 23).
An dieser Stelle soll der theoretische Teil nach dem Herausarbeiten der Komplexität des Begriffs jedoch nicht enden. Stattdessen werden nachfolgend verschiedene Forschungsagenden und Zugänge zum Populismus diskutiert, die helfen sollen, dass disparate Forschungsfeld zu strukturieren.
Der prominenteste, weil in der Forschung am häufigsten diskutierte, Ansatz, sich dem Populismus-Konzept zu nähern, stellt der phänomenologisch-deskriptive Ansatz von Canovan (1981) dar. Die Unmöglichkeit einer Populismus-Theorie unterstellend, versucht sie stattdessen – in Anlehnung an das Konzept der „Familienähnlichkeit“ des Philosophen Ludwig Wittgenstein – ein taxonomisches System von Populismus-Merkmalen zu entwickeln (vgl. Canovan 1981: 7). Kurz: „This approach is phenomenological, concerned with description rather than with explanation, aiming at comprehensiveness in preference to theoretical elegance“ (Canovan 1982: 545).
Der Ansatz geht implizit davon aus, dass es nicht den einen Populismus gibt, sondern verschiedene Populismen, die abhängig von den identifizierten Merkmals-Clustern kategorisiert werden können (vgl. Canovan 1981: 7). Vorteil dieses Ansatzes ist es, dass eine bessere Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen populistischen Bewegungen auch über Ländergrenzen hinweg ermöglicht wird. Die identifizierten Merkmale bilden in ihrer Kumulation eine Art Merkmalskatalog, anhand dessen Phänomene komparativ analysiert und kategorisiert werden können.
In ihrer Analyse populistischer Bewegungen[15] identifiziert Canovan nach diesem Muster zwei maßgebliche Populismus-Familien, die sie wiederum in mehrere Subkategorien unterteilt. Zum einen „agrarian populism“ und zum anderen „political populism“ (vgl. Canovan 1981: 13). „Agrarian populism“ verortet sie in der Tradition der globalen Bauern- bzw. Farmerbewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert[16] und unterteilt diese Form des Populismus in „farmers’ radicalism“, „peasant movements“ und „intellectual agrarian socialism“ (vgl. ebd.). Unter „political populism“ subsumiert Canovan nicht nur populistische Bewegungen, sondern auch Stilmittel populistischer Agitation. Sie unterscheidet hier zwischen „populist dictatorship“, „populist democracy“, „reactionary populism“ und „politicians’ populism“ (vgl. ebd.).[17]
Problematisch an Canovans Unterteilung ist, dass die einzelnen Kategorien nicht trennscharf sind, d.h., ein Phänomen lässt sich nicht immer nur einer bestimmten Kategorie zuordnen, sondern es existieren „many interconnections among our seven theoretical categories“ (Canovan 1981: 289). So lässt sich Argentiniens ehemaliger Präsident Juan Domingo Perón ohne weiteres der Kategorie „populist dictatorship“ zuordnen (vgl. Canovan 1981: 13), bediente sich in seiner Amtszeit aber auch immer wieder Elementen des „politicians’ populism“ (vgl. Werz 2003a: 51). Wie schon vor ihr Peter Wiles (1969), der einen ähnlichen – wenn auch oberflächlicheren – Forschungsansatz verfolgte (vgl. Wiles 1969), konstatiert auch Canovan letztlich, dass kein Objekt jemals alle Kriterien erfüllen kann, es also keinen reinen Populismus gibt (vgl. Canovan 1981: 289). Hier setzt dann auch die maßgebliche Kritik von Taggart (2000) an, der das Ergebnis der Canovan’schen Arbeit lediglich darin sieht, dass sie nachgewiesen habe, dass Populismus ein zerstreutes Konzept sei (vgl. Taggart 2000: 22).
Trotz aller berechtigten Kritik stellt der Ansatz von Canovan doch erstmals einen systematischen Versuch dar, das komplexe Phänomen „Populismus“ zu strukturieren. Zwar verwenden neuere Arbeiten längst andere Kategorisierungen (vgl. Puhle 2003; Decker 2004), die Grundidee, auf eine Meta-Theorie zu verzichten und stattdessen anhand bestimmter Merkmale einzelne Populismus-Familien zu identifizieren, hat sich jedoch im wissenschaftlichen Populismus-Diskurs etabliert.
So verfolgt Diehl (2011a) einen ähnlichen Ansatz, wenn sie betont, dass man zwischen populistischen und nicht-populistischen Akteuren nicht kategorisch unterscheiden könne, sondern graduelle Abstufungen bezüglich der Populismus-Intensität berücksichtigen müsse (vgl. Diehl 2011a: 278). Man kann demnach also nicht sagen, ob ein Akteur, eine Bewegung oder ein bestimmter politischer Stil „populistisch“ ist, sondern nur bis zu welchem Grad er „populistische“ Züge aufweist (vgl. ebd.). Je mehr populistische Elemente identifiziert werden, desto höher sind dementsprechend die Populismus-Intensität und damit die Legitimation für die Zuschreibung „populistisch“.
In Anlehnung an Decker (2004, 2006a)[18] arbeitet Diehl drei Dimensionen des „politischen Tuns“ heraus, in denen Populismus auftritt: Ideologie, politische Kommunikation sowie soziale Organisation und Struktur (vgl. Diehl 2011a: 279). Für jede dieser Dimensionen erarbeitet sie anschließend eine Merkmalsliste, anhand derer die Populismus-Intensität bestimmt werden kann (vgl. Diehl 2011a: 282, 287, 289). Vorteil dieser Methode ist, dass man die Ab- oder Zunahme der Populismus-Intensität in den einzelnen Dimensionen beobachten und damit auch Veränderungsprozesse politischer Akteure erfassen kann (vgl. Diehl 2011a: 290). Außerdem geraten durch die Ablehnung einer kategorischen Unterscheidung zwischen Populisten und Nicht-Populisten auch Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung, die nicht als prototypisch „populistisch“ gelten, jedoch zuweilen durchaus...