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Es geht um die Wertschöpfung
1.1 Von Wertschöpfung und Verschwendung
Was ist Wert? Und was ist etwas wert? Wer über Wertschöpfung schreiben will, der muss sich wohl mit Werten auseinandersetzen. Und das ist, denkt man länger darüber nach, schwierig genug. Da gibt es Dinge, die haben scheinbar einen geringen Wert. Wasser beispielsweise. Zwischen drei und sechs Euro schwankt der Preis für den Kubikmeter in Deutschland. Einige tausend Kilometer südlich jedoch ist der Wert des Wassers wesentlich höher. Ein Vielfaches des deutschen Preises. Oder ein Familienfoto. Für den einen ein unschätzbarer Wert, da sich mit diesem Foto eine Vielzahl von Erinnerungen verbinden, für den anderen nichts weiter als ein Stück Papier. Unsere 24-bändige in Leder gebundene Brockhaus-Ausgabe, vor einigen Jahren für etwa 3000 DM erstanden, schreibt zu Wert: »Durch Schätzung und Abwägung entstandenes Übereinkommen zwischen Menschen über das ihnen Zu- bzw. Abträgliche…« (Brockhaus 1994, Band 24, S. 81) und führt dann weiter aus zu soziokulturellen, gesellschaftlichen, philosophischen und wirtschaftswissenschaftlichen Werten. War sie das Geld wert?
Auch wenn so manches noch im Vagen bleibt, eines wird bereits an dieser Stelle klar. Wer über Wertschöpfung debattieren möchte, sollte sich beschränken. So wie wir in unserem Fall auf Produktwerte. Doch stopp, auch in diesem Fall gibt es Unterschiede. Denn da gibt es einmal den Wert, den der Erzeuger, der Hersteller, einem Produkt zu verleihen meint. Und da gibt es den Nutzen, den der Kunde, der Anwender, mit dem Produkt erzielt. Nach dem Modell der vollständigen Konkurrenz gleichen sich die beiden unterschiedlichen Wertbetrachtungen über den Preis aus. Nur ist eben das Modell der vollständigen Konkurrenz ein theoretisches Gebilde und so in der Praxis nicht anzutreffen. Denn dem Kunden fehlten vor allem in der Vergangenheit Informationen über die Anbieter. So wurde das Produkt zu dem Preis gekauft, welches unter den begrenzt zur Verfügung stehenden Informationen den größten Nutzen versprach.
Beispielsweise die Software, mit der wir just in diesem Augenblick diesen Text schreiben. Diese Software hat eine Vielzahl von Funktionen. Tabellenkalkulationen, Erstellen und Einbinden von Grafiken, Layout-Funktionen. Wir sind uns sicher, dieser Aufzählung könnten wir eine Menge weiterer Funktionen hinzufügen. Nur können wir sie eben nicht benennen, da wir sie noch nie benötigten. Vielleicht nutzen wir 20 %, vielleicht auch 30 % der Funktionalität. Und das, obwohl wir fast täglich unserem Computer den Befehl zum Aufruf genau jener Software erteilen. So gesehen existiert zwischen der Wertbetrachtung des Anbieters des Textverarbeitungsprogramms und unserer Wertbetrachtung als Nutzer (Neudeutsch: User) eine Wertdifferenz von 70 bis 80 %.
Nun ist das Zuviel von Funktionen im Prinzip kein Grund zur Klage. Denn immerhin könnte es sein, dass wir genau diese Funktionen in einer Woche oder in einigen Monaten benötigen. Und dennoch steckt hinter diesen Funktionen Aufwand. Um sie zu definieren, zu planen, zu programmieren, sie zu dokumentieren. Und nicht nur das. Es sind dafür Mitarbeiter einzustellen und zu betreuen, der Fuhrpark ist zu verwalten, die Rechnersysteme müssen zur Verfügung gestellt werden, Energiekosten entstehen, zusätzliche Büroflächen sind anzumieten … Letztendlich finden sich diese Aufwände im Preis wieder. So betrachtet zahlten wir 100 % des Preises, um 20 bis 30 % der Funktionalität des Textverarbeitungssystems nutzen zu können. Sicher ein etwas unglückliches Tauschverhältnis.
Oder nehmen Sie Ihren Videorecorder, Ihre Kamera, Ihr Auto, Ihre Waschmaschine. Welches Produkt Sie auch immer betrachten, Ihren individuellen Bedürfnissen steht ein Standardangebot gegenüber. Und das betrifft beileibe nicht nur die Funktionalität und den Preis. Auch die anderen Entscheidungskriterien für den Kauf eines Produktes, wie Lieferzeiten, Lieferpünktlichkeit, Qualität, Service, sind betroffen. Standard, alles Standard. Solange der Standard über den Erwartungen liegt und der Kunde nur aus einem begrenzten Angebot wählen kann, mag das ja alles kein Problem sein. Genau diese Voraussetzungen sind aber in der Zwischenzeit immer seltener gegeben. Wir möchten an dieser Stelle keine Lobrede für Vernetzung und Globalisierung halten, doch klar ist, dass es dem Kunden genau dadurch gelingt, eine bessere Marktübersicht zu erhalten. Für die Unternehmen heißt es so, Produkte herzustellen, welche
Abbildung 1: Von Technologieorientierung und Auslastungsoptimierung zu Kundenorientierung und Kostenminimierung
die Anforderungen des Kunden wesentlich genauer erfüllen, die sich durch geringere Kosten, höhere Qualität und hundertprozentige Liefertreue auszeichnen. Zugegeben, ein Dilemma. Denn wer seine Produkte genauer auf die Anforderungen seiner Kunden zuschneiden will, muss mehr Produktvarianten im Angebot haben und diese verursachen höhere Kosten. Zugleich ist es wesentlich schwieriger, mit mehr Produktvarianten eine hundertprozentige Liefertreue zu erreichen. Es sei denn, man legt sich große, umfassende Warenausgangslager an. Und die verursachen ebenso höhere Kosten. Kundenorientierung und Bestandsminimierung sind damit eigentlich einander ausschließende Kriterien. Dennoch gilt es, diesen Spagat zu bewältigen. Und der einzige mögliche Ansatz besteht darin, dass das jeweilige Unternehmen seine Prozessschritte, seine Unternehmensfunktionen und seine einzelnen Tätigkeiten äußerst genau auf ihre Wertschöpfung gegenüber dem Kunden hinterfragt.
Von Wert zu Wertschöpfung also. Dabei möchten wir mit unserer Definition von Wertschöpfung wiederum beim Kunden ansetzen. Demnach ist Wertschöpfung der Teil einer Tätigkeit für ein Produkt oder eine Dienstleistung, für die der Kunde tatsächlich gewillt ist, Geld zu bezahlen. Die Endmontage einer Waschmaschine beispielsweise oder das Biegen und Lackieren von deren Gehäuse, die Fertigung des Motors. Also alles Tätigkeiten, durch die am Produkt ein tatsächlicher Wertzuwachs entsteht.
Wenn man Wertschöpfung so festlegt, leitet sich daraus auch das Gegenstück, die Verschwendung, ab. Zugegeben, nun wird keiner von sich aus Verschwendung erzeugen. Wir wollen aus diesem Grund Verschwendung als versteckte Verschwendung bezeichnen. Also Tätigkeiten, die nicht zu einer Wertschöpfung beitragen, aber aus gegebenen Umständen getan werden müssen. Hierzu zählen Aufgaben wie das Um- und Auspacken von Teilen, das Abzählen und Kommissionieren, das Umrüsten und ausfallbedingte Instandsetzen von Maschinen, aber auch das Verwalten von Personal, das Erstellen der Jahresbilanzen, die Konstruktion von Betriebsmitteln et cetera.
Einerseits entsteht Verschwendung damit im Produktionsprozess selbst. Zum anderen sind die Dienstleistungsfunktionen, welche der Produktion helfen, Teile herzustellen, auch als Verschwendung zu betrachten. Natürlich ist es notwendig, Maschinen instand zu halten, Arbeit vorzubereiten, Zulieferteile einzukaufen oder Löhne auszuzahlen. Nur tragen eben diese Tätigkeiten nur mittelbar zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens bei. Sie sind Verschwendung aus der Sicht des Kunden, aber notwendig aus der Sicht des Unternehmens.
Verschwendung muss also nochmals unterteilt werden: nämlich in vermeidbare und in nicht vermeidbare. Legt man zugleich die optimistischsten Schätzungen zugrunde, nach denen der Anteil der wertschöpfenden Tätigkeiten im Unternehmen im Vergleich zu den Gesamtaktivitäten weniger als 10 % beträgt, gibt es im Bereich der vermeidbaren Verschwendungen genügend Potenzial, um die Produktivität auf ein Vielfaches zu steigern.
Abbildung 2: Wertschöpfung, vermeidbare und nicht vermeidbare Verschwendung
Die eigentliche Wertschöpfung in Form von Produkten, für die der Kunde bereit ist, Geld zu bezahlen, findet damit in der Produktion statt. Alle anderen Unternehmensbereiche müssen sich nach diesem Denkmodell als Dienstleister verstehen.
In diesem Moment stocken wir. Ist es tatsächlich so, dass die Produktion interner Kunde ist? Oder ist sie stattdessen nur ausführendes Organ und die eigentliche Wertschöpfung findet in den Köpfen der Entwickler, Konstrukteure, Planer statt? Die Gretchenfrage: Wer hat wem zuzuarbeiten? Wer hat sich nach wem zu richten? Denn dass die Produktion als interner Kunde betrachtet wird, ist in der Realität der Unternehmen wohl eher die Ausnahme. Vielmehr ist das Gegenteil anzutreffen. Alle nehmen Einfluss auf den Produktionsbereich, alle versuchen, ihre Interessen einfließen zu lassen, und Fertigung und Montage haben sich gefälligst danach zu richten.
Nehmen wir ein Beispiel aus der ursprünglichen Form der Produktion, dem Handwerk. Nehmen wir also an, Sie wollten sich bei einem Tischler ein paar neue Fenster für ihr Haus anfertigen lassen. Also werden Sie den Meister aufsuchen, werden sich seine Modelle ansehen, werden über eventuelle Änderungen, Liefertermin, die Qualität des Materials und den Preis...