2 PREKARITÄT, PLURALITÄT UND BILDUNG
Die ob ihres Vorschlags zur Einführung besonderer Einrichtungen für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen des Lernens viel gescholtenen „Väter der Hilfsschulpädagogik“ (u.a. Heinrich Stötzner, Heinrich Kiehlhorn, Arno Fuchs) und auch die Kritiker dieser Bestrebung, die sich gegen eine Separierung und für einen Verbleib der „schwachbegabten“ Schülerinnen und Schüler in der Volksschule aussprachen (Hermann Piper, Louis Esche, Franz Frenzel), waren sich in einem einig:
„dass ein überwiegender Procentsatz der Schwachbegabten der Klasse der wirtschaftlich schwachen und ganz schwachen Leute angehört, wo die Eltern oft genug auf einen geradezu kümmerlichen Verdienst angewiesen sind, wo in causalem Zusammenhang damit höchst mangelhafte Ernährungsverhältnisse, nicht selten eine geradezu elende Wohnungsnot mit bedenklicher Eigenart der Schlafgelegenheiten herrschen, wo die Armut sich paart mit Schmutz, Verwahrlosung und manchmal ganz zerrütteten Familienverhältnissen“ (Schlesinger 1907, in Ellger-Rüttgardt 2003, S. 87; Hervorhebungen im Original).
Sieglind Ellger-Rüttgardt (2003) hat einen kritisch redigierten und kommentierten Quellenband herausgegeben, in dem an zahlreichen Texten der genannten und vieler anderer Lehrer – und einer Lehrerin – die disziplinären Kontroversen nachgelesen werden können, die in den Anfängen der Hilfsschulpädagogik geführt wurden. In den Schriften spiegelt sich sehr deutlich das damalige Ringen der Hilfs- und Volksschullehrerschaft wider, angemessene pädagogische Antworten auf die „soziale Frage“ ihrer Schüler zu finden (ebd., S. 65). Denn das Lernen in der Moderne findet in kulturell ausdifferenzierten Gesellschaften statt (Pluralität), die durch soziale Ungleichheit charakterisiert sind (Prekarität).
Wie gezeigt, ist die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens zunächst auf das Kindes- bzw. Jugendalter und die Schule fokussiert. Der disziplinäre Diskurs hat indes im geschichtlichen Fortgang zahlreiche Erweiterungen erfahren: Obwohl die Alphabetisierung von lese- und schreibunkundigen Erwachsenen in der Weimarer Republik ein wichtiges Handlungsfeld der „Arbeiterbildung“ war, wird dieses Lebensalter in die disziplinäre Reflexion doch erst relativ spät systematisch einbezogen. Mit Frühförderung einerseits und Berufsbildung andererseits kommen weitere Erziehungs- und Bildungsinstitutionen als nur die allgemeinbildende Schule in den Blick, zudem wird mit den Unterstützungseinrichtungen der Sozialen Arbeit kooperiert, und auch die Institutionen der kulturellen Bildung werden für die Lernförderung genutzt.
Die Pädagogik bei Beeinträchtigungen des Lernens begrenzt sich nicht auf die Probleme des schulischen Lernens im Kindes- und Jugendalter, sondern folgt der Einsicht, dass sich das Lernen biografisch in allen Lebensphasen und institutionell an einer Vielzahl von Lernorten vollzieht.
Diese disziplinäre Weiterentwicklung ist mit dem Wandel in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung verbunden. So heißt es 2004 im Vorwort zur Dokumentation eines Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft: „Trotz unterschiedlicher Auffassungen über Bildungsziele, Bildungsstandards, Kerncurricula, überfachliche Kompetenzen, Aussagewerte von Leistungsvergleichen usw. sind sich alle Beteiligten in einem Punkte einig: Bildung ist nicht auf die Schule als Institution und nicht auf Kindheit und Jugend als Lebensphase begrenzt. Vielmehr verlangt die moderne Welt ein neues Konzept: Bildung über die Lebenszeit. […] Dafür steht der – auch international gebräuchliche – Begriff ‚lebenslanges Lernen‘“ (Fatke/Merkens 2006, S. 9; Hervorhebungen im Original).
2.1 Lebensphasen, Lebenslauf und lebenslanges Lernen
In dem Buch „Lernbehinderte Kinder und Jugendliche: Lebenslauf und Erziehung“ wies Gerhard Klein (1985), wenngleich begrenzt auf die Gruppe der jungen Heranwachsenden, nachdrücklich auf die Bedeutung der Lebenslaufperspektive für die Lernbehindertenpädagogik hin. Klein hatte biografische Verläufe ehemaliger Schüler der Lernbehindertenschule rekonstruiert. Das empirische Material belege, dass durch den Blick auf den gesamten Lebenslauf und die gesamte Zeitspanne der Entwicklung „die z.T. klischeehaft rezipierten Vorstellungen über sozio-kulturelle Benachteiligung“, die die Beeinträchtigungen „eher verharmlosen als adäquat beschreiben“, infrage gestellt werden. An den Lebensverläufen würden insbesondere die beträchtlichen Unterschiede in den verschiedenen Altersstufen, aber auch „die Kumulation von Entbehrungen“ erkennbar. Zudem, so Klein, seien Hinweise für das pädagogische Handeln ableitbar, weil sich an den Biografien zeige, in welchen Situationen und Entwicklungsphasen unterstützende pädagogische Maßnahmen erforderlich sind. Schließlich werde in den Verläufen deutlich, dass sonderpädagogische Hilfen, die sich auf aktuelle Notsituationen begrenzen, den Lebenszusammenhang übersehen und sich lediglich auf das Schulalter beschränken, „immer zu spät beginnen und zu früh enden“ (Klein 1985, S. 7–9).
Auch in der erziehungswissenschaftlichen Lerntheorie hat sich die Lebensverlaufsperspektive etabliert. Jutta Ecarius stellt diesen Ansatz zudem in einen sozialräumlichen Zusammenhang: „Lernen vollzieht sich […] in der Zeit und erfordert eine Betrachtung des gesamten Lebenslaufs […]. Dadurch wird zugleich offensichtlich, daß sich das Subjekt im Verlauf seines Lebens in verschiedenen physischen Räumen und somit in entsprechenden Sozialräumen aufhält bzw. von diesen beeinflußt wird“ (Ecarius 1997, S. 36). Ecarius geht nicht „von nur einem einzigen Sozialraum, sondern von historisch gewachsenen und somit sich wandelnden altersspezifischen Sozialräumen“ aus (ebd., S. 37; diese und auch die folgenden Hervorhebungen finden sich im Original): „Der gesellschaftliche Sozialraum teilt sich in kindliche, jugendliche, postadoleszente, erwachsene und alte Sozialräume auf“ (ebd., S. 37). Für jede Altersphase könnten sich somit für das Lernen jeweils spezifische Zugangs- und Ausschlusserschwernisse sowie altersgebundene Ressourcen und Angebote, Privilegien und Verpflichtungen ergeben: „Damit stehen in allen altersspezifischen Sozialräumen je besondere Lernangebote zur Aneignung bereit“ (ebd., S. 37).
Der kindliche Sozialraum zeichne sich, so Ecarius weiter, durch einen relativ engen Bezug des Kindes auf die soziale Positionierung der Eltern aus, deren ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen die Aktivitäten des Kindes vorstrukturieren. Die Jugend und Postadoleszenz sei, trotz des Erfordernisses zum lebenslangen Lernen, der spezifische Raum der Bildung, dessen institutionelles Gefüge vornehmlich aus schulischen und berufsqualifizierenden Einrichtungen konstituiert ist, und der, durch die Aneignung von Abschlüssen, gleichsam eine „Vorstufe“ zum sozialen Raum der Erwachsenen darstelle, in den diese Zertifikate gewinnbringend eingebracht werden können. Die Jugendphase sei aber auch durch Beziehungen zur Arbeitswelt strukturiert, indem eine Ausbildung absolviert, eine Tätigkeit in einem Job oder Beruf angenommen wird oder auch erste Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit gemacht werden. Der Welt der Erwachsenen komme durch ihre Verknüpfung mit dem Produktionsbereich eine zentrale Bedeutung im Lebenslauf zu, alle anderen altersspezifischen Phasen seien mit ihr verbunden, auch wenn die verschiedenen Lebensphasen mit einer relativen Autonomie versehen seien. Das Alter schließlich wird als Phase der staatlichen und betrieblichen Fürsorgeleistungen beschrieben, es sei gekennzeichnet durch die Rente als eines gleichsam verordneten Übergangs in die nachberufliche und nachelterliche Lebensphase (Ecarius 1997, S. 35–43).
Die soziale und kulturelle Ordnung der Gesellschaft ist also ganz wesentlich an sozialen Altersgruppen entlang strukturiert, und auch das institutionelle Gefüge der Bildung folgt einem altersphasenspezifischen Gliederungsschema: Früh- und Elementarbildung (0 bis 6 Jahre), Primarbildung (6 bis 10 Jahre), Sekundarbildung (10 bis 16/18 Jahre), Berufsbildung (16 bis 18 Jahre), akademische Bildung (18 bis 25 Jahre), Erwachsenenbildung bzw. berufliche Weiterbildung (18 bis 67 Jahre) und Seniorenbildung (ab der Verrentung). Diese einzelnen altersspezifischen Bildungssegmente bauen aufeinander auf, folgen also einer gewissen linearen Entwicklungslogik....