Jugend als Übergangsphase: Was wir heute wissen
Die Jugend beschreibt die Lebensphase am Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter und beginnt mit dem Einsetzen der Pubertät. Mit Ausnahme der ersten Lebensjahre ist keine Lebensphase im menschlichen Leben von einer stärkeren Entwicklungs- und Veränderungsdynamik geprägt als das Jugendalter. Doch während Kleinkinder im Alter von null bis drei Jahren ihre eigene Entwicklung nicht bewusst wahrnehmen, setzen sich Jugendliche mit den Veränderungen, die sie durchlaufen, dem Umbauprozess ihres Körpers, ihrer Psyche und ihrem Leben durchaus aktiv auseinander (Yee 2015). Es ist sogar so, dass ihre teilweise dramatische Selbstwahrnehmung einen starken Einfluss auf Jugendliche in ihrer Rolle als Lernende hat.
Während in der Vergangenheit häufig die äußeren Veränderungen des Körpers im Zusammenhang mit der Jugendphase thematisiert wurden, wissen wir heute, dass auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen vor allem das Gehirn umgebaut wird. Das verändert neben den biologischen vor allem ihre kognitiven, psychologischen und sozialen Charakteristika (Lerner 2005, S. 3). Dieser Umbauprozess ist von einer hohen Komplexität geprägt: So verläuft das körperliche Heranwachsen nicht in derselben Taktung wie die kognitive Entwicklung oder die emotionale Reifung.
Dass ein Jugendlicher anspruchsvolle Denkprozesse in einem Schulfach wie Mathematik ausführen kann, bedeutet nicht automatisch, dass er in der Lage ist, diese kognitiven Fähigkeiten auch auf persönliche Entscheidungsprozesse anzuwenden (Lerner 2005; Lerner/Steinberg 2004; Scales 1996/Scales/Taccagna 2001). Die kognitiven und emotionalen Übergangsprozesse vom Kind zum Erwachsenen laufen weder synchron noch linear ab. Das macht sie für Lehrkräfte und Eltern so wenig vorhersehbar.
Die Veränderungen zwischen dem zehnten und dem 18. Lebensjahr eines Menschen betreffen fünf Aspekte (Centre for Collaborative Education 2003; Manitoba Education 2010; Yee 2015):
kognitiv: Jugendliche sind zunehmend in der Lage zu abstrakten, kritischen, komplexen und vorausschauenden Denkprozessen, wenn sie angemessen intellektuell gefordert werden.
sozial: Während Jugendliche auf unterschiedlichen Ebenen ihre eigene Identität hinterfragen und suchen, haben sie gleichzeitig ein stark ausgeprägtes Bedürfnis dazuzugehören und von ihren Peers akzeptiert zu werden.
körperlich: Die körperliche Reifung Jugendlicher verläuft in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und sprunghaft. Dabei zeigen die Heranwachsenden teilweise unbeholfene und unkoordinierte Bewegungen.
emotional und psychisch: Jugendliche nehmen die Veränderungen ihres Körpers und ihrer Psyche wahr und fühlen sich durch hormonell bedingte kurzfristige Stimmungsveränderungen verletzlich und angreifbar.
politisch-moralisch: Der Wahrnehmungshorizont von Jugendlichen wird breiter und komplexer. Als Idealisten wollen Jugendliche Einfluss auf ethische und politische Prozesse nehmen.
Die fünf Entwicklungsstränge hängen zwar eng miteinander zusammen, doch deren unterschiedliche Entwicklungen laufen asynchron und nicht selten sprunghaft ab. Die mehrdimensionalen und diskontinuierlichen Entwicklungen machen die Jugend zu einer Phase der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«. So wundern sich Eltern, dass derselbe Sohn, der vernünftig und zielorientiert im Schwimmclub auf ein Rettungsschwimmerabzeichen hinarbeitet, sich bei einer Party durch eigenes riskantes Verhalten in eine Gefährdungssituation begibt. Junge Lehrkräfte sind erstaunt darüber, dass in einer siebten Klasse Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, die teilweise noch wie Kinder, teilweise schon wie junge Erwachsene wirken. Aus wissenschaftlicher Sicht wissen wir heute, dass all das »normal« ist. Daher brauchen Lehrkräfte, die Jugendliche in ihren Lern- und Entwicklungsprozessen begleiten und unterstützen möchten, ein professionelles Verständnis der Lebensphase Jugend in all ihren Chancen und Herausforderungen.
Die Entwicklung des jugendlichen Gehirns
Lange Zeit wurden die körperlichen Veränderungen vom Kind zum Erwachsenen vor allem mit der Entwicklung der inneren und äußeren Geschlechtsmerkmale in Verbindung gebracht. Erst der Aufstieg der Hirnforschung hat uns die Erkenntnis gebracht, dass vor allem das menschliche Gehirn im Laufe der Adoleszenz einen bedeutenden Umbauprozess durchläuft. Der amerikanische Jugendforscher Laurence Steinberg spricht von einer »bemerkenswerten Phase der Umorganisation und der Plastizität des Gehirns« (Steinberg 2014, S. 60). Die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, vor allem bezüglich der wachsenden Kompetenz zur Selbstregulation haben weitreichende Konsequenzen für die Frage, wie wir Jugendliche erziehen und bilden.
Erst im Alter von knapp über zwanzig Jahren kann das menschliche Gehirn als »erwachsen« gelten (National Institute of Mental Health 2011). Die inneren Strukturen des Gehirns werden bis dahin – deutlich stärker als beim erwachsenen Gehirn – durch Lerngelegenheiten und Erfahrungen geformt. Durch die hohe Plastizität des Gehirns beeinflusst die Lebenswelt, in der sich ein Jugendlicher bewegt, unmittelbar seine persönliche Entwicklung. Das müssen Eltern und Lehrkräfte wissen, wenn sie Jugendliche angemessen unterstützen möchten.
Die wichtigsten Veränderungen finden nicht im Bereich der Kognition, sondern im Bereich der Metakognition statt. Durch die Reifung des Frontalkortex, der Steuerungszentrale des Gehirns, erlangen Jugendliche auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen sukzessive die Fähigkeit zur situationsangemessenen Handlungssteuerung und zur Regulation ihrer emotionalen Prozesse. Erfahrungen im Umgang mit Freiheit einerseits und Verantwortung andererseits unterstützen diesen Reifungsprozess. Eltern und Lehrer/innen können Jugendliche dabei unterstützen, wenn sie graduell Freiheitsräume schaffen, in denen die Heranwachsenden Eigenverantwortung übernehmen und Selbstregulation erproben können.
Dabei verändern sich verschiedene Gehirnregionen in unterschiedlicher Geschwindigkeit, was einen Teil der Komplexität der Entwicklungsphase Jugend erklärt. Diejenigen Kortexregionen, die für die Steuerung von Grundfunktionen wie die Informationsverarbeitung und die motorische Koordination verantwortlich sind, entwickeln sich früher als diejenigen für komplexere Funktionen wie Impulskontrolle, Emotionsregulation, die Fähigkeit zur vorausschauenden Planung und zum vernunftorientierten, abwägenden Denken (Friedman 2014; National Institute of Mental Health 2011).
Vier strukturelle Umbauprozesse sind dabei von besonderer Bedeutung (Steinberg 2012). Die sogenannte Myelinisierung, darunter versteht man den Prozess, bei dem die Axone der Nervenzellen von einer Schicht aus Gliazellen ummantelt werden (Myelinscheide). Effekt dessen ist es, dass die Signalweiterleitung deutlich effizienter wird, denn die Myelinscheide hat eine vergleichbare Wirkung wie die Plastikummantelung eines Kabels. Durch die elektrische Isolationswirkung wird die Erregungsweiterleitung deutlich beschleunigt. An sich findet die Myelinisierung im Laufe der Entwicklung kontinuierlich statt, besonders verstärkt allerdings im Jugendalter. Diese Entwicklung ist eine entscheidende und unabdingbare Voraussetzung für anspruchsvolle kognitive Prozesse.
Die graue Substanz im Gehirn, die diejenigen Nervenzellen mit ihren zugehörigen Synapsen beheimatet, in denen Erinnerungs- und Denkprozesse verarbeitet werden, erreicht im Jugendalter ihr höchstes Ausmaß. Dabei ist die Reduktion bestehender Synapsenverknüpfungen, das sogenannte »pruning«, ein ganz normaler Teil der Reifung, der zu einer effizienteren Organisation des Gehirns beiträgt. Durch diese physischen Veränderungen verbessert sich die Fähigkeit zur Nutzung kognitiver Prozesse und zum rationalen, logischen Denken.
Für die Emotionsregulation ist ein dritter wichtiger Prozess verantwortlich: Die Verbindung zwischen dem limbischen System und dem Frontalkortex wird im Jugendalter immer stärker. Erst dadurch bilden sich im Laufe der Jugendjahre diejenigen Regelkreise, die Selbstregulation von Emotionen und damit Impulskontrolle ermöglichen. Die heute möglichen bildgebenden ...