Einleitung
Eine Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin steht immer vor besonderen Schwierigkeiten. Dem Ziel, den Lesern Übersicht und Orientierung zu vermitteln, steht der Vorsatz zur Seite, die Dinge nicht allzu stark zu vereinfachen. Und auch wenn man versucht, möglichst viele wissenschaftlich relevante Aspekte eines Fachs unter einem Dach zu vereinen, ist die Ausweisung einer Position, zumindest eines Leitfadens unverzichtbar. Was könnte ein solcher Leitfaden sein, wenn es um die nicht ganz einfache Disziplin der Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen geht? Der Aspekt der Störung bzw. des störenden, des auffälligen und vielfach belasteten Kindes drängt sich auf. Aber damit erscheint schon eine erste, durchaus charakteristische Schwierigkeit der fachlichen Reflexion. Denn die Störung ist nie ganz auf das einzelne Individuum zentriert, sondern sie betrifft immer auch soziale Umstände, Kontexte, Situationen und Gruppen. Die Darstellung des Fachs zentriert sich insofern nicht um einen einzelnen „Störer“, sondern um ein vielschichtiges Phänomen herum.
Die Pädagogik bei emotionaler und sozialer Entwicklung beschreibt etwas, das man ganz einfach nachvollziehen kann und das doch ein Stück weit entzogen bleibt – nämlich das Störende und Auffällige einer individuellen Entwicklung. In der Geschichte gab es eine Vielzahl von Versuchen, dem Auffälligen einen Namen zu geben und es dementsprechend einzuordnen. Wenn wir im Folgenden dieser klassischen Herangehensweise nicht folgen, dann bleibt zunächst die Reduktion auf das Sichtbare. Im pädagogischen und sozialen Miteinander zeigen sich Störungen des erwarteten Ablaufs. Etwas entspricht nicht den gängigen sozialen Erwartungen, etwas verweist auf eine gestörte Interaktion – aber vielleicht auch auf eine tiefgreifende gestörte Entwicklung. Wie wir – als Vertreter einer Profession – mit dieser Irritation umgehen, darum geht es bei der Pädagogik bei sozialen und emotionalen Störungen. Das Bild, das wir als Praktiker vor Augen haben, könnte eingängiger nicht sein: ein Kind schmeißt sich während des Unterrichts immer wieder auf den Boden und blockiert das Geschehen in der Klasse, es provoziert vielleicht sogar durch sexuell gefärbte Anspielungen, es unterläuft geschickt oder ungesteuert alle Anweisungen und Regeln. Das Bild des „störenden“, des „auffälligen“ Kindes ist eingängig und plakativ. Aber die Einordnung in eine widerspruchsfreie Pädagogik fällt trotzdem schwer: wir können es uns einfach machen und das Verhalten, das wir erkennen, als unerwünschte Störung bezeichnen und dementsprechend drastische Maßnahmen ergreifen. Wir können es uns aber auch etwas schwerer machen und nach den Hintergründen und Verflechtungen, nach den offensichtlichen und versteckten Zusammenhängen fragen. Wir können also anders formuliert versuchen, das Störende und Auffällige auch in der Tiefe zu erfassen. Wenn wir diesen Weg wählen, wird es schwierig, für die Entstehung von sozialen und emotionalen Problemen eindeutige Erklärungen zu erhalten, noch schwieriger wird es sein, die Herkunft der Disziplin, ihr professionelles Selbstverständnis, ihre institutionellen Formen zu beschreiben – schwierig, aber nicht unmöglich.
Teil A: Grundfragen der Disziplin
Die vorliegende Darstellung unterliegt einer Dreiteilung – Grundfragen der Disziplin, Grundfragen der Profession, schließlich Aspekte der Orientierung im Lebenslauf. Der erstgenannte Abschnitt folgt einer Überlegung, die man sehr vereinfachend begründen kann. Es wäre zu fragen, wie es dazu kam, dass störende oder „gestörte“ Kinder in das Zentrum der pädagogischen Aufmerksamkeit gerieten und mit welchen Folgen. Die Pädagogik bei Behinderung hat einen historisch negativen Kern, der immer wieder zum Anlass von Selbstkritik der Disziplin wurde. Der Stachel des Negativen sitzt tief, insofern wir das Negative und Zerbrechliche, den „Defekt“ oder die Schädigung als den Kern einer Profession verstehen. Diesen Widerspruch muss jeder praktisch Tätige für sich aushandeln, von einer nachhaltigen Lösung dieses Problems bleiben wir aber entfernt. Es macht aber durchaus Sinn, wenn wir in pädagogischen Zusammenhängen zunächst einmal von einer Grundbedingung des Menschseins ausgehen, der sogenannten „conditio humana“. Diese besagt ihrer begrifflichen Tradition gemäß nichts anderes, als dass zum Menschsein eine ursprüngliche Verletzbarkeit zählt. Diese „Vulnerabilität“ ist das Gemeinsame der menschlichen Situation, es kennzeichnet aber auch das, was wir mit einer konkreten Schädigung, einem Nachteil, einem „Förderbedarf“ verbinden. Individuelle und soziale Verletzungen können nachhaltig sein und gravierende Folgen haben. Sie können zu Verhaltensauffälligkeiten und Desintegration, zu einer erhöhter Aufmerksamkeit des Umfelds, sprich zu einem Mehraufwand der pädagogischen, diagnostischen und therapeutischen Mittel führen. Aber die Kategorie der Vulnerabilität greift wohl dann zu kurz, wenn sie individualpsychologisch verkürzt wird, wenn die Fachdisziplin lediglich als eine Theorie der Verhaltensgestörten verstanden wird. Sich von dieser Selbstzuschreibung zu distanzieren, ist keineswegs selbstverständlich. Denn jahrzehntelang gab es eine Deutungshoheit der medizinischen und psychotherapeutischen Disziplinen, die von „Verhaltensgestörten“ als einem objektiven Forschungsgegenstand zu berichten wussten. Die „Verhaltensgestörtenpädagogik“, die hiermit eng verbunden war, folgte zwar der Begrifflichkeit des „Störers“, aber dass die Gründe für die Auffälligkeit nicht allein in einer Person zu suchen sind, das war den meisten Vertretern des Fachs wohl von Anfang an bewusst.
Die Darstellung in Teil A soll daher dem Ziel dienen, die besonderen Bedingungen verständlich zu machen, die von einer Semantik der „sittlichen Verwilderung“ oder des „kranken Kindes“ zu einem zeitgemäßen Verständnis sozialer Unsicherheit und sozial/emotionaler Verletzlichkeit führen. Wir versuchen daher, eine Bresche in das Dickicht der verschiedenen Zuschreibungen zu schlagen, indem wir von der Verletzbarkeit der sozialen Bezüge sprechen. Mit dieser Begrifflichkeit soll natürlich keinesfalls der Mensch aus dem Zentrum gerückt werden, er soll auch nicht in dem Sinne entlastet werden, als sei er gerade nicht der aktive Gestalter seiner eigenen Gegenwart. Um dem Selbstverständnis der Disziplin aber nahe genug zu kommen, benötigen wir ein grundlegendes Verständnis der Situation des Menschen. Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen ist keine Pädagogik der oder des Verhaltensauffälligen, sie ist hiermit jedenfalls nicht identisch. Weiter kommen wir mit der Erkenntnis, dass es zu Verletzungen und Irritationen, Abweichungen vom normalen Gang der Dinge in sozialen Systemen kommt und dass auffälliges Verhalten wohl erst in diesem sozialen Sinnzusammenhang zu begreifen ist. Die Pädagogik muss sich daher als eine wissenschaftliche Disziplin verstehen, die das soziale Feld, das zugrunde liegende System oder einfach die je individuelle Situation in den Blick bekommt. Nicht umsonst hat sich die sonderpädagogische Leitformel des „Kindes in erschwerten Lebens- und Lernsituationen“ als wegweisend erwiesen.
Gleichwohl können wir den Ansatz der Verletzlichkeit in einem weiteren Sinne verstehen. Die Verletzung betrifft bestimmte Kinder unter bestimmten Bedingungen in besonderem Maße und eine besondere, aufmerksame Pädagogik lässt sich demnach auch gut begründen. Kinder sind nicht nur verletzbar, sie sind in bestimmten Zusammenhängen auch hochgradig gefährdet. Es gibt dementsprechend ein bestimmtes Erkenntnisinteresse der Disziplin, aber auch ein diskretes Berufsethos der Professionellen, das an der Artikulation des jeweiligen Leidensdrucks ausgerichtet ist. Kinder mit einer hyperaktiven Auffälligkeit können zwar ihr Umfeld stören, aber sie unterliegen meist einem schwierigen Selbstkonzept. Kinder mit Depressionen und Angststörungen fallen nicht selten durch die sozialen Raster, Kinder, die unter Traumatisierungen oder gar Missbrauch leiden, können oberflächliche Zuwendung gar nicht verarbeiten und benötigen tiefreichende Hilfestellungen. Auch das historische Beispiel des klassisch ausgegrenzten „hyperaktiven“ Schülers, der mit einer Eselsmütze in der Ecke einer Schulklasse steht, gehört in diese Aufzählung. Die berufsethische Dimension kommt in diesem Zusammenhang also in besonderem Maße zum Tragen. Es geht zwar oberflächlich betrachtet um die Kompensation von...