Einleitung
Im deutschen Sprachraum sterben die meisten Menschen im Krankenhaus. Daher sind die Sterbebedingungen in Krankenhäusern von überragender Bedeutung dafür, wie die meisten von uns sterben können. Pioniere der Palliativversorgung, wie etwa Elisabeth Kübler-Ross, konnten vor ca. 50 Jahren feststellen, wie stark das Sterben im Krankenhaus tabuisiert ist. Die Hospizbewegung war damals ausgezogen als Protestbewegung gegen die Tabuisierung des Todes und die schlechten Sterbebedingungen in den Krankenhäusern. Inzwischen hat sie sich mächtig entwickelt und professionalisiert. Zum bürgerschaftlichen Engagement kam das professionelle Engagement der Gesundheitsberufe hinzu, die für gute Palliativversorgung stehen. Allerorts wurden Hospizinitiativen, stationäre Hospize und Palliativstationen gegründet. Die ersten derartigen Einrichtungen im deutschen Sprachraum waren 1983 die erste Palliativstation Deutschlands in Köln und 1986/87 die ersten deutschen Hospize in Aachen und Recklinghausen. Damals wurde eine großangelegte Studie zur Versorgung Sterbender im Krankenhaus durchgeführt, die 1988 erschreckende Ergebnisse lieferte. Dabei wurden Akteure des Krankenhausalltags differenziert zu den Sterbebedingungen befragt (George et al., 2013). Dieselbe Studie wurde 2013 wiederholt und ergab in diesem 25-Jahreszeitraum auf ernüchternde Weise keine wesentliche Verbesserung der Versorgung Sterbender im Krankenhaus. Es zeigte sich zwar eine Verbesserung der Sterbebedingungen für die ganz wenigen Menschen, die auf einer Palliativstation sterben konnten, aber nicht für die überwiegende Mehrheit der Krankenhauspatienten, die außerhalb einer Palliativstation sterben. Es ist uns anscheinend in den vergangenen Jahren gelungen, eine Verbesserung der spezialisierten Palliativversorgung auf Palliativstationen zu erreichen. Die palliative Versorgung in der Breite außerhalb der Spezialsettings scheint dabei allerdings auf der Strecke geblieben zu sein. Warum erweist sich das Krankenhaus in seiner Gesamtheit als so starr und nimmt die Möglichkeiten der Verbesserung der Sterbebedingungen durch moderne Palliativversorgung nicht auf? Ein Grund könnte sein, dass Krankenhäuser sich als Orte des Heilens und nicht des Sterbens definieren bzw. ihnen diese Definition von der Gesellschaft zugeschrieben wird. Es ist daher nur naheliegend, dass Krankenhäuser das Sterben in spezielle Palliativstationen ausgrenzen. Dies sind dann besondere Orte, an denen es in Krankenhäusern möglich ist, ganz und gar das palliative Paradigma der ganzheitlichen Umsorgung, der Linderung statt Heilung zu verwirklichen. Das übrige Krankenhaus und damit die größte Zahl der Sterbefälle bleiben dabei leider unberücksichtigt. Dort ist Sterben immer noch eine Art Betriebsunfall in einer Welt des Heilens.
Wie kann es gelingen, Palliativversorgung auch und vor allem dort zu verwirklichen, wo das Paradigma des Heilens dominiert? Dies sind die ganz normale Krankenhausstation oder die Intensivstation als sehr häufige Sterbeorte des Krankenhauses. Wird dort gute Versorgung unheilbar kranker und sterbender Menschen als Scheitern des Anspruchs auf Heilung erlebt? Stört der Sterbende die schnelllebige, mit Pathways durchökonomisierte Welt des Krankenhauses? Sicherlich sind diese unterschiedlichen Paradigmen der Heilung und Rettung im Gegensatz zum Begleiten statt Verhindern des Sterbens eine sehr große Herausforderung. Zwischen Palliativversorgung und Krankenhausmedizin bestehen daher grundsätzliche Unterschiede. Krankenhausmedizin hat sich in den vergangenen Jahrhunderten immer mehr der naturwissenschaftlichen Analyse der Krankheitssituation und ihrer möglichst zielführenden Reparatur verschrieben. Palliativversorgung betont dagegen in ihrer radikalen Patientenorientierung die Lebenswelt des Betroffenen, in die es einzutauchen gilt. Diese Lebenswelt ist umfassend und ihr ist keineswegs nur mit Mitteln der Naturwissenschaften beizukommen. Das Naturwissenschaftliche spielt sogar eine eher untergeordnete Rolle in diesem lebensweltlichen Zugang der Palliativversorgung. Dagegen spielen sozialwissenschaftlich fundierte Aspekte, wie Haltung, Empathie, Klientzentrierung, besonderes Eingehen auf kommunikative Bedürfnisse, Spiritualität sowie systemische oder existenzialistische Betrachtungen nicht nur des Betroffenen, sondern auch seines Umfelds, eine überragende Rolle, wie uns die WHO-Definition der Palliative Care zeigt. Versucht die Krankenhausmedizin, um eine möglichst gute Heilung und/oder Verlaufsmodifikation der Erkrankung des Betroffenen zu erreichen, dessen Probleme operationalisierbar zu machen und damit auf Symptome und Diagnosen einzuengen, so versucht Palliativversorgung einen möglichst weiten Blick auf die einmalige Lebenswelt einzunehmen.
Wie kann es gelingen, diese beiden höchst unterschiedlichen Welten miteinander zu vereinen, ihre Gegensätze auszuhalten und zu versöhnen? Die Aufgabe ist enorm. Die Studiendaten aus den Jahren 1988 und 2013 von George et al. (2013) zeigen dies nur zu deutlich, denn das Krankenhaus als System scheint recht resistent gegen eine Verbesserung der Sterbebedingungen zu sein, wenn man von den Ausnahmen, den Oasen der Palliativversorgung, wie sie Palliativstationen darstellen, einmal absieht. Durch die zunehmende Ökonomisierung des Krankenhauses in den vergangenen Jahrzehnten wird der Gegensatz der Versorgungsansätze noch größer, denn die Ökonomie zielt durch ihre Fallpauschalenlogik weg von einer Rundumversorgung des bedürftigen Menschen auf eine problemzentrierte Versorgung der Hauptdiagnose in handhabbarer Zeit nach vorgegebenen Standards. Im Gegensatz zum weiten lebensweltlichen Zugang der Palliativversorgung wird die Versorgung der Krankenhausmedizin doppelt eingeengt, und zwar nicht nur auf naturwissenschaftlich Analysierbares, sondern auch auf ökonomisch standardisierte Abläufe – zum Teil unter erheblichem Zeitdruck, da Zeit kostet und ggf. durch Rationalisierung einzusparen ist. Dabei ist gerade die vorhandene Zeit die wichtigste Ressource der Palliativversorgung, durch die das Eintauchen in die Lebenswelt der Betroffenen überhaupt erst möglich wird. Das palliative Paradigma des „high person – low technology“, also der ausgeprägten, zeitaufwendigen, persönlichen Zuwendung statt technisierter Vorgänge, macht es überdeutlich.
In dieser Gemengelage ist es nur zu verständlich, dass Krankenhäuser immer öfter Palliativstationen gründen als Orte, an denen Palliativversorgung in Reinkultur gedeihen kann. Das gesamte multiprofessionelle Team denkt dort palliativ. Patienten sind dort meist in einer überwiegend palliativen Phase, das heißt, sie benötigen fast nie parallel auch lebensverlängernde bzw. kurative Interventionen. In der Regel werden an diesen Orten sterbende Tumorpatienten und vielleicht einige wenige Nichttumorpatienten, etwa mit amyotropher Lateralsklerose, einer selteneren neurologischen Erkrankung, sehr gut multiprofessionell lindernd nach dem Total-Pain-Modell von Cicely Saunders entsprechend ihrer körperlichen, psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse versorgt. Palliative Arbeitsprinzipien können in dieser „Monokultur“ hervorragend entwickelt werden. Nachteil ist die Versorgung von nur wenigen Menschen, fast nur Tumorpatienten und auch das in der Regel nur, wenn ihre tumorspezifischen Therapien abgeschlossen sind. Andere Adressaten der Palliativversorgung, wie etwa die absolut überwiegende Zahl der in einem Krankenhaus Versterbenden, werden dabei vergessen.
Im Gegensatz zu der weiter steigenden Zahl von Palliativstationen gehen palliative Organisationsentwicklungen, insbesondere die Verbreitung von Palliativdiensten, die Patienten überall im Krankenhaus mitbetreuen, eher schleppend voran. Selbst wo Palliativdienste vorhanden sind, kämpfen diese darum, die Patienten wirklich auf Augenhöhe parallel mitbetreuen zu dürfen und nicht erst kurz vor der Entlassung oder wenige Tage vor dem Versterben hinzugerufen zu werden.
Nach dem Motto „Palliativversorgung für alle, die sie brauchen“ sollte Palliativbetreuung im Krankenhaus nicht nur mehrheitlich Tumorpatienten am Lebensende auf Palliativstationen angeboten, sondern auch nachhaltig auf andere Gruppen ausgedehnt werden: auf die vielen Nichttumorpatienten, auf Patienten, die eine Leidenslinderung benötigen, aber noch in erheblichem Umfang auch lebensverlängernde bzw. kurativ intendierte Therapien erhalten, aber auch auf Tumorpatienten in früheren Erkrankungsphasen. Studien von Temel et al. (2010) zeigen eindrücklich, dass die frühe Integration der Palliativversorgung parallel zur onkologischen Therapie bei Menschen mit Bronchialkarzinom deren Leiden lindert, weniger onkologische Therapien erforderlich macht und sogar das Leben verlängert. Die Herausforderung besteht also im Anbieten von Palliativversorgung parallel zur lebensverlängernd bzw. kurativ intendierten Behandlung. Palliativversorgung muss daher parallel zu lebensverlängernden bzw. kurativ intendierten Therapien schon frühzeitig in die Krankenversorgung implementiert werden. Das heißt, Palliativdienste müssen schon frühzeitig einbezogen werden.
In Krankenhäusern ist man gewohnt, dass es klare Zuständigkeiten gibt, dass der Patient entweder operativ versorgt wird und auf der chirurgischen Station liegt oder konservativ versorgt wird und auf der internistischen Station ist oder zur Leidenslinderung bzw. ganzheitlichen Umsorgung nahe dem Lebensende auf eine Palliativstation verlegt wird. Die frühzeitige Integration von Palliative Care in die Versorgung fortschreitend lebensbedrohlich erkrankter Menschen (WHO-Definition) erfordert aber eine parallele Zuständigkeit kurativ und palliativ Tätiger sowie deren enge Vernetzung – und dies ist für die Krankenhauskultur eine neue Herausforderung. Hier müssen nämlich nicht nur unterschiedliche...