»Ein Kind ist kein Kind, zwei Kinder sind viele Kinder!«
Ziemlich genau neun Monate lang wurde ich nahezu täglich mit diesem Ausspruch konfrontiert. Nämlich immer dann, wenn ich in irgendeiner Form mit Zweifacheltern in Berührung kam. Dieser Kontakt konnte noch so kurz und flüchtig sein, den Spruch hörte ich in jedem Fall. Es ist prinzipiell der erste Satz, den man von Zweifacheltern zu hören bekommt, sobald diese erfahren, dass man auf dem Weg ist, ihrem Kreis beizutreten. Wortlaut, Intonation, ja selbst der Gesichtsausdruck sind dabei grundsätzlich identisch. Ich habe selten ein derart krasses Beispiel kultureller Gleichschaltung erlebt wie beim Phänomen der Zweifachelternschaft.
Dabei ist der Satz ziemlich doof. Zum einen habe ich nie so ganz verstanden, wieso ein Kind kein Kind sein soll. Ich selbst habe das nicht so erlebt und weiß auch nicht, wie ich diese Aussage meinem Sohn Tom hätte vermitteln sollen. Zum anderen ist die Behauptung »Zwei Kinder sind viele Kinder« äußerst unpräzise. So schwammige Aussagen haben mich schon immer gestört. Sagt jemand etwa: »Ich komme dann später mal vorbei« oder »Ich fühle mich ein Stück weit ängstlich«, muss ich mich ziemlich zusammenreißen, um einigermaßen freundlich fragen zu können: »Wie viel später denn genau?« oder: »Haben Sie nun Angst oder nicht?« Von daher frage ich mich schon: Wie viele Kinder genau sind denn nun zwei Kinder?
In einem wirtschaftswissenschaftlichen Aufsatz habe ich mal gelesen, dass die Gesamtausgaben für ein Kind bis zur Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres mit durchschnittlich 500 000 Euro zu veranschlagen wären. Ein Unterschied zwischen Erst- und Zweitgeborenen wurde dabei nicht erwähnt: Zwei Kinder sind hier wohl ganz einfach doppelt so viel wie ein Kind.
Insofern ist es nur konsequent, dass wir seit Hannahs Geburt statt 164 Euro nun 328 Euro Kindergeld bekommen. Die Kindergeldkasse verfolgt also eine egalitäre Philosophie, die aber leider einige Prinzipien der freien Marktwirtschaft negiert: Unser Doppelkinderwagen etwa, auf den wir wegen des relativ geringen Altersabstands unserer Kinder dringend angewiesen sind, war deutlich teurer als Toms Kinderwagen und Buggy zusammen.
Da ist die Elterngeldkasse schon realistischer. So nebulös ihre Berechnungsmodalitäten im Allgemeinen sind, so konkret ist ihre Antwort auf unsere Frage: »Wie viele Kinder genau sind zwei Kinder?« Sie lautet: 2,1. Die Elterngeldkasse zahlt fürs zweite Kind nämlich einen »Geschwisterbonus« von 10 Prozent. Der Doppelkinderwagen war zwar stolze 28,6 Prozent teurer als die entsprechenden Anschaffungen nach Toms Geburt. Ich finde am Vorgehen der Elterngeldkasse aber trotzdem begrüßenswert, dass sie sich überhaupt der Auseinandersetzung mit dem Thema stellt und mit einer konkreten Zahl Stellung bezieht.
Mir persönlich ist das sehr sympathisch, denn ich glaube fest an die Quantifizierbarkeit der Dinge. Aller Dinge! Das mag überraschend klingen bei einem Psychologen und Psychotherapeuten. Aber ich bin auch kein »richtiger« Psychologe. Studiert schon, das ja, aber ohne Achtundsechziger-Eltern, Pädagogik-Leistungskurs und Karriere als Schulsprecher oder Rot-Kreuz-Helfer. Ich war einer dieser dünnen, blassen Jungs, die beim Einkaufen heimlich Wettrechnen gegen die elektronische Kasse abhielten und niemals irgendjemandem auffielen – vor allem den Mädchen nicht. In jeder Mathearbeit meines Lebens hatte ich eine Eins mit Sternchen. Ich war der geborene Mathematiker. Dass ich dennoch Psychologie studiert habe, hatte nur einen einzigen Grund: Vor meinem geistigen Auge sah ich schon, wie ich mein Leben allein in einem fensterlosen Kabuff an irgendeiner Universität verbrachte. Jahrein, jahraus damit beschäftigt, komplexe mathematische Phänomene zu lösen. Die Vorstellung erschreckte mich zutiefst. Also wurde ich Psychologe und kann es nun sogar mit einer gewissen Expertise sagen: Alles ist quantifizierbar. Selbst das Psychologische.
Unsere Kindertagesstätte übrigens verfährt pädagogisch korrekt nach der Theorie des schwächsten Glieds in der Kette, also der Vorstellung, dass wir alle zusammen nur so viel wert sind wie der Schwächste von uns. Monetär bedeutet das, dass man auch bei zwei KiTa-Kindern nur für eines bezahlen muss – aber immer für das jüngere und damit teurere Kind! Diesem Prinzip liegt vermutlich eine langjährige Kinderbetreuungserfahrung zugrunde: Zwei Kinder sind immer exakt so anstrengend wie das anstrengendere von beiden. Vielleicht hat sich die KiTa-Schatzmeisterin aber auch an den Klamottenläden aus der Fußgängerzone orientiert: Buy two – get the cheaper one free! Ich habe das mal für unsere Familie durchgerechnet und komme zu folgendem Ergebnis: In Hannahs erstem KiTa-Jahr werden wir statt 178 Euro (für Tom allein) 276 Euro zahlen müssen. Zwei Kinder sind dementsprechend 276/178 Kinder oder 1,55 Kinder.
Halten wir also fest:
Wirtschaftswissenschaften: 2 = 2
Kindergeldkasse: 2 = 2
Elterngeldkasse: 2 = 2,1
Doppelkinderwagen: 2 = 2,29
Kindertagesstätte: 2 = 1,55
Gesamt finanziell: 2 = 1,99
Aus betriebswirtschaftlicher Sicht hätten wir also gleich der ersten Intuition vertrauen können, dass zwei Kinder vielleicht einfach zwei Kinder sind. Aber Geduld, wir sind ja noch nicht am Ende. Im Gegenteil, die wesentlichen Aspekte kommen ja erst noch, nämlich Gesundheit, Psychologie und Logistik.
Logistisch gesehen ergibt sich beim zweiten Kind ein gewisses Einsparpotenzial: Auf den Geburtsvorbereitungskurs etwa wird man wohl verzichten und sicherlich auch deutlich weniger Bücher über Kindererziehung, Babymassagen und ganzheitliche Schüßler-Salz-Behandlungen durcharbeiten. Hier ist ein Faktor von 1,25 wahrscheinlich schon hochgegriffen.
Zeit- und nervenschonend wirkt sich auch aus, dass man mit dem zweiten Kind nicht mehr beim ersten Nieser zur Notfallambulanz stürmt. Und manchmal kann man bei Arztbesuchen durch Terminzusammenlegungen kostbare Fahrtzeit einsparen. Die vielen Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen jedoch müssen nun mal für jedes einzelne Kind in einem fest definierten Lebensalter stattfinden. Und das sollte man nicht versäumen, sonst meldet sich das Jugendamt! Ich denke, wir können hier alles in allem 2 = 1,5 veranschlagen.
Ganz anders sieht es aus mit der Vernichtung von Feierabenden und Zeit-für-sich-selbst. Vor Hannahs Geburt hatten Katharina und ich jeweils drei frei verfügbare Abende pro Woche sowie – wie im Geburtsvorbereitungskurs gelehrt – einen Partnerschaftsabend. Die drei freien Abende sind mittlerweile durch Aufräumen, Absprachen-Treffen, Einkaufszettel-Schreiben und Mails-Beantworten auf maximal einen halben Abend pro Woche geschrumpft. Die Reaktivierung des Partnerschaftsabends planen wir für das Frühjahr 2022 ein. Wo also Tom die frei verfügbaren Feierabende nur halbiert hatte, hat Hannah sie in Windeseile gesechstelt. Feierabendbeseitigungstechnisch sind zwei Kinder gemeinsam also dreimal effektiver als eines allein!
Rechnen wir zusammen:
Geburtsvorbereitung: 2 = 1,25
Kindeswohlsorge: 2 = 1,5
Feierabendvernichtung: 2 = 3
Gesamt logistisch: 2 = 1,92
Nun zum meinem Lieblingsthema, der Psychologie. Da man in seinem eigenen Fachgebiet noch mehr als sonst vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt, bemühe ich mich mal um eine knappe Darstellung: Psychologisch betrachtet beinhaltet eine Dyade, also das Zusammenspiel zweier Menschen (oder auch Kinder), insgesamt drei Aspekte: das Ich, das Du und das Wir. Bezogen auf unsere Zwei-Kinder-Thematik bedeutet das: Zwei Kinder machen die dreifache Arbeit. Man muss auf das eine individuell eingehen, auf das andere ebenfalls und dann noch die ständigen Streitereien schlichten. Also: 2 = 3.
Wenn man aber Zweifacheltern auf diese Mehrbelastung anspricht, antworten sie gerne abwiegelnd: »Ach, beim zweiten Kind ist doch alles halb so wild!« Das nehmen wir dann einfach mal wörtlich und veranschlagen für den emotionalen Aspekt den Faktor 1,5. Einerseits.
Andererseits kommt so manche Anstrengung in der Zwei-Kind-Familie völlig neu hinzu: Das Bloß-keinen-bevorzugen-Problem oder die Eifersucht des älteren Kindes, um nur mal zwei zu nennen. Gelegentlich sind zwei Kinder aber auch gar kein Kind: Wenn sie nämlich schön und friedlich miteinander spielen. Einen winzigen Moment später können sie sich aber gegenseitig so hochschaukeln, dass man meint, eine ganze KiTa-Gruppe voller alternativbegabter Kinder alleinverantwortlich übernommen zu haben. Oder aber das eine Kind fällt die Treppe hinunter, während das andere gerade aus vollem Leibe brüllend mit bis unter den Hals vollgekacktem Body auf dem Wickeltisch liegt. Dann sind zwei Kinder sehr, sehr, sehr viele Kinder. Das alles überschlagen wir der Einfachheit halber mal mit 2 = 2.
Apropos: Nicht ganz unbedeutend ist auch der nervliche Zustand der Eltern. Natürlich haben die Jahre mit dem ersten Kind schon ihre Spuren hinterlassen. Zweifacheltern sind also nervlich schon etwas angeschlagen und können sicher auch nicht mehr die Extra-Kräfte mobilisieren, die in der Euphorie der Erstelternschaft abrufbar waren. Und genervte Eltern sind nun einmal pädagogisch äußerst ineffektiv. Ich habe daher gestern Tom gefragt, ob ich mehr mit ihm schimpfen würde als früher. Er schaute verständnislos:
»Was ist ›früher‹?«
»Na ja, ich meine, habe ich vor Hannahs Geburt viel mit dir geschimpft?«
»Nein, nie!«, sagte der liebste große Bruder vom Siegfriedplatz.
»Und jetzt, wo...