Einleitung
Das Wirtschaftswachstum ist die Religion der modernen Welt. Es ist ein Elixier, das Konflikte entschärft und unbegrenzten Fortschritt verheißt. Es bietet eine Lösung an für das gewöhnliche Drama des Lebens: dass der Mensch stets das will, was er nicht hat. Doch leider ist das Wachstum, zumindest in der westlichen Welt, in einen stockenden Verlauf geraten und flüchtig geworden. Boom folgt auf Krise und Krise auf Boom. Wie Hexer, die den Regen beschwören, strecken die Politiker die Hände zum Himmel, um es herbeizuzaubern, und ziehen sich den Groll der Völker zu, wenn es ausbleibt. Sucht die moderne Welt dann nach einem Sündenbock, weicht sie der zentralen Frage aus: Was wird aus unserer Erde, wenn sich die Verheißung eines unbegrenzten Wachstums als leere Versprechung erweist? Wird sie andere Befriedigungen finden oder verzweifeln und in Gewalt versinken?
Historiker sprachen von einer »europäischen Bewusstseinskrise«, um der tief sitzenden spirituellen Angst einen Namen zu geben, die im 17. Jahrhundert über Europa hereinbrach, als es mit Galilei und Kepler entdeckte, dass das Universum mit seinen Sternen nicht der Sitz der Götter ist. In einer ähnlichen Krise leben wir heute. Wenn sich das Wachstum verflüchtigt, verliert das Ideal des Fortschritts offenbar seinen Sinn. Ist das Leben noch lebenswert, wenn man es der Hoffnung auf das Göttliche beraubt, fragten sich unsere Ahnen. Heute lautet die Frage: Wird unser Leben trist und rau, wenn uns das Versprechen auf materiellen Fortschritt genommen wird?
Der große englische Ökonom John Maynard Keynes warnte Anfang der 1930er-Jahre vor dem Pessimismus seiner Zeit und gab eine Botschaft der Hoffnung aus, die bis heute erfrischend wirkt. Angesichts der sich damals abzeichnenden Krise forderte er dazu auf, keine falsche Diagnose zu stellen. Das »Wirtschaftsproblem«, so verkündete er, werde ebenso gelöst werden wie ein Jahrhundert zuvor das der Ernährung. Indem er die Geschwindigkeit, mit der die Industrie wuchs, hochrechnete, kam er zu der kühnen Behauptung, im Jahr 2030 müssten die Menschen nur noch drei Stunden täglich arbeiten und könnten sich somit dann den eigentlich wichtigen Aufgaben des Lebens widmen: der Kunst, der Kultur und der Metaphysik.
Doch Kultur und metaphysische Probleme sind bedauerlicherweise nicht zu den bedeutendsten Fragen unserer Zeit geworden. Mehr denn je bestimmt das Streben nach materiellem Wohlstand die modernen Gesellschaften, obwohl diese inzwischen sechsmal reicher sind als die Gesellschaften zu Zeiten von Keynes’ Prognose. Der große Ökonom sah den künftigen Wohlstand vollkommen richtig vorher, irrte sich aber gründlich in der Einschätzung dessen, wie wir mit ihm umgehen würden. Wie viele vor ihm verkannte er die ungeheure Anpassungsfähigkeit der Bedürfnisse des Menschen, der stets bereit ist, sämtliche Ressourcen auszuschöpfen, wenn es darum geht, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. »Sobald die Grundbedürfnisse befriedigt sind«, schrieb René Girard, »und zuweilen schon davor, überkommt den Menschen ein intensives Begehren, allerdings weiß er nicht, wonach. Denn er begehrt das Sein, ein Sein, von dem er das Gefühl hat, dass es ihm fehle und dass ein anderer es habe.« Wachstum ist kein Mittel zum Zweck. Es funktioniert eher wie eine Religion, von der erwartet wird, dass sie den Menschen dabei hilft, sich der Pein ihrer Existenz zu entwinden.
In einer Zeit, in der Milliarden Menschen diesem Gott huldigen und das Leben auf dem Planeten gefährden, ist ein grundlegendes Umdenken unabdingbar geworden. Kann man Keynes’ Prognose aufgreifen, aber andersherum davon ausgehen, dass sich das materielle Wachstum verabschiedet, und trotzdem in eine neue Ära des Glücks eintreten, sei es psychologischer, immaterieller oder anderer Art? Kurzum, kann man darauf setzen, dass Fortschritt an sich immer noch möglich ist?
Der Fortschrittsgedanke war Gegenstand eines gewaltigen Missverständnisses. Das Zeitalter der Aufklärung, das ihn im 18. Jahrhundert ins Spiel brachte, erhob ihn zu einem moralischen Wert, der mit Selbstbestimmung und Freiheit verknüpft war und sich kritisch gegen den Stillstand unter dem Ancien Régime richtete. Die industrielle Revolution, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in Europa entfaltete, machte dieses Ideal zur Verheißung besserer materieller Lebensbedingungen. Doch mit dem Aufbau gesellschaftlicher Strukturen, der mit dem industriellen Fortschritt einherging, wandte sie sich wieder von diesem Ideal ab! Zwar verdrängten Ingenieure die Priester, die industrialisierte Gesellschaft aber behielt ihre vormalige vertikale Ausrichtung bei. In der Familie wie in der Fabrik blieb das hierarchische Modell beherrschend, und der Fordismus, der das Aushängeschild der industrialisierten Welt war, bewahrte dessen pyramidalen Aufbau selbst noch im 20. Jahrhundert. In Frankreich sollte es bis 1965 dauern, ehe Frauen ein Bankkonto eröffnen durften, ohne ihren Ehemann um Erlaubnis zu bitten! Rund zwei Jahrhunderte nach der Französischen Revolution standen sie bei zahlreichen Rechtsangelegenheiten immer noch unter der Vormundschaft ihres Mannes. Für Frauen, wie für viele andere gesellschaftliche Gruppen, blieb die Vorstellung von Freiheit und Selbstbestimmung noch lange ein leeres Wort.
Erst in jüngster Zeit, erst im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte, verschwanden schließlich die letzten Überreste der bäuerlichen Gesellschaft. Die Arbeiter bearbeiten nicht mehr (landwirtschaftliche oder industrielle) Materie, sondern Informationsflüsse. Glaubt man dem US-Politologen Ronald Inglehart, so hat inzwischen die Kreativität die Autorität als strukturierenden Wert abgelöst. In seinen Augen haben die Ideen der Aufklärung doch noch ihre Revanche bekommen. Die Beschulung der Massen und der Wohlfahrtsstaat haben die Menschen aus Elend und Aberglauben geholt. Doch Inglehart verfällt bedauerlicherweise Keynes’ Irrtum, wenn er schlussfolgert, dass eine postmaterialistische Welt, die von den Zufälligkeiten der Notwendigkeit befreit wäre, in Reichweite sei. Im Gegenteil: Die postindustrielle Gesellschaft führt nicht zu Zuversicht und Toleranz, sondern zu wirtschaftlicher Unsicherheit und Angst vor der Zukunft und richtet so die Ideale, die sie doch hochhalten soll, am Ende zugrunde.
Wie einst der feudalen Welt war es der industriellen Gesellschaft, wenn auch verspätet, gelungen, eine bestimmte Produktionsweise und eine bestimmte Art, den Menschen Schutz zu bieten, zu vereinen. Heute installiert die neue digitale Wirtschaft unter dem vollständigen Bruch mit dem Vorangegangenen das Produktionsmodell der »Nullkosten«. Billige Software übernimmt Routineaufgaben von jeder erdenklichen Komplexität – vom Schachspiel über die Ausstellung von Fahrscheinen bis zu Börsentransaktionen. Google steuert über Computer Fahrzeuge. In Japan kümmern sich Roboter um alte Menschen. Angesichts des anschwellenden Digitalisierungsstroms, der bald jede Tätigkeit mit sich zu reißen scheint, steigt die nervliche Anspannung der Menschen, die am Arbeitsplatz ihrer Ersetzung durch Software entgehen wollen, in bislang unerreichte Höhen. Um eine Formulierung des Juristen und Psychoanalytikers Pierre Legendre aufzugreifen, lebt der moderne Mensch »über seinen psychischen Verhältnissen«, wie ein überschuldeter Haushalt, der sich in einer unhaltbar gewordenen Situation weigert, zur Kenntnis zu nehmen, dass sein Wohlstand verloren ist.
Die digitale Gesellschaft wird von einem seltsamen Paradox beherrscht: Während die technologischen Perspektiven, die sie eröffnet, noch nie so strahlend waren, fallen die Wachstumsaussichten enttäuschender denn je aus. In den USA haben 90 Prozent der Bevölkerung während der letzten dreißig Jahre keinerlei Steigerung ihrer Kaufkraft erlebt. In Europa sank das durchschnittliche Wachstum pro Einwohner im gleichen Zeitraum von 3 auf 1,5 und schließlich auf 0,5 Prozent. Wir erleben, was als Widerspruch in sich erscheint: eine industrielle Revolution ohne Wachstum! Wie ist diese erstaunliche Situation zu verstehen? Warum generiert die digitale Ära nicht die gleiche Beschleunigung wie ein Jahrhundert zuvor das elektrische Zeitalter?
Eine erste Erklärung ist auf der Seite der Arbeit zu suchen. Damit starkes Wachstum entsteht, genügt es nicht mehr, dass leistungsfähige Maschinen Menschen ersetzen. Vielmehr müssen Maschinen diejenigen, deren Arbeitsplätze sie vernichten, in neue Beschäftigung bringen. So war das Wachstum des 20. Jahrhunderts deshalb besonders robust, weil die Bauern, die aus ihrer ländlichen Arbeit vertrieben wurden, in der Stadt auf ein großes Potenzial an Industriearbeitsplätzen stießen. Heute reicht es nicht, dass an die Stelle wegfallender Arbeitsplätze in der Industrie solche für Gärtner entstehen, um ein dauerhaftes Wachstum zu gewährleisten. Dafür müsste schon der Gärtner Methoden ersinnen, mit denen sich die Quantität oder die Qualität (?) seiner Blumen steigern ließe.
Das führt zur zweiten Erklärung. Die Industriegesellschaft hat die gewaltige Aufgabe erfüllt, die Bevölkerung zu urbanisieren. Deutlich weniger ambitioniert ist die postindustrielle Gesellschaft. Sie bemüht sich zwar, soziale Interaktionen (durch Mitfahrgelegenheiten, Partnervermittlungen, ein großes Angebot an sozialen Kontakten und vieles mehr) zu verbessern, Belastungen (durch Lärm oder Umweltprobleme) zu reduzieren und die Angebotsvielfalt an Fernsehprogrammen auszubauen, schafft es aber laut dem Wirtschaftswissenschaftler Robert Gordon nicht, eine wirklich neue Konsumgesellschaft zu begründen. Abgesehen vom Smartphone erfährt der Verbraucher keine neuen Anstöße wie einst durch die Entwicklung der Glühbirne,...