InhaltsverzeichnisDas Schweigen
Julia Albrecht
Vielleicht ein oder zwei Wochen nach dem 30. Juli 1977 sollte ich mit den Pfadfindern nach Holland fahren. Ich weiß noch, dass meine Mutter mich fragte, ob ich auch wirklich an der Fahrt teilnehmen wolle, und dass ich ihr nicht antworten konnte. Ich wusste nicht, was ich wollte. Meine Mutter brachte es nicht über sich, mit Gesine, der Pfadfinderleiterin, zu sprechen, das tat meine älteste Schwester für sie. Ich habe keine Ahnung, was sie mit ihr besprach; es ging wohl darum, ihr mich ans Herz zu legen, ihr zu sagen, dass sie mich schützen oder Verständnis für meine schwierige Situation aufbringen möge.
Die Reise habe ich in ambivalenter Erinnerung. Einerseits als innig, insbesondere im Zusammensein mit einem anderen Mädchen, das die ganze Zeit sehr freundlich zu mir war. Andererseits als entfremdet und kalt. In Holland machte ich das erste Mal die Erfahrung, dass ich nicht wusste, wie noch sprechen, mit wem und worüber. Ich wusste ja noch nicht einmal, was genau mein Jammer war. Es war eine Mischung aus vielem. Das Erschrecken über den Mord. Die Trauer über die abwesende Schwester. Die tiefe Sorge, sie nicht mehr wiederzusehen. Die Scham darüber, was Susanne getan hatte.
Ich wusste nicht, ob die anderen Kinder wussten, was geschehen war. Und ich verstand nicht, wieso keiner mich darauf ansprach. Ich wusste auch nicht, worüber ich sonst hätte reden können, sodass ich außer dem Nötigsten kaum mit den anderen sprach.
Wir zelteten in schwarzen Jurten auf einem Campingplatz in einem sandigen Wald, und abends saßen wir ums Lagerfeuer, spielten Gitarre und sangen. Manchmal verließen wir den Wald und gingen in den nächstgelegenen Ort. An den Kiosken hing meine Schwester. Abgelichtet ihr Gesicht auf den Titelseiten der Zeitschriften, benannt die Tat in dicken schwarzen Lettern in den Überschriften der Zeitungen. Hier, in Holland, sah ich diese Publikationen das erste Mal. Mir scheint, als hätten mich meine Eltern bis zu diesem Moment davor geschützt. Damit nun in einer holländischen Kleinstadt konfrontiert zu werden, als Teil einer Gruppe von Mädchen, mit denen ich nicht eine Silbe über das Geschehene reden konnte, war schwierig für mich. Ich hatte den Impuls, hinzugehen und meine Schwester aus der Nähe zu betrachten. Vor allem aber hätte ich einfach gerne die Artikel gelesen, um womöglich mehr zu erfahren. Da aber niemand mit mir und ich mit niemandem über sie sprach, war es mir unmöglich, auch nur den Wunsch zu äußern, eine dieser Zeitschriften zu kaufen oder mich einem der Kioske zu nähern.
Ganz am Ende der Ferien, bevor ich wieder in die Schule musste, rief ich meine Klassenkameradin und Freundin Clara an. Irgendwie wollte ich mir den Weg in die Schule erleichtern. Ich wollte vorbauen für diesen grauenhaften Gang zurück in die Gruppe der anderen Kinder, die ich am Ende des letzten Schuljahres als Julia verlassen hatte. Und in die ich nun als Schwester von Susanne zurückkehren musste.
Clara begrüßte mich am Telefon fröhlich und fragte lustig: »Na, wie geht’s?« – und in mir verschwamm alle Gewissheit. Ich weiß nicht, was ich eigentlich erwartet oder erhofft hatte. Diese Begrüßung allerdings machte mich unglücklich und ratlos. Wieso tat sie so, als sei die Welt noch dieselbe wie vor sechs Wochen? Wieso deutete sie noch nicht einmal an, dass die Welt aus den Fugen geraten war?
Claras »Wie geht’s?« war die beste Vorbereitung auf das neue Schuljahr, die ich hätte bekommen können. Niemand von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern sprach mit mir über das, was geschehen war. Indem alle Welt schwieg, zwang man mir eine Normalität auf, die nicht mehr die meine war. Ich reagierte auf meine Art. Ich wurde auf eine Weise aufmüpfig, die die anderen Kinder erschreckte. Ich wehrte mich gegen die kleinsten Ungerechtigkeiten der Lehrer. Ich war eigenwillig und zornig. Und eines Tages warf ich den teuren Alu-Aktenkoffer meines Mitschülers Klaus aus dem zweiten Stock des Schulgebäudes nach unten auf den Hof. Meine Eltern kauften Klaus einen neuen Aktenkoffer und schenkten ihm einen Tennisschläger.
Ich verstehe bis heute nicht, warum es keine wirklichen Konsequenzen oder echten Trost für mich gab. Den Tennisschläger empfand ich als eine Art Bestechung, damit man nicht schlecht über uns dachte. Die einzige Zuwendung, die ich erhielt, war ein Verweis. Und immer noch sprach niemand mit mir.
Das tat dann – wesentlich später – endlich Michael, ein Mitschüler. Einer der nettesten. Eines Tages nahm er mich beiseite und sagte: »Julia, du musst aufhören, dich so zu benehmen. Wir mögen dich so nicht. Und wenn du nicht damit aufhörst, wollen wir dich auch nicht mehr als Klassensprecherin.«
Mir war klar, dass die Klassenkameraden lange darüber nachgedacht hatten, wer mir die Botschaft überbringen sollte. Und ich erinnere mich an meine Verzweiflung. Aber auch daran, dass ich trotz der tiefen Kränkung, die Michaels Worte für mich bedeuteten, gelöst und froh war. Endlich hatte mal jemand etwas zu mir gesagt, hatte mich jemand ernst genommen. Endlich wurde mir das Gefühl vermittelt, dass es mich überhaupt noch gab. Ich meine, dass ich nach dieser Kritik mein Verhalten wieder anpassen und ich mich in der Klasse ein wenig entspannen konnte.
Auch keiner der Erwachsenen, weder meine Lehrerinnen und Lehrer oder unsere Direktorin noch Mütter meiner Schulfreunde, sprach mit mir über die Tat meiner Schwester und die Folgen für mich. Beruhigende Worte, sanfte Umarmungen, milde Anteilnahme hätte ich benötigt. Menschen hätten mich in den Arm nehmen und sagen sollen: »Hey, Julia, ich weiß, was geschehen ist, und ich weiß, dass man darüber kaum sprechen kann. Aber ich will dir sagen, dass ich nachvollziehen kann, wie schlimm es sein muss, wenn die geliebte Schwester auf einmal weg ist, und noch dazu im Zusammenhang mit einer so grauenhaften Tat.«
Aufgeschrieben mag es albern klingen und kitschig. Aber solche oder andere Worte hätte ich gebraucht wie die Luft zum Atmen. Ich verödete in dem bruchlosen Schweigen um mich herum, das ja ein beredtes Schweigen war. Ein Schweigen, das immer schon wusste.
Alle, auch Menschen, die ich nicht kannte, wussten, was passiert war, und wussten, dass ich die Schwester von Susanne war. Mein Vater war relativ bekannt in Hamburg. So bekannt zumindest, dass die Zuordnung aus den Fakten, die die Zeitungen preisgaben, eindeutig war. Susanne war die Tochter meiner Eltern, und ich war die dazugehörige Schwester. In den Elbvororten, wo wir lebten, gab es niemanden, der nicht jemanden kannte, der jemanden kannte und mit dem Finger in die richtige, in unsere Richtung zeigen konnte.
An meiner Schule und in meinem sozialen Umfeld wusste es jede und jeder. Tragische Ereignisse sind das schönste Gesprächsthema. Und dieses Ereignis hatte eine Wucht, die alle um uns erfasste. Es war eine Geschichte zum Weitererzählen, eine Tragik zum Anteilhaben, ein Grauen, über das man nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte. Ich glaube, Verlegenheit war eines meiner Grundgefühle dieser Jahre.
Wenn ich auf dem Schulhof anderen Schülern begegnete, verstummte das Gespräch. Es gab perfide Situationen: Vor der Turnhalle stand eine Gruppe älterer Schülerinnen, die ich nicht kannte. Sie sprachen mich an, versuchten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie fragten mich scheinheilig, ob ich Geschwister hätte. Die Frage nach meiner Schwester, die sie nicht stellten, dröhnte in meinen Ohren. Ich wollte nur weg und musste mich doch konzentrieren, um nicht in die Falle zu tappen, die sie ausgelegt hatten. Was war die Falle? Dass ich über meine Schwester sprechen sollte. Dass ich über das, was geschehen war, Auskunft erteilen sollte. Das Perfide war, dass sie so taten, als hätten sie mich zufällig kennengelernt und zufällig Interesse an mir gefunden. Ich floh mit einer Ausrede.
Meine Freundin Elisabeth – sie war am Abend der Tat mit uns essen gewesen – hat mich einmal, vielleicht war es 1979 oder 1980, zu schützen versucht, als wir mit anderen Jugendlichen zusammensaßen. Wir waren in England auf einer Sprachreise. Die Gruppe hatte beschlossen, reihum die Reisepässe vorzuzeigen. Wir kannten einander nur beim Vornamen, und außer Elisabeth wusste niemand, wer ich war. Ich erstarrte, doch ich wusste keinen Ausweg und zeigte schließlich meinen Pass vor. Es passierte, was passieren musste. Schon der Zweite in der Runde sagte lachend: »Ah, dann bist du wohl die Schwester von Susanne Albrecht.« Das Gefühl des inneren Ausgelöschtseins ist schwer zu fassen, schwer zu erinnern und schwer zu beschreiben. Ich glaube, ich flüchtete auf die Toilette. Und ich meine, dass Elisabeth die Situation irgendwie im Griff hatte, als ich wiederkam, und es schaffte, mich wieder zu integrieren, und dass sie später auf dem Nachhauseweg zur Gastfamilie mit mir über den Vorfall sprach.
Susanne war allgegenwärtig. Stets war sie schon vor mir da. Überall in der Stadt, an jedem Bahnhof, an jeder Post, an Schaufenstern von Banken und an Litfaßsäulen hing sie. Alleine im Großformat oder spielkartengroß in der linken oberen Ecke der DIN-A3-großen Plakate. Ich glaube, die Fahndungsplakate sind eine Kollektiverinnerung. Jeder, der 1977 bei Verstand war, hat seine Geschichten damit. Doch für uns war es natürlich etwas anderes. Wir Kinder begegneten unserer Schwester, meine Eltern ihrer Tochter. Die Plakate brachten mich in eine widersprüchliche Situation: Ich wollte mich ihnen unbedingt nähern, wollte Susanne von Nahem sehen, mit ihr sprechen. Wollte ihre Haare streicheln und ihr...