2 Störungstheorien und -modelle
Vor dem Hintergrund des mit vielfältigen negativen Konsequenzen verbundenen anhaltenden Grübelns stellt sich die Frage, warum Personen grübeln und wodurch der Grübelprozess aufrechterhalten wird. In den vergangenen Jahren wurden hierzu verschiedene psychologische Erklärungsmodelle entwickelt und evaluiert.
2.1 Response Styles-Theorie
Nolen-Hoeksema (1991) hat mit ihren Arbeiten zur Theorie der Reaktionsstile (engl. Response Styles Theory; RST) die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen von Grübelprozessen vorangetrieben. Grundannahme ihrer The|19|orie ist, dass das Grübeln über Symptome, deren Ursachen und Konsequenzen dysphorische bzw. depressive Verstimmungen aufrechterhält und verstärkt, während kognitive und verhaltensmäßige Ablenkung diese abschwächt und verkürzt. Den negativen Effekt depressiven Grübelns führt Nolen-Hoeksema (1991) darauf zurück, dass durch die Fokussierung auf negative Emotionen stimmungskongruente Kognitionen aktiviert werden und die Personen in einen Aufschaukelungsprozess, bestehend aus negativen Interpretationen, Bewertungen und Erinnerungen, geraten. Zudem werden Interferenzen des Ruminierens mit der Konzentration, dem Problemlösen und der Handlungsinitiierung sowie negative Auswirkungen auf interpersonelle Beziehungen erwartet (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: Wirkweise depressiven Grübelns
In einem intensiven Forschungsprogramm wurden die Annahmen der RST in den vergangenen Jahrzehnten mit verschiedenen methodischen Ansätzen untersucht (Nolen-Hoeksema et al., 2008; Watkins, 2008): In experimentellen Untersuchungen zur Wirkweise ruminativer Reaktionen konnte wiederholt gezeigt werden, dass Rumination zu einer Verstärkung negativen Denkens im Sinne einer Zunahme pessimistischer Attributionsmuster, negativer Zukunftsprognosen sowie kritischer Selbstbewertung führt und mit einem vermehrten Abruf negativer Erinnerungen, einer reduzierten Spezifität autobiografischer Erinnerungen und reduzierter Konzentrationsfähigkeit einhergeht. Darüber hinaus zeigte sich in verschiedenen Untersuchungen, dass ruminierende Reaktionen mit einer geringeren Problemlösekompetenz wie auch vermehrter Unsicherheit bezüglich der Güte generierter Lösungen assoziiert sind. In Längsschnittuntersuchungen ließ sich zudem zeigen, dass das Ausmaß dispositioneller Rumination signifikant zur Vorhersage späterer Depressionswerte bzw. depressiver Episoden beiträgt. Von besonderer Bedeutung scheint |20|hierbei v. a. die als Brooding-Rumination bezeichnete Art grüblerischen Nachdenkens zu sein (vgl. Kap. 1.6).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine breite Evidenzbasis besteht für die von Nolen-Hoeksema postulierten Prozesse, die zum einen zur Aufrechterhaltung des Grübelns führen und zum anderen die negativen Effekte des Grübelns auf psychopathologische Symptome vermitteln (vgl. Kap. 1.5).
Während die Response Styles-Theorie von Nolen-Hoeksema (1991) vor allem Aussagen darüber macht, auf welche Weise die negative Wirkung depressiven Grübelns zustande kommt, beschäftigen sich die im Folgenden dargestellten Theorien in stärkerem Maße mit der Verursachung und Aufrechterhaltung einer grüblerischen Denkweise.
Therapeutische Implikationen
Die Annahmen und Befunde der RST sind insbesondere für die Psychoedukation über Konsequenzen und Wirkweise habituellen Grübelns relevant.
2.2 Grübeln als mentale Gewohnheit
Nolen-Hoeksema (1991) schlug bereits in einer frühen Fassung der RST vor, dass eine hohe Grübelneigung eine stabile, überdauernde Eigenschaft ist und sich in lerntheoretischen Begriffen als eine Gewohnheit verstehen lässt, mit der Personen auf niedergeschlagene Stimmung reagieren. Watkins und Nolen-Hoeksema (2014) haben diese Vorstellung von Grübeln als mentaler Gewohnheit weiter ausgearbeitet.
Unter einer Gewohnheit verstehen die Autoren eine erlernte Disposition zur Wiederholung vergangener Reaktionsmuster. Gewohnheitsmäßiges Verhalten wird ausgelöst durch Kontextmerkmale, die in der Vergangenheit wiederholt mit dem Verhalten einhergegangen sind (z. B. Orte, vorangegangene Handlungen oder bestimmte Personen). Habituelles Verhalten unterliegt dabei einem gewissen Automatismus, d. h. für die Initiierung und Ausführung bedarf es weder besonderer mentaler Kapazität noch einer vorangegangenen Absichtsbildung. Zudem unterliegt das Verhalten einer geringen mentalen Bewusstheit und ist willentlich nur schwer zu kontrollieren. Depressives Grübeln stellt eine Reaktion dar, die häufig, unbeabsichtigt und wiederholt unter gleichen Kontextbedingungen (z. B. negative Stimmung, Abwertung durch andere, Alleinsein) auftritt, und qualifiziert sich entsprechend als eine mentale Gewohnheit. In diesem Sinne berichten viele Betroffene, dass sie mehr oder weniger automatisch ins Grübeln hineingeraten.
|21|Vor dem Hintergrund, dass gewohnheitsmäßiges Verhalten vor allem durch Kontextmerkmale gesteuert wird, ist zu erwarten, dass depressives Grübeln auch dann nur schwer von den Betroffenen gesteuert werden kann, wenn es mit negativen Konsequenzen einhergeht bzw. sogar im Widerspruch zu den Absichten des Betroffenen steht.
Therapeutische Implikationen
Einsichtsorientierte Methoden und Strategien der kognitiven Infragestellung sind vermutlich unzureichend, um habituelles Grübeln zu modifizieren. Die Veränderung von Gewohnheiten beinhaltet vielmehr (1) die Identifikation und Kontrolle von Kontextfaktoren (Zeit, Ort, Stimmung, vorangegangenes Verhalten), die Grübeln automatisch auslösen, und (2) die Kopplung einer alternativen Reaktion an solche Trigger, die bislang Grübeln ausgelöst haben, d. h. den Aufbau einer neuen gewohnheitsmäßigen Reaktion (vgl. Kap. 4.1.2).
2.3 Grübeln als Vermeidungsverhalten
Unter einer operant-lerntheoretischen Perspektive wird negativen Verstärkungsprozessen bei der Aufrechterhaltung depressiven Grübelns besondere Bedeutung beigemessen. Martell und Kollegen (2010) mutmaßen, dass Grübeln der Vermeidung einer potenziell anstrengenden, frustrierenden und/oder erfolgslosen Auseinandersetzung mit Umwelt und Problemen dienen könnte. Durch das Ausbleiben von antizipierten Misserfolgen und Versagenserlebnissen wird der Grübelprozess kurzfristig negativ verstärkt. Zudem kann Grübeln als Entschuldigung für Inaktivität dienen („Indem ich darüber nachdenke, tue ich ja etwas“). Zum Beispiel könnte eine Person nach einer Auseinandersetzung mit einem Freund über die Ursachen und Folgen des Streits grübeln, statt ein klärendes Gespräch zu initiieren, in dem die Gefahr bestünde, erneut verletzt zu werden. Oder jemand grübelt im Kontext traumatischer Erlebnisse, um sich von den noch belastenderen intrusiven bildlichen Erinnerungen an das Trauma abzulenken. Im Kontext von Trauerprozessen mag kontrafaktisches Grübeln („Hätte er immer seine Medizin genommen, dann würde er jetzt noch leben“) auch dazu dienen, Gedanken über die Endgültigkeit der Trennung vom Verstorbenen zu vermeiden.
Der Grübelprozess kann mutmaßlich auch dadurch negativ verstärkt werden, dass es in einer aversiv-strafenden Umgebung angenehm sein mag, sich in Gedanken zu verlieren. Unter lerntheoretischer Perspektive dient der – an sich aversiv erlebte – Grübelprozess somit der Vermeidung noch unangenehmerer Zustände bzw. Situationen. Zudem erfahren Grübelprozesse möglicherweise dadurch intermittierende positive Verstärkung, dass aus ihnen in |22|der Vergangenheit bisweilen tatsächlich Einsichten oder Problemlösungen hervorgegangen sind.
An die Annahmen zur Vermeidungsfunktion depressiven Grübelns anknüpfend schlagen Nolen-Hoeksema et al. (2008) vor, dass Grübeln dem (unbewussten) Zweck dient, die Hoffnungslosigkeit und Unkontrollierbarkeit einer Situation derart zu betonen, dass es als unmöglich erscheint, bestehende Schwierigkeiten handelnd zu überwinden. Grübeln liefert den Autorinnen zufolge also eine gute begründete Rechtfertigung für Rückzugsverhalten und Inaktivität. Nolen-Hoeksema et al. (2008) vermuten des Weiteren, dass das vermeintlich sichere Wissen um die Nutzlosigkeit eigener Bemühungen weniger aversiv sein könnte, als die Ungewissheit darüber, ob eine Situation beeinflusst werden kann oder nicht. Grübeln soll unter dieser Perspektive ...