Einleitung
Seit dreißig Jahren (1972–2002) halte ich regelmäßig Vorlesungen über Paulus, seine Briefe und seine Theologie. Von Anfang an habe ich Paulus als Judenchristen betrachtet, der Jude blieb. Daher war mir klar, daß keine konfessionelle Vereinnahmung ihn erfassen kann. Das mag ein Grund dafür sein, daß Paulus in den letzten fünfundzwanzig Jahren aus dem Zentrum der neutestamentlichen Wissenschaft verschwunden ist. Zahlreiche Kommentare zum Römerbrief und ebenso viele irenische Gesamtdarstellungen sind zu verzeichnen, die freilich niemanden mehr aufregen. Für eine allein auf Verwendbarkeit biblischer Stoffe erpichte Pfarrerschaft gilt Paulus als zu schwierig und kaum vermittelbar, doch das ist für Paulus im Rahmen der Kirchengeschichte nichts Neues. Auch die Edition der Römerbriefvorlesung von Erik Peterson (1997) hat daran nichts geändert. Und inzwischen edierte Texte wie der große Römerbriefkommentar Wilhelms von St. Thierry (12. Jahrhundert) harren der eigentlichen Entdeckung, da dieses bedeutende Werk vorerst nur lateinisch zugänglich ist. Es scheint vielmehr so, daß Karl Barths dogmatischer Kommentar zu diesem Brief 1919 das letzte fächerübergreifend paulinische Ereignis war. Und die Korintherbriefe sowie der liebenswerte Brief an die Philipper befinden sich weiterhin im Dornröschenschlaf. Für den Philipperbrief ist seit der gelehrten Auslegung von A. G. Hoelemann (Leipzig 1839), die im übrigen wohl wegen ihrer Latinität völlig vergessen ist, nichts Bewegendes mehr erschienen. Unter den Gesamtdarstellungen über Paulus geben die Bücher von Eduard Lohse und Jürgen Becker den Konsens am besten wieder.
Der besondere Aspekt dieses Paulusbuches. – Paulus ist immer nur in Spannungsfeldern greifbar. Es sind die Spannungen zwischen Judentum und griechischer Philosophie, zwischen Apokalyptik und pragmatisch-rationaler Kirchenpolitik, die Paulus selbst auszeichnen. Innerhalb des vergangenen Jahrhunderts lassen sich vier Schwerpunkte ausmachen, von denen aus man Paulus meinte erfassen zu können. Der erste Schwerpunkt war die Rechtfertigungsdoktrin des Galater- und des Römerbriefes – ein Interesse, das sich vor allem der Reformation verdankte. Der zweite Schwerpunkt ist die Auslegung von den Sakramenten der Taufe und des Herrenmahles her in der Religionsgeschichtlichen Schule; ihr erschien die Rechtfertigungslehre nurmehr als ein «Nebenkrater»; der Hauptkrater hieß jetzt Kultmystik und damit Sakramente. Ein dritter Schwerpunkt war die Wiederentdeckung Pauli als eines Juden. Und schließlich beginnt man, wieder einmal die Beziehungen zwischen Paulus und der zeitgenössischen Philosophie (Stoa, Kynismus) zu entdecken und damit seine grundlegende Offenheit gegenüber der Beschränkung auf den jüdischen Hintergrund zu ermitteln, ja zu fordern. Alles das hat immer genaue kirchengeschichtliche Entsprechungen: den Konfessionalismus, die liberale Theologie als Gegenschlag dagegen, die Bemühungen um den jüdisch-christlichen Dialog und die interreligiöse «Szene» der jüngsten Gegenwart.
Der hier gewählte Ausgangspunkt bedeutet demgegenüber: «Theologie ist Biographie». Für wen gälte das mehr als für Paulus, der das meiste, was wir von ihm wissen, in einer Stunde Null des Christentums zum erstenmal erlebt und erdacht hat, in einer einsamen und schwierigen Existenz, schließlich als Märtyrer.
Wir gehen vom 2. Korintherbrief aus (der letzte große Kommentar, der dazu erschien, war der von H. Windisch 1924) und versuchen, die paulinische Auffassung von seiner Berufung und von seinem Beruf als Angelpunkt seiner Theologie zu erkennen. Dieses Vorgehen hat folgende Vorzüge: Der Lebensbezug der paulinischen Aussagen wird klar erkennbar. Die persönliche Biographie und vor allem die Auffassung vom eigenen Stellenwert innerhalb der Erlösung sind die Schnittstellen zwischen kirchenpolitischen Ambitionen und vielen theologischen Lösungen, die Paulus in verschiedenen Situationen neu erdenken mußte. Aussagen, die man früher als überzogenes Selbstbewußtsein oder unverschämtes Selbstwertgefühl Paulus moralisch ankreidete, wie zum Beispiel die häufigen Aufforderungen, Paulus selbst sich zum Vorbild zu nehmen, werden – wenn auch als bleibend fremde Gäste – verstehbar oder wenigstens rekonstruierbar. Da es sich um das Verständnis des Apostolats handelt, wird der Zusammenhang von Christusbotschaft und Kirche erkennbar.
Ein zweites Zentrum wird angedeutet mit dem Stichwort «Gefahr». Damit werden alle Anlässe und Anliegen zusammengefaßt, aus denen heraus Paulus überhaupt seine Briefe schreibt. Dabei wird sich erweisen, daß vieles, was im Laufe der Zeit als Gefahr auftaucht, offene Fragen der anfänglichen Botschaft waren, die eben erst allmählich in all ihren Konsequenzen entfaltet werden mußte. Die Hauptgefahr ergab sich nach Auffassung der älteren Forschung aus dem Problem der Parusieverzögerung, d.h. aus der Tatsache, daß der Herr noch nicht zum Gericht wiedergekommen war. Noch vor wenigen Jahrzehnten machte man dieses Problem zur Mutter der christlichen Theologie und versuchte unter anderem die gesamte auf Jesus bezogene Dogmenbildung, das Phänomen Kirche einschließlich Sakramenten und ebenso die sittlichen «Mißstände» von diesem einen Punkt herzuleiten. Doch nur wenige Texte bei Paulus sind von Naherwartung getragen, und auch wenn der 2. Thessalonicherbrief paulinisch ist, dann geht es dort eben darum, eine als abwegig abgekanzelte Art von Parusieerwartung zu bekämpfen. Dutzende von Kapiteln bei Paulus sind ganz frei von diesem Thema, und der Galaterbrief enthält überhaupt keine Erwartung eines zukünftigen Gerichts oder einer neuen Welt; auch im 2. Korintherbrief ist dieses Thema ganz schwach entwickelt. Hier ist also Vorsicht geboten, und man sollte nicht monokausal alles aus der um 1900 grassierenden Debatte um Eschatologie herleiten. – Nein, die Gefahren sind umfassender und ergeben sich aus meiner Sicht vor allem aus der zur Zeit der Paulusbriefe und weit darüber hinaus nicht zufriedenstellend geklärten theologischen Identität der Christengemeinde im ganzen. Bis heute (und gerade heute) ist dieses Problem aktuell, und auf der Seite des frühchristlichen Amtes entspricht ihm die Frage nach der Legitimität. Da dieses aber eher eine Frage der Berufung ist, ergibt sich das Nebeneinander von «Berufung und Gefahr» in diesem Buch auch als intensiver innerer Bezug zwischen Legitimität und Identität.
Indem wir also von Berufung und Gefahr sprechen, meinen wir zwei Brennpunkte einer Ellipse. Der eine betrifft mehr den Apostel Paulus, der andere mehr die Gemeinden. Doch ist das ganz und gar nicht exklusiv zu verstehen. Diese beiden Brennpunkte kehren thematisch immer wieder in einer Reihe von Denkstrukturen, die sich überall bei Paulus finden:
(1) Unaufgebbare, nicht reduzierbare Spannungen. Dazu gehört die «Freiheit vom Gesetz» neben der bleibenden Geltung des Gesetzes; Befreiung vom Buchstaben meint eben anderes als Freiheit von jeder Ordnung. Ferner: Die Spannung zwischen geschwisterlicher Liebe in den Gemeinden im Kontrast zur allgemeinen Menschenliebe. Dem entspricht die Spannung zwischen Gottes bleibend schmalem Weg der Erwählung (Israel; Gemeinde der Heiligen) und der Zuwendung des Evangeliums zur ganzen Welt.
(2) Das Prinzip des Umwegs: Sünde und Ungehorsam sind in gewisser Hinsicht erwartbare oder sogar notwendige Umwege auf dem Weg zum Heil aller. Die Gabe des Gesetzes an Israel, welches Gesetz «dazwischen hineingekommen ist» (Röm 5,20), erscheint als Umweg und retardierendes Element auf dem Weg Gottes mit der Menschheit. Ähnlich könnte man das Bekenntnis «Jesus ist Gottes Sohn» als einen ärgerlichen, aber notwendigen Umweg auf der Straße ansehen, die zur Gotteskindschaft aller Menschen führt. Alle Leiden des Apostels und der Christen sind Umwege zwischen der in der Taufe zugeeigneten Herrlichkeit und ihrer endgültigen Vollendung. Aus demselben Grund sind apostolische Ermahnungen Umwege auf der Straße, die dazu führt, daß alle Gotteskinder sich vom Heiligen Geist leiten lassen.
(3) Gott führt alles zu seinem Ende, und dieses Ziel heißt Teilhabe an Gottes Herrlichkeit, in der alle Spuren der Herrschaft des Todes beseitigt sind.
(4) Heil wie Unheil haben grundsätzlich gemeinschaftlichen Charakter. Nichts liegt Paulus ferner als religiöser Individualismus; daß man gerade dieses um 1900 anders sah (Adolf von Harnack) und gerade für Paulus einen ausgeprägten religiösen Individualismus annahm, hat bis heute im liberalen Protestantismus, der damals zur Zukunftsreligion erklärt wurde, ein Verständnis des Phänomens Kirche weitgehend blockiert. Beispiele: «Sünde» ist in erster Linie Merkmal einer globalen Situation («sündige Strukturen»). Oder: «Leib» ist nach Paulus das Organ des Kontaktes mit anderen und daher auch Bild für die Gemeinde im ganzen. «Gerechtigkeit» bedeutet nichts anderes, als dem anderen das Miteinander zu ermöglichen. Und verständiges «Sich-Rühmen» bezieht sich nie auf den Menschen selbst, der sich rühmt, sondern immer auf eine andere Größe – so rühmt sich Paulus seiner Gemeinden. Das korporative Netz der Beziehungen ist für den Juden...