I.
MUTTER UND SOHN
MUTTER
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Der katholische Freund schließt nicht aus, daß der Evangelist Lukas persönlich das Bild gemalt habe. Er hat Artikel darüber geschrieben, wie er es aufstöberte, von denen ich erst einen las. Im Labor ist das Holz noch nicht untersucht worden. Die Nonnen hätten Sorge, weil es bereits so morsch sei. Kunsthistoriker hätten das Bild allerdings für eindeutig antik befunden, erstes Jahrhundert sei wahrscheinlich. Die Jungfrau hat auch mich angeschaut, ohne Alter.
Der Freund brachte mich zu dem Kloster, das in einer gewöhnlichen Wohnstraße auf dem Monte Mario liegt, am anderen Ufer des Tibers neben dem Hilton, und ließ sich durch eine Sprechklappe in der bröckligen Seitenmauer den Schlüssel aushändigen, während ich im Auto wartete. Bevor er mich in die Kapelle führte, wo die Nonnen das Bild bereits für uns umgedreht hatten, pinkelte er noch ins Gebüsch neben dem Eisentor. Gewöhnlich schaut die Jungfrau in den Gebetsraum der Nonnen, die sich lebenslang eingesperrt haben, weder Besucher empfangen noch auf Reisen gehen oder auch nur spazieren oder einkaufen. Gott genügt.
Durch das vergitterte Fenster, in dem das Bild hängt, sahen wir einige von ihnen und hörten alle im fahlen Licht beten, bis übers Kinn verschleiert, weißes, gestärktes Gewand, schwarze Hauben. Fünf der dreizehn Schwestern sind über achtzig. Die in dem Ausschnitt der Gebetsbank saßen, den ich durch das Fenster sehen konnte, waren nicht jünger. Auf den kahlen Wänden ihrer Barockkirche zeichnen sich großflächig die Wasserflecken ab. Der Freund sagt, daß die Leitungen verrotten, die Telefone nicht funktionieren und an Reparatur nicht zu denken ist, bevor das Kloster seine Schulden begleicht. Die Bitte um Spenden ist der Teil ihres Gebets, dessen Erfüllung noch aussteht.
Nach einigen Minuten löschten die Nonnen das Licht, so daß wir nur noch ihre Stimmen hörten, ein Vers tief, ein Vers hoch, Singsang mit Pausen, ohne daß ich ein Wort verstand. Seinem Buch hat der Freund ein Zitat des zurückgetretenen Papstes vorangestellt, das nichts Neues sagt, doch immer wieder neu zu sagen ist: «Große Dinge werden durch die Wiederholung nicht langweilig. Nur das Belanglose braucht die Abwechslung und muß schnell durch anderes ersetzt werden. Das Große wird größer, indem wir es wiederholen, und wir selbst werden reicher dabei und werden still und werden frei.» In Rom wurde ich ohnehin neidisch aufs Christentum, neidisch selbst auf einen Papst, der auch solche Sätze sagt, und wenn ich den Gedanken der Inkarnation in nur einem Menschen nicht für grundverkehrt hielte und speziell die katholische Vorstellungswelt mir nicht so heidnisch vorkäme, mich die Ordnung nicht abstieße, die alle und eben auch die menschlichen Verhältnisse hierarchisiert, die Demonstration von Macht in jeder katholischen Kirche, dazu die bis in den Blutrausch reichende Leidensvergötterung, womöglich hätte ich mich seinen Praktiken nach und nach angeschlossen, hätte die lateinische Messe besucht und wäre mit Pausen in den Singsang eingefallen, wenngleich anfangs mehr aus ästhetischen Gründen, vielleicht auch aus Faszination für die beispiellose Kontinuität einer Institution, die aus Gottes Angehörigen eine Gemeinschaft bildet. Nur ihr ist sie auf Dauer gelungen. Wer weiß, vielleicht wäre auch mir eines Tages das Wunder erschienen, das dieses prächtigste aller Himmelsgebäude hervorgebracht hat. So halte ich die Möglichkeit zwar weiterhin für falsch – aber erkenne, mehr noch: spüre, warum das Christentum eine Möglichkeit ist.
Als sei die Dunkelheit nicht Klausur genug, klappten unsichtbare Hände von innen die Fensterläden zu, so daß wir nur noch die Ikone sahen, nicht mehr in den Raum dahinter. Erhalten geblieben ist nur das Gesicht Mariens in den erstaunlichsten Farben, der Ansatz ihres Schleiers, zwei vergoldete Hände, die zu einem Weg weisen, aber auch Abwehr signalisieren könnten, sowie das Kreuz auf der Höhe ihres Herzens, ansonsten nichts als ihr Umriß. Und natürlich der goldene Grund! In der Sprache der Ikonenmaler werde er «Licht» genannt, erklärt flüsternd der Freund, weil das Gold die Heiligen wie das himmlische Licht umfange. Es gibt keine einseitige Beleuchtung, keine gedachte Lichtquelle, sondern die Farben selbst sind licht, und am lichtesten das Gold. Weil sich der Freund zu einem Rosenkranz zurückzog, hatte ich Zeit mit der Jungfrau. Wieso nenne ich sie überhaupt Jungfrau, wenn ich nicht an die Mutterschaft Gottes glaube? Ein Wort: Getroffensein. Gott hat sie getroffen. Das ist Gnade und Qual, das verleiht Flügel und schmettert nieder, das streichelt und ist ein Hammerschlag. Macht alles verlieren und Gott genügen.
Maria Advocata. Spätantike Holztafel. 42,5 × 71,5 cm. Kloster Santa Maria del Rosario, Rom
Die großen braunen Augen schauen dich an, als hätte der viel kleinere Mund anfangs noch wie der Mystiker Halladsch gerufen: Rettet mich, Leute, rettet mich vor Gott. Das hat sie auch, Hilfe gerufen, anfangs, als sie es erfuhr, ich bin mir sicher. Frohe Botschaft! röhrten die Könige und brachten Geschenke, aber ich bin mir sicher, daß sie alles war, nur nicht froh. Sie trug es, ertrug es, wie die Heiligen es tragen, das macht sie schließlich dazu, nicht die Auszeichnung, sondern sie aushalten zu können. Zur Staatsfeindin geworden über Nacht, floh sie, übernachtete in Scheunen, in Kellern und zur Not in der Wildnis, die vor zweitausend Jahren noch eine war, immer das Kind bei sich, immer die Sorge, die nicht dadurch größer oder kleiner wurde, ob es ein oder der Sohn Gottes war. Die Sorge war es jeder Mutter. Später stand sie daneben, als man ihn ins Gesicht schlug, mit der Peitsche durch die spuckende Menge trieb, sah die Dornen, die sich zentimetertief in seine Stirn bohrten, sah ihn das Kreuz tragen, auf das man ihn mit Nägeln befestigte, sah das Kreuz aufgerichtet werden und die Leute johlen, sah den Sohn dort oben Stunde um Stunde bluten, stöhnen, dürsten, vor Schmerz und Verzweiflung schreien. Vielleicht blickte er nicht nur in den Himmel und fragte, warum Gott ihn verlassen habe. Bestimmt blickte der Sohn aus der Höhe, in der ihn die Menschen ausstellten, auch nach unten zu seiner Mutter. Zeigt das Bild sie davor oder danach?
Bestimmt gibt es in der Ikonenmalerei ein Gesetz, das meine Frage beantwortet. Der katholische Freund schreibt, als sei es selbstverständlich, daß dieser Blick gesehen hatte, wie der Sohn, ihr Sohn, in Armeslänge neben ihr zu Tode gemartert wurde. Andererseits scheint die Jungfrau nicht in dem Alter, in dem sie bereits um ihr erwachsenes Kind trauern könnte. Mit dem dünnen, wie durchgedrückten Nasenbein und den großen, beinah runden Wangen ist sie übrigens sehr schön, nicht eine römische Hure wie bei Caravaggio oder eine französische Gräfin wie bei Raffael, sondern eindeutig orientalisch. Nein, sie ist noch jung und hat doch schon erfahren, was es bedeutet, von Gott aus- und heimgesucht worden zu sein, glaubt zumindest, es erfahren zu haben, kennt schon den Schmerz und ahnt, mehr noch: weiß, daß der Schmerz sich ins Unermeßliche noch steigert. Nur das Unermeßliche selbst hat nicht einmal diese Jungfrau erlebt. Würde man es zeigen, wäre es keine Ikone mehr. Die Leute würden weglaufen vor Angst. Wenn es eins ist, wäre das Wunder der katholischen Kirche, daß sie es nicht tun, daß sie nicht wegrennen. Aus mir unerklärlichen Gründen zelebrieren sie gerade das Abstoßendste, das zugegeben das Wahrhaftigste sein mag, aus Sadismus, wenn man es böse deutete, oder Wirklichkeitssinn, was es hoffentlich ist. Nur Maria halten sich die Katholiken rein, und das begreife ich so gut. Sie malen Madonnen, um sich zu trösten, weil es ohne Trost nicht geht, malen Bilder eines makellosen Gesichts. Jungfräulichkeit bedeutet für mich nichts anderes: rein – und damit immanent gesprochen: gereinigt – von der Erfahrung.
SOHN
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Der Junge ist häßlich. Er ist noch viel häßlicher als auf diesem oder überhaupt jedem Photo, das ich im Internet aufgestöbert oder mit der guten Kamera, die ich mir geborgt, selbst aufgenommen habe. Von Bild zu Bild klickend, würde ich so weit gehen zu sagen, daß der Junge geradezu photogen ist – wenn ich mir sein wirkliches Aussehen vor Augen führe. Der Mund zum Beispiel, dieser offene Mund: hasenschartig der Unter-, hervorstehend der Oberkiefer, und mehr noch die Lippen: die untere kurz oder genaugenommen nicht kurz, sondern gestaucht, fett in die beiden Wölbungen sich dehnend, dazu eine Oberlippe wie ein Zelt, das von zwei Schnüren nach oben gezogen wird und sich seitlich bis über die Mundwinkel ausbreitet. Auf den Aufnahmen, weil sie immer nur einen Blickwinkel einfangen, ist bestenfalls zu ahnen, wie blöd der Junge mit seinen auseinanderklaffenden Lippen aussieht, wirklich blöd, also mehr als nur unschön, nämlich tumb, und zwar so eine fiese Tumbheit, die zugleich etwas Plumpes und Garstiges hat, etwas Verzogenes, Bengelhaftes, nur an sich Denkendes. Unangenehm, geradezu unappetitlich ist die...