Die Psychologin und Buchautorin Cornelia Mack bringt den Pareto-Effekt ins Spiel, um das Perfektionsstreben zu pathologisieren: Dieser besagt, dass 80 Prozent der Ergebnisse in 20 Prozent der Gesamtzeit eines Projektes erreicht werden. Die verbleibenden 20 Prozent der Ergebnisse benötigen 80 Prozent der Gesamtzeit und verursachen die meiste Arbeit. Daher sei es eigentlich produktiver, zwei Sachen zu 80 Prozent zu erledigen als eine Sache zu 100 Prozent. Na ja, diese Methode sollte man wohl nicht flächendeckend anwenden: Frau Mack ist zu wünschen, dass ihr Automechaniker, Installateur und Onkologe nicht nach diesem Prinzip arbeiten.
Exzellenz – na und?
Ohne viel nachzudenken, begeistert es uns, wenn Anne-Sophie Mutter zur Geige greift, die Gruberová ihre Stimme erhebt, Stefan Zweig seine Erzählungen meisterlich zu Papier bringt, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz ihre klugen Gedanken in wahrer Sprachkunst entfaltet, Pablo Picasso unübertroffen den Pinsel führt, Michelangelo aus Marmorblöcken Wunderwerke schafft und die Wiener Philharmoniker mit ihrem Neujahrskonzert Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt verzaubern. Und es ist – auf einer ganz anderen Ebene – ganz toll und faszinierend, wie Lionel Messi die Gegner schwindlig dribbelt, Hermann Maier den Skihang runterzischt und Sebastian Vettel jahrelang die Konkurrenz düpierte.
Das alles ist nicht krank, sondern macht die Anziehung der Brillanz, der Exzellenz, der Perfektion aus. Das ist der »Himmel auf Erden«, die aristotelische Entfaltung der Natur. Das ist Vollkommenheit! Wir würden uns sicherlich viel weniger freuen oder sogar desinteressiert abwenden, wären diese Akteure beim Erlernen ihrer erstaunlichen Fähigkeiten mit weniger als dem Absoluten zufrieden gewesen, wären sie in der Mittelmäßigkeit steckengeblieben. Sind wir alle deshalb schon Perfektionisten? Ist das schon der negative Einfluss der ach so krank machenden Leistungsgesellschaft, die uns die Köpfe verdreht hat?
Warum hat sich die TV-Sendung »Wetten, dass …« über 30 Jahre bis ins Jahr 2014 gehalten? Weil wir miterleben wollen, was andere Großartiges und Unglaubliches zustande bringen. Weil wir staunen und bewundern wollen. Höchstleistungen, Exzellenz, Brillanz und Perfektion sind attraktiv: Sie ziehen an. Umgekehrt kann man sicherlich behaupten, dass Perfektion auch für den Ausführenden beglückend ist. Es ist völlig normal und kein Symptom einer überzüchteten Kultur oder des Unterganges des Abendlandes, wenn der Mensch Perfektion anstrebt. Die Sixtinische Kapelle hat Künstler, Auftraggeber und schon seit 500 Jahren die Besucher begeistert und in Staunen versetzt.
Hohe Ziele? Großartig! Keine falsche Demut! Mittelmäßigkeit kann doch bitte kein Maßstab sein! Sogar die mittelalterliche Philosophie bestärkt uns darin. In ihr gab es die Tugend der »magnanimitas«, ins Deutsche eher holprig als »Hochgemutheit« übersetzt. Sie ist »das Sichspannen des Geistes auf die großen Dinge; wer sich das Große zumutet und sich seiner würdig macht, der ist hochgemut«, sagt Josef Pieper, Philosoph und Experte für Aristoteles und Thomas von Aquin. Nein, wir sprechen weder vom Narzissmus noch von eitlem Hochmut, sondern von einer Tugend, die noch dazu – laut alter Philosophie – mit der Demut verschwistert ist. Der Hochgemute ist wählerisch, denn er lässt sich vom Kleinen und Nebensächlichen nicht aus der Reserve locken und beeindrucken, sondern nur vom Großen, das ihm gemäß ist. Dem kleingeistigen Spießer fehlt genau diese Nase, dieses Gespür, diese »magnanimitas«: Von ihm ist aufgrund seiner inneren Enge und ängstlichen Angepasstheit nicht viel zu erwarten.
Überraschenderweise blockiert sich der Perfektionist in der Regel selbst und kann sich aus Angst vor dem Scheitern nicht zur »magnanimitas« aufschwingen. Deswegen schlittert der ängstlich-perfektionistische Neurotiker immer weiter in die Kleinlichkeit des Groschen- und Erbsenzählers, während die großen Dinge an ihm vorüberziehen.
Die »magnanimitas« will vor allem – und in erster Linie – das Ehrbare, und durchaus auch (doch erst in zweiter Linie) die Ehre, die damit verbunden ist. Auch das ist noch keine psychiatrische Diagnose. Thomas von Aquin stellt fest: »Der Hochgemute spannt sich auf das, was der höchsten Ehre wert ist.« Und: »Wenn einer auf solche Weise die Ehre verachtete, dass er sich nicht darum sorgte, zu tun, was Ehre verdient, so wäre das zu tadeln.« Ehre ist nicht unbedingt Applaus. Der Hochgemute verbiegt sich nicht, passt sich nicht der Mittelmäßigkeit an, zieht sogar ein Leben in Armut einer Prostitution seines Talentes vor, wenn das die Alternative sein sollte. Die Kunstgeschichte kennt einige Genies, die beim spießigen Establishment angeeckt sind. Sie sind trotzdem unbeirrt ihren Weg weitergegangen, wenn auch unter Schwierigkeiten – und konnten sich so nur ganz langsam oder wie van Gogh post mortem durchsetzen. Durch Verachtung und Entehrung vonseiten des mächtigen Spießertums wird der Hochgemute nicht gebrochen, eher verachtet er die Entehrung als seiner unwürdig.
Der Perfektionist hingegen bleibt beim »Was denken die anderen?« hängen. Die Frage »Wie komme ich an?« lässt ihn nie ganz los. Er kann sich nicht selbstlos und bedingungslos der Sache hingeben, »koste es, was es wolle«. Im Grunde geht es ihm gar nicht um die Perfektion an sich – sie ist für ihn nur Mittel zum Zweck. Ganz anders die »magnanimitas«: »Niemals vermöchte der Hochgemute einen anderen Menschen so hoch zu schätzen, dass er um seinetwillen etwas Ungeziemendes täte«, beschreibt Pieper diese großen Seelen. »Unerschrockene Aufrichtigkeit ist das Kenn-Mal der Hochgemutheit; nichts ist ihr so fremd wie dies: aus Furcht zu verschweigen, was wahr ist. Schmeichelworte und Verstellung, die beide aus einem kleinen Herzen ihren Ursprung nehmen, meidet der Hochgemute ganz und gar. Der Hochgemute klagt nicht; denn sein Herz lässt sich nicht besiegen von irgendeinem äußeren Übel. Hochgemutheit schließt in sich eine unbeugsame Festigkeit des Hoffens, eine geradezu herausfordernde Zuversicht und die gänzliche Ruhe eines furchtlosen Herzens. Der Hochgemute unterwirft sich nicht der Verwirrung des Gemütes, nicht irgendeinem Menschen, nicht dem Schicksal – nur Gott.«
Der preußische General Johann Friedrich Adolf von der Marwitz verweigerte in diesem Geiste während des Siebenjährigen Krieges die befohlene Plünderung des eroberten sächsischen Schlosses Hubertusburg. Er antwortete seinem König Friedrich II.: »Das würde sich allenfalls für den Offizier eines Freibataillons schicken, nicht aber für einen preußischen General!« und ersuchte um Abschied aus der Armee. Auf seinen Grabstein ließ sein Neffe folgende Worte setzen: »Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in all seinen Kriegen. Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.«
Gut gemachte Arbeit
»Der Mensch wird zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Flug« ist eine alte jüdische Weisheit, die Martin Luther gerne und oft wiederholt hat. Tatsächlich tut es dem Menschen gut, zu arbeiten – und es fühlt sich auch gut an, exzellente Arbeit abzuliefern. Der Mensch ist vernetzt mit seinen Mitmenschen – ein Zoon politikon, ein Gesellschaftstier. Keiner bleibt gern allein, und jeder ist auf den anderen angewiesen. Unsere menschliche Gesellschaft funktioniert nur, wenn wir alle einen Beitrag leisten, und es wäre echt hervorragend, wenn dieser Beitrag nicht von groben Fehlern durchzogen wäre. Gut getane Arbeit ist sinnvoll und tut in erster Linie dem Arbeiter selber gut, denn es ist sein Betrag zur Gesellschaft. Insofern der Mensch seine Arbeit als Dienst an der Gesellschaft versteht – oder dem sogar eine transzendente Bedeutung abgewinnen kann –, kann er aus seiner Isolation ausbrechen, die nur für den egozentrischen Verdienst alleine arbeitet.
FALL 2-1: Die lächerliche Prüfung
Der Student Joseph P. lernt wochenlang für seine Prüfung auf Teufel komm raus. Dann absolviert er erfolgreich das Examen. Für ein paar Minuten überkommt ihn eine kurze Freude über sein exzellentes Abschneiden – dann gleich das Gefühl der Ernüchterung: »Na ja, das war eigentlich ja gar nix, nicht der Rede wert, die wirklich guten Studenten haben die Prüfung schon lang …« Joseph P. kann sich über keinen Erfolg freuen. Das zehrt an seiner Lebenszufriedenheit, und er weiß nicht, wie er da rauskommen soll.
Joseph P. ist ein guter und ehrgeiziger Student mit hohen Zielen. Das ist noch keine Krankheit. Sinn der Therapie kann nicht sein, dass er weniger lernt, sondern dass er sich darüber freuen kann, dass er das für ihn Bestmögliche herausgeholt hat. Dass er sich so darauf vorbereitet, seinen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Es ist nicht schlecht, dass er sich an den Besten seines Jahrganges orientiert. Schlecht – im Sinne von ungeschickt, unpraktisch – ist, dass er sich im Vergleich zerfleischt. Der sachlich...