3 Neuropsychologische und Neurobiologische Grundlagen
Verhalten basiert auf einer Reihe inner-psychischer Vorgänge, die es dem Individuum ermöglichen, sich und die soziale Situation wahrzunehmen (Wahrnehmung, Emotion), Handlungsziele zu generieren, zielgerichtet zu verfolgen (Kognition, Motivation) und auf mögliche Rahmenbedingungen (Umweltfaktoren, soziale Bezüge) flexibel und adaptiv zu reagieren (Verhalten). Abbildung 7 veranschaulicht das komplexe Zusammenspiel der wesentlichen Einflussfaktoren für das Verhalten in einer konkreten Situation, das sich zudem kontinuierlich dynamisch verändert. Entsprechend der Komplexität dieser Prozesse sind an der Verhaltenssteuerung kortikale und subkortikale Netzwerke, sowie autonome und neurochemische Steuerungsprozesse beteiligt. Bislang fehlen Querverbindungen zu Modellen der Persönlichkeitspsychologie oder den spezifischen Persönlichkeitsstörungen wie sie in der ICD unter der Ziffer F6 codiert werden. Entsprechend heterogen ist die Begrifflichkeit der Konzepte und eine übergeordnete Theorie, die psychologische Modelle, funktionell-neuroanatomische Netzwerke und biochemische Steuerungsprozesse zusammenführt, fehlt. Eine Darstellung der psychologischen Persönlichkeits-, Motivations- und Emotionstheorien oder der zahlreichen Bildgebungs- und tierexperimentellen Studien zur Verhaltenssteuerung würden den Rahmen dieses Bandes sprengen.
Wie oben beschrieben haben wir fünf Verhaltenscluster identifiziert, deren Abgrenzung sich für den klinischen Alltag, insbesondere für die Therapieplanung als pragmatisch erwiesen hat. Ziel dieses Kapitels ist es daher, einen Eindruck der zugrunde liegenden neuropsychologischen und neurobiologischen Einflussfaktoren zu diesen Störungsclustern zu geben und den Behandler dafür zu sensibilisieren, Verhaltensstörungen multidimensional zu betrachten (Arnould et al., 2016).
|19|Abbildung 7: Komplexität der Verhaltenssteuerung
3.1 Verletzen sozialer Regeln
Verhaltensstörungen werden deshalb zur Störung im psychopathologischen Sinne, weil das Verhalten soziale Regeln verletzt oder mit psychosozialen Funktionseinschränkungen einhergeht. Da das Erlernen sozialer Regeln und die flexible Anpassung des Verhaltens an verschiedene soziale Kontexte eine wichtige Entwicklungsaufgabe ist, finden sich theoretische Überlegungen zur |20|Konzeptualisierung und zur Neurobiologie von regelverletzendem Verhalten vor allem in der entwicklungspsychologischen Literatur (z. B. Burt, 2012). Unter entwicklungspsychologischer Betrachtung ist das Verletzen sozialer Regeln in der Bevölkerung ein normales Phänomen, das kontinuierlich variiert (Wer hat noch nicht gelogen oder ist über eine rote Ampel gegangen). Es sind die Häufigkeit des Auftretens, die Frage der Intentionalität und die Schwere der Regelverletzung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf andere Personen oder Gegenstände, die darüber entscheiden, ob das Verletzen sozialer Regeln als pathologisch eingeschätzt oder gar juristisch verfolgt wird. Im Kontext einer Hirnschädigung geht es darüber hinaus um die Frage, ob das zu beobachtende Verhalten eine Veränderung gegenüber prämorbiden Verhaltensmustern darstellt.
Um unser Verhalten zielgerichtet steuern zu können, ist die Fähigkeit erforderlich, ein Ziel ins Auge zu fassen, mögliche Konsequenzen zu antizipieren, das Verhalten im Verlauf zu überwachen und zu prüfen, ob das erwartete Ziel und die erwarteten Konsequenzen eintreten und daraufhin kontinuierlich das Verhalten anzupassen. Ein ausführlicher Überblick über die dabei dynamisch und interaktiv ablaufenden kognitiven, physiologischen und biochemischen Prozesse findet sich bei Ullsperger et al. (2014). Vereinfachend ausgedrückt, spielen vor allem die folgenden Prozesse eine zentrale Rolle (Matthys, Vanderschuren & Schutter, 2013):
die Antizipation von Belohnungsreizen,
die Verarbeitung von Bestrafungsreizen sowie
die kognitive Emotionskontrolle.
Wichtige Grundlage für eine verminderte Verhaltensanpassung an soziale Regeln scheint eine verminderte Reagibilität des autonomen Nervensystems auf Bestrafungs- und Angststimuli einerseits, und eine verminderte Wertigkeit von Belohnungsreizen andererseits zu sein (Matthys et al., 2013). Diese zeigt sich experimentell z. B. in einer verminderten Hautleitfähigkeit bei Konfrontation mit Angst- oder Bestrafungsreizen. Dieser Befund stimmt recht gut mit den Beobachtungen überein, die von Damasio et al. (1991) im Rahmen der sogenannten Somatic Marker-Theorie formuliert wurde. Sie galt lange Zeit als wichtige Hypothese darüber, wie Körpersensationen das Wechselspiel zwischen emotionalen und kognitiven Prozessen fördern und so Entscheidungsprozesse in komplexen Situationen ermöglichen. Die Autoren konfrontierten Patienten mit der Iowa Gamblingtask, einer Glückspielaufgabe, bei der kontinuierlich Entscheidungen zu treffen sind, die mit Geldsummen belohnt oder dem Verlust von Geld bestraft werden. Dabei untersuchten sie die Hautleitfähigkeit während riskanter Entscheidungen, also solchen, bei denen ein hohes Verlustrisiko bestand. Sie konnten zeigen, dass Patienten eine geringere Hautleitfähigkeitsveränderung zeigten als gesunde Kontrollen und dass sie im Verlauf der Spielaufgabe schlechter lernten, ihre Entscheidungen im Hinblick auf eine Gewinnoptimierung anzupassen. Dabei konnten sowohl in Läsions|21|studien als auch in Bildgebungsstudien die Bedeutung des ventromedialen präfrontalen Cortex für die Verarbeitung der somatischen Signale in Entscheidungssituationen nachgewiesen werden (Dunn et al., 2006).
Für die Verarbeitung von Angst- und Furchtreizen spielt darüber hinaus die Amygdala eine wichtige Rolle. Sie ist für Lernprozesse, die eine Assoziation zwischen unerwünschtem Verhalten und Bestrafung erfordern, besonders wichtig. So fanden z. B. Huebner et al. (2008) bei Jugendlichen mit ADHD Korrelationen zwischen Verhaltensstörungen und einer verminderten grauen Substanz in limbischen Hirnstrukturen, insbesondere der Amygdala (zitiert nach Matthys et al., 2013).
Nicht nur für Bestrafungsreize, auch für Belohnungsreize scheinen Patienten mit regelverletzendem Verhalten eine verminderte Sensitivität aufzuweisen. Hierfür scheint unter anderem eine verminderte dopaminerge Funktion, wie sie häufig nach Hirnschädigung auftritt, relevant zu sein (Matthys et al., 2013). Die verminderte Sensitivität für Belohnungsreize in Kombination mit verminderter orbitofrontaler Funktion kann dazu führen, dass assoziatives Lernen für erwünschtes bzw. unerwünschtes Verhalten nicht gelingt, da die entsprechenden Reaktionen des Gegenübers keine ausreichende Belohnungs- bzw. Bestrafungsreaktion auslösen.
In der Wirksamkeit von Belohnungs- und Bestrafungsreizen ist bislang unklar, ob die Reize ihre Wertigkeit (Valenz) verlieren und daher keine autonome Reaktion auslösen, oder ob die autonome Reaktion reduziert ist und darum Verstärker nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden können (Ullsperger et al., 2014).
Für das Lernen und Einhalten sozialer Regeln bleibt festzuhalten, dass eine verminderte Wertigkeit von Belohnungs- und Bestrafungsreizen anhand einer verminderten autonomen Reagibilität deutlich wird. Sie beeinträchtigt das assoziative Lernen, das für die Anpassung des Verhaltens in sozialen Situationen erforderlich ist. Auf neuroanatomischer Ebene sind hierfür die Assoziationen zwischen ventromedianem präfronalem Cortex, orbitofrontalem Cortex und limbischen Strukturen von hoher Relevanz (Matthys et al., 2013).
Neben der motivational wirkenden Verarbeitung von Belohnungs- und Bestrafungsreizen spielen auch Top-down-Prozesse der Verhaltenskontrolle eine wichtige Rolle. Rubia (2011) spricht in diesem Zusammenhang von den sogenannten „kühlen“ kognitiven Exekutivfunktionen, die mit dorsolateralen frontostriatalen und frontoparietalen Netzwerken assoziiert sind. Diesen stellt sie die „heißen“ Exekutivfunktionen gegenüber, die für die Steuerung der Motivation relevant sind und durch orbitofrontale und fronto-mediane Netzwerke gesteuert werden. Diese entsprechen dem oben genannten Belohnungssystem. Zu den kognitiven exekutiven Funktionen gehören Handlungsplanung, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität und Handlungsüber|22|wachung. Fehlen solche kognitiven Überwachungs- und Steuerungsprozesse, so werden Entscheidungen affektiv und intuitiv getroffen und folgen eher kurzfristigen Belohnungen, auch wenn diese langfristig zu...