|15|Einleitung
Psychologische Forschung ist zu großen Teilen auf die Teilnahme von Menschen als „Untersuchungsobjekte“ angewiesen. In diesem Zusammenhang stellen sich damit immer auch Fragen zur ethischen Verantwortbarkeit und zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, in denen Forschung stattfindet.
In den Anfängen handelte es sich bei den Ethikvoten in vielen Fällen um Projekte im Rahmen von Medizin und Gesundheitsforschung, bei denen es nicht zuletzt um den Schutz von Patientenrechten ging. Längst werden nun aber auch Projekte, die z. B. menschliche Verhaltensweisen im Rahmen einer psychologischen Studie untersuchen, einer ethischen Begutachtung unterzogen. Einer der Gründe hierfür ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Reihung und damit möglicherweise die Bedeutung der Kriterien zur Beurteilung von Forschungsvorhaben im Laufe der letzten Dekaden verschoben haben. War es unter dem Eindruck der medizinischen Versuche an Holocaust-Opfern zunächst vorrangiges Ziel, Schaden von den Personen abzuwenden, mit denen man seine Studien durchführte, wurde es im Laufe der Jahre immer zentraler, die Freiwilligkeit der Studienteilnahme zu unterstreichen. Auch wenn auf den ersten Blick diese beiden Kriterien keinen großen Unterschied aufzuweisen scheinen, schließlich geht es in beiden Fällen um die Abwendung von Schaden, betont das Prinzip der Freiwilligkeit insbesondere die Handlungsoptionen der Untersuchungspersonen selbst. Die Freiheit der einzelnen Person gilt als das höchste Gut, weshalb unter ethischen Gesichtspunkten alles getan werden muss, diese Freiheit mit allen Mitteln zu stärken und Schranken einer Freiheitsausübung abzubauen. Diese Argumentation liegt auch dem heute üblichen Einholen einer informierten Zustimmung (engl.: informed consent) zugrunde, auf die im Weiteren noch einzugehen sein wird.
(Warum) braucht es überhaupt ethische Empfehlungen, noch dazu solche, die sich explizit auf den Umgang mit den Probandinnen und Probanden im Forschungsprozess beziehen? Dass jede individuell wie gesellschaftlich begründete Forderung nach wissenschaftlich gesichertem Wissen durch Forschung mit dem Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegen Risiken und Belastungen in Übereinstimmung gebracht werden muss, dürfte eine Selbstverständlichkeit darstellen. Allen wissenschaftlich Tätigen sind allgemeine Grundsätze der Forschungsethik wie Urteilsunabhängigkeit, Transparenz, Allgemeingültigkeit oder Kompetenz |16|vertraut (Beauchamp, 2004). Die DGPs und der BDP haben zudem gemeinsam berufsethische Richtlinien herausgegeben, die nicht nur die Unbedenklichkeit wissenschaftlicher Fragestellungen und empirischer Herangehensweisen betreffen, sondern auch allgemeine Fragen der beruflichen Praxis von Psychologinnen und Psychologen behandeln (vgl. http://www.dgps.de/index.php?id=85#c20018376).
Untersuchungen, die die Menschenwürde verletzen oder mit potenziellen Gefahren für Leib, Leben und Wohlbefinden verbunden sind, sind zweifelsohne ethisch bedenklich. Nicht von ungefähr nahm die Entwicklung von ethischen Richtlinien und Normen seit Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Ausgang bei der medizinischen Forschung. So ist beispielsweise der im Jahr 1947 formulierte Nürnberger Kodex (zit. n. Mielke & Mitscherlich, 1960) als Schlussfolgerung aus den nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Konzentrationslagern noch heute Grundlage für ethische Entscheidungsfindungen im Bereich der Medizin, ebenso wie die im Jahr 1964 vom Weltärztebund entwickelte Deklaration von Helsinki, die bis heute, zuletzt 2013, mehrfach überarbeitet und ergänzt wurde (WMA, 2013).
Doch auch in der psychologischen Forschung gab es in der Vergangenheit Studien, die unter heutigen Gesichtspunkten als ethisch bedenklich einzustufen sind. Insbesondere drei klassische Studien sind hier zu nennen:
Das Little Albert-Experiment
Diese Studie wurde von Watson und Rayner (1920) durchgeführt und sollte zeigen, dass emotionale Reaktionen konditionierbar und entgegen damaliger psychoanalytischer Auffassung nicht angeboren sind. Dazu wurde der als Albert B. bezeichnete Säugling (in der Originalstudie little Albert), zu Beginn des Experiments 9 Monate alt, in einer Vorstudie zunächst darauf untersucht, ob er Furcht vor lebenden Tieren zeigt. Dies war nicht der Fall, Albert zeigte sich stattdessen bei allen ihm dargebotenen Tieren stets neugierig. Eine verstärkte Furchtreaktion (engl.: fear response) war bei ihm allerdings zu beobachten, wenn man hinter ihm mit einem Hammer auf eine dicke Eisenstange schlug.
Der eigentliche Versuch einer klassischen Konditionierung beginnt, als Albert 11 Monate und 3 Tage alt ist: Zusammen mit der dargebotenen weißen Ratte wird auf die Eisenstange geschlagen. Diese kombinierte Reizdarbietung wird mehrere Male wiederholt, bis Albert alleine beim Anblick der Ratte vor ihr zurückweicht und schreit. Im nächsten Schritt wird überprüft, ob es zu einer Generalisierung der Konditionierung auf andere Objekte gekommen ist. Dazu werden ein Kaninchen, ein Hund und verschiedene fellähnliche Objekte dargeboten.
|17|Bei der letzten Untersuchung vier Wochen später wird die Dauerhaftigkeit der konditionierten Reaktionen geprüft. Albert zeigt zwar bei der Ratte und allen generalisierten Reizen Furcht, aber auch Annäherungsreaktionen.
Damit endet das Experiment. Eine Re-Konditionierung kann nicht mehr stattfinden, weil die Mutter mit Albert kurz darauf in eine andere Stadt zieht.
Es ist offensichtlich, dass heutzutage keine Ethikkommission diese Studie für ethisch unbedenklich halten würde: Schon wegen des geringen Alters des kleinen Albert würde von einer besonderen Schutzbedürftigkeit ausgegangen und deshalb ein Veto eingelegt werden. Auch die Tatsache, dass er zu Forschungszwecken aversiven Reizen ausgesetzt wird, um bei ihm eine Furchtreaktion auszulösen, und dass diese dann auch auf andere Objekte generalisiert und über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten wird, würde den Einspruch einer Ethikkommission hervorrufen. Eine nachträgliche Extinktion oder Re-Konditionierung der gelernten Furchtreaktion wird nicht durchgeführt; ebenso werden keine Angaben dazu gemacht, wie das Einverständnis in die Teilnahme bei der Mutter erzielt wurde, d. h. die heute unabdingbar notwendige Information der teilnehmenden Person, oder wie in diesem Fall, der erziehungsberechtigen Mutter, über Ziel und Ablauf der Untersuchung sowie deren ausdrückliche Zustimmung sind nicht durchgeführt worden. Und schließlich würde aufgrund der zahlreichen methodischen Schwächen der Studie eine Nutzen-Risiko-Abwägung (die innerhalb definierter Grenzen den Wert des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts mit dem potenziellen Schaden der teilnehmenden Person in Relation setzt) negativ ausfallen.
Das Milgram-Experiment
Auch das Experiment von Stanley Milgram, das 1961 an der Yale University durchgeführt wurde (Milgram, 1963; die folgenden Angaben beziehen sich auf die Originalstudie, die später in unzähligen Varianten und Replikationsstudien wiederholt wurde) und in dem er Gehorsam gegenüber Autoritäten untersuchte, gehört zu den oft zitierten Studien, die aus heutiger Sicht ethisch bedenklich sind. Er schuf für seine Untersuchung eine Situation, in der die ausschließlich männlichen Teilnehmenden als „Lehrer“ in einem angeblichen Lern- und Gedächtnisexperiment einen „Schüler“ (tatsächlich ein Mitarbeiter des Versuchsleiters) für Fehler mit schmerzhaften Schocks zu bestrafen hatte. Die Anweisung lautete, die ersten Fehler mit leichten Schocks (15 bis 60 Volt), weitere mit mäßigen (75 bis 120 Volt), starken (135 bis 180 Volt), sehr starken (195 bis 240 Volt), heftigen (255 bis 300 Volt) und extremen Schocks (315 bis 360) zu ahnden, bis als vorletzte Stufe ein Hebel zu betätigen war, der die Kennzeichnung „Gefahr“ (375 bis 420 Volt) besaß. Die letzte Kategorie trug nur noch die Bezeichnung XXX (435 bis 450 Volt). Der angebliche „Schüler“ erhielt genaue Anweisungen, zunächst Schmerzen vorzu|18|täuschen, dann heftig an die Wand zu klopfen und schließlich keinerlei Äußerungen mehr von sich zu geben. Die eigentliche Untersuchungsperson, der „Lehrer“, wurde, falls sie sich in diesem Moment weigerte, weitere Strafen zu verabreichen, vom Versuchsleiter mehrmals hintereinander ermahnt, das Experiment nicht in Frage zu stellen und gemäß den Anweisungen fortzufahren. Das Resultat ist bekannt: Von den insgesamt 40 Teilnehmern des Experiments weigerte sich keiner, einen Schock von weniger als 300 Volt zu verabreichen und immerhin 26 Teilnehmer erteilten dem „Schüler“ die...