|25|Kapitel 2
Störungen des Körperbildes
Im vorangehenden Kapitel wurde die Symptomatik der Anorexia und Bulimia nervosa dargestellt. Hierbei wurde aufgezeigt, dass ein negatives Körperbild ein zentrales Merkmal der Essstörungen darstellt. Der Bereich der Körperbildstörungen soll im Folgenden differenzierter betrachtet werden. Hierbei wird im Anschluss an eine Begriffsbestimmung auf Störungen des Körperbildes in der Allgemeinbevölkerung sowie bei Patientinnen mit Anorexia und Bulimia nervosa eingegangen. Anschließend wird ein multifaktorielles Modell zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Körperbildstörungen beschrieben.
2.1 Begriffsbestimmung „Körperbild“
Zu dem im englischsprachigen Raum relativ konsistent verwendeten Begriff „Body Image“ gibt es im deutschsprachigen Raum kein Pendant. Vielmehr herrscht hier bezüglich der Nomenklatur eine große Unklarheit, von Meermann (1991) treffend als „babylonische Sprachverwirrung“ bezeichnet. Häufig verwendete Begriffe sind in diesem Zusammenhang „Körperwahrnehmung“, „Körperschema“, „Körperbild“, „Körper-Ich“, „Körper-Selbst“, „Körperphantasie“ und „Körperkonzept“. Diese unterschiedlichen Bezeichnungen werden zum Teil synonym verwendet, oft werden ihnen aber auch unterschiedliche Bedeutungen zugeordnet. Beispielsweise wird der Begriff der „Körperwahrnehmung“ häufig als Synonym für die Einschätzung der eigenen Körperdimensionen eingesetzt, während unter „Körper-Ich“ eher die kognitive und affektive Bewertung des eigenen Körpers verstanden wird. In dem vorliegenden Manual wird in Analogie zur englischen Sprache der Begriff „Körperbild“ als Überbegriff verstanden und bezieht sich dabei auf die verschiedenen Facetten, die es beinhalten kann (vgl. Kapitel 2.3).
Das Konzept des Körperbildes wurde erstmals 1935 von Schilder (zitiert nach Slade, 1994, S. 497) als „the picture of our own body which we form in our mind, that is to say the way in which the body appears to ourselves“ beschrieben. Slade (1988) erweiterte die Definition als „the picture we have in our minds of the size, shape and form of our bodies; and to our feelings concerning the size, shape and form of our bodies, and its constituent parts“. In dieser Definition ist eine perzeptive und eine affektive Komponente enthalten. Hierbei umfasst die perzeptive Komponente Sinnesinformationen bezüglich des eigenen Körpers, welche sich beispielsweise auf die Wahrnehmung der eigenen Körperausmaße beziehen. Die affektive Komponente hingegen beinhaltet Gefühle, die eine Person hinsichtlich ihres Körpers erlebt. Neben dieser von Slade (1988) dargestellten perzeptiven und affektiven Komponente sind die kognitive und behaviorale Komponente des Körperbildes zu nennen (siehe Kasten 5; Cash, 2004; Thompson, Heinberg, Altabe & Tantleff-Dunn, 1999). Die kognitive Komponente steht in engem Zusammenhang mit der affektiven Komponente des Körperbildes. Sie beinhaltet Gedanken bzw. Einstellungen in Bezug auf den eigenen Körper wie z. B. „Mein Körper ist viel zu dick und völlig unansehnlich“. Die behaviorale Komponente bezieht sich auf Verhaltensweisen, die mit dem Körper zusammenhängen. Dies können beispielsweise die Vermeidung bestimmter Orte, an denen der Körper den Blicken anderer Menschen ausgesetzt ist (z. B. Schwimmbäder) oder aber die Vernachlässigung positiver körperbezogener Aktivitäten (z. B. sich eincremen) sein. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Symptomatik eines gestörten Körperbildes werden diese vier Ebenen später im Detail erläutert.
Kasten 5:Vier Komponenten des Körperbildes
Perzeptive Komponente
Kognitive Komponente
Affektive Komponente
Behaviorale Komponente
|26|2.2 Störungen des Körperbildes in der Allgemeinbevölkerung
Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper stellt in den westlichen Gesellschaften ein weit verbreitetes Phänomen dar und ist in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich angestiegen (vgl. Gray & Ginsberg, 2007; Tantleff-Dunn, Barnes & LaRose, 2011). Studien aus den USA zeigten, dass 56 % der untersuchten Frauen und 43 % der Männer ihr Aussehen negativ bewerten; eindrückliche 89 % der Frauen gaben an, abnehmen zu wollen (Garner, 1997). Insbesondere im Jugend- und sogar bereits im Kindesalter spielen Körperunzufriedenheit und Schlankheitsstreben eine große Rolle: Untersuchungen zufolge wünschen sich etwa 55 bis 65 % der weiblichen Teenager (Dion et al., 2015) und bereits 50 % der präadoleszenten Mädchen einen schlankeren Körper (Dion et al., 2016). Sogar Kinder im Grundschulalter berichten von Figursorgen und Versuchen der Gewichtsreduktion (Berger, Schilke & Strauß, 2005). Unzufriedenheit mit der eigenen Erscheinung galt lange als vorrangig frauenspezifisches Phänomen, doch auch immer mehr Männer streben nach einem attraktiven Körper, wobei das männliche Schönheitsideal nicht primär durch Schlankheit, sondern durch Muskulosität definiert ist (Frederick et al., 2007; Ricciardelli, McCabe & Banfield, 2000).
Eine negative Bewertung des eigenen Körpers führt nicht zwangsläufig zu einer psychischen Beeinträchtigung. So zeigte sich in einer Untersuchung, dass nur die Hälfte der Personen, die mit ihrem Körper unzufrieden sind, dies auch als belastend erlebten und dadurch im Alltagsleben, d. h. in sozialen Beziehungen oder im Berufsleben, beeinträchtigt waren (vgl. Cash & Hrabosky, 2004). Da körperliche Unzufriedenheit ein weit verbreitetes Phänomen darstellt, erscheint es schwierig, eine klare Grenze zwischen einem „gesunden“ und „gestörten“ Körperbild zu ziehen. Ein gesundes und gestörtes Körperbild sind daher eher als Pole eines Kontinuums anzusehen (Thompson et al., 1999). Klinische Manifestationen eines negativen Körperbildes zeigen sich, wie bereits in Kapitel 1 beschrieben, sowohl im Rahmen der Essstörungen Anorexia und Bulimia nervosa als auch bei verschiedenen anderen psychischen Störungen. Hinsichtlich der Binge-Eating-Störung konnten Studien zeigen, dass die ausgeprägten Figur- und Gewichtssorgen der Betroffenen nicht ausschließlich auf das oftmals komorbid vorliegende Übergewicht zurückgehen, sondern darüber hinaus ein störungsspezifisches Charakteristikum darzustellen scheinen (Grilo et al., 2008; Lewer et al., 2016). Bei der Körperdysmorphen Störung stellen die ausgeprägte Unzufriedenheit mit spezifischen Körperbereichen und die intensive Beschäftigung mit dem vermeintlichen Makel die Kernsymptome der Störung dar (vgl. Kapitel 1.1). Hier wurde im DSM-5 mit der Subkategorie der Muskeldysmorphie eine weitere Spezifizierung vorgenommen, die sich auf die größtenteils bei Männern auftretende Befürchtung, der eigene Körper könnte zu schmal oder zu wenig muskulös sein, bezieht. Doch auch psychische Störungen, deren Kernsymptomatik nicht direkt mit Körperunzufriedenheit in Zusammenhang steht, wie die Soziale Angststörung, die Posttraumatische Belastungsstörung oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung, stehen mit einem negativen Körperbild in Zusammenhang. Körperbildstörungen sind somit als transdiagnostisches Phänomen anzusehen, welches zunehmend in den klinischen Fokus rückt (vgl. Steinfeld, Bauer, Waldorf, Hartmann & Vocks, 2017).
2.3 Störungen des Körperbildes bei Anorexia und Bulimia nervosa
Neben dem gestörten Essverhalten stellt ein negatives Körperbild ein zentrales Merkmal der Anorexia und Bulimia nervosa dar (Tuschen-Caffier, 2015; vgl. Kapitel 1). In einer Vielzahl von Untersuchungen an klinischen und subklinischen Populationen konnte ein Zusammenhang zwischen einem negativen Körperbild und dem Ausmaß eines gestörten Essverhaltens nachgewiesen werden (siehe hierzu Metaanalyse von Cash & Deagle, 1997). Zudem konnte gezeigt werden, dass Sorgen in Bezug auf das Gewicht bzw. körperliche Unzufriedenheit einen Prädiktor (Keel & Forney, 2013; Killen et al., 1996; Neumark-Sztainer, Paxton, Hannan, Haines & Story, 2006) sowie einen zentralen Risikofaktor (siehe Metaanalyse von Jacobi, Hayward, de Zwaan, Kraemer & Agras, 2004) für die Entwicklung von gestörtem Essverhalten darstellen. Es kann daher vermutet werden, dass Störungen des Körperbildes nicht (ausschließlich) als Folgen des gestörten Essverhaltens anzusehen sind, sondern auch...