Kapitel 2: Integration
1 Einführung
Was meint man damit, wenn man sagt, eine Gruppe – oder allgemeiner, ein soziales System – sei integriert? Einer sich zufällig bildenden Menschenmenge (in einem Kaufhaus, auf dem Marktplatz) wird man Integration kaum bescheinigen wollen. Ihr fehlen ganz offensichtlich elementare Eigenschaften, die man im Alltagssprachgebrauch mit dem Begriff Integration in Verbindung bringt: Zusammenhalt, eine gemeinsame Ausrichtung, Ordnung. Völlig desintegriert ist gemäß diesem Grundverständnis beispielsweise eine Gruppe, die von Panik ergriffen ist, während ein militärischer Marschtrupp als hoch integriert gilt. Aber Zusammenhalt und Ordnung reichen nicht aus, um von echter Integration sprechen zu können, denn auch eine Warteschlange vor der Kinokasse besitzt ihre Ordnung, und man wird Warteschlangen (oder Personen in einem Zugabteil oder Zuhörer in einem Hörsaal usw.) nicht als integriert bezeichnen wollen. Bei der Integration geht es – neben der Ordnung – auch darum, dass die Akteure einen gemeinsamen Handlungszweck anstreben, dass sie etwas gemeinsam tun und dies in einer Art und Weise, die »zusammenstimmt«. Allerdings wird das Integrationsphänomen durch den Hinweis auf die Ordnung noch nicht hinreichend beschrieben. Auch in einem Gefängnis beispielsweise »stimmt« in gewisser Weise alles zusammen: die Wärter beaufsichtigen, die Gefangenen lassen sich beaufsichtigen und es gibt eine Ordnung, die eingehalten wird. Man wird sich aber schwer tun mit der Behauptung, ein Gefängnis sei ein »integriertes soziales System«. Wichtig für die Integration sind offenbar auch Freiwilligkeit und Spontaneität und darüber hinausgehend ein gewisses Engagement. Man denke nur an lustlos vor sich hin kickende Fußballer, die keinerlei Bereitschaft zeigen, das Spiel voranzutreiben, für die Mitspieler mitzudenken und Verantwortung zu übernehmen. Auf die häufig beschworene »integrierte Mannschaftsleistung« wird man in diesem Fall vergeblich hoffen.
Merkmale gelungener Integration
Die angeführten Überlegungen erlauben eine erste Annäherung an den Integrationsbegriff. Integration bezeichnet danach so etwas wie ein von einer gemeinsamen Orientierung getragenes Zusammenstimmen der Akteure. Das Integrationsphänomen ist mit dieser Charakterisierung allerdings noch nicht hinreichend beschrieben. Um den Begriff präziser bestimmen zu können, betrachten wir verschiedene Merkmale, die häufig mit Integration in Verbindung gebracht werden. Hierzu gehen wir auf zwei Fragen ein: Was unterscheidet eine Person, die in ein soziales System integriert ist, von einer Person, die nicht in das soziale System integriert ist? Was macht ein integriertes soziales System auf der Gruppenebene und der Organisationsebene aus?
Integration auf der Individualebene
Wann spricht man davon, dass eine Person in eine betriebliche Organisation »integriert« sei? Als Mindestbedingung kann wohl gelten, dass sich die Person in der Organisation wohl fühlt, also »zufrieden« damit ist, der Organisation anzugehören. Insbesondere wird man erwarten, dass sich eine integrierte Person mit den übrigen Organisationsmitgliedern verbunden fühlt. Umgekehrt gilt dasselbe. Es kommt nicht nur darauf an, dass die betrachtete Person zufrieden ist. Von einer gelungenen Integration kann eigentlich nur gesprochen werden, wenn auch die Person selbst akzeptiert ist, wenn also die soziale Umwelt mit ihr zufrieden ist. Wiederum aus der Perspektive der einzelnen Person betrachtet, was ist über die Zufriedenheit hinaus notwendig, damit sie als integriert gelten kann? Insbesondere drei Aspekte werden von der Literatur noch herausgehoben: die Zielübereinstimmung, die Beziehungsqualität und die Zukunftsorientierung. Jemand, der die gleichen Ziele wie die übrigen Organisationsteilnehmer verfolgt, wer diese Ziele verinnerlicht hat und nach außen offensiv vertritt, ist zweifellos stärker integriert als jemand, dem diese Ziele eher gleichgültig sind. Als weiterer – wenn nicht sogar als zentraler – Integrationsfaktor gilt zu Recht die Beziehungsqualität. Sie bestimmt sich u. a. danach, ob das Organisationsmitglied Anteil an den Erfolgen der Organisation hat, ob es gegenüber anderen Organisationsmitgliedern benachteiligt wird, ob die Möglichkeiten, auf das Organisationsgeschehen Einfluss zu nehmen, als angemessen empfunden werden oder, mit einem Wort, ob es gerecht zugeht. Und zum dritten ist wichtig, ob jemand eine Zukunftsperspektive in der Organisation hat. Wer in seiner Mitgliedschaft nur ein kurzfristiges Zweckbündnis sieht, das sofort aufgelöst wird, wenn sich einmal Schwierigkeiten auftun, ist ebenfalls weniger integriert als jemand, dessen Mitgliedschaft auf längere Frist angelegt ist und der die Möglichkeit sieht, in der Organisation z. B. beruflich voranzukommen. Die Ausführungen zeigen, dass es möglich ist, sinnvoll davon zu sprechen, ob eine Person in ein soziales System integriert ist oder nicht.
Integration auf der Gruppenebene
Streng genommen handelt es sich bei der Integration nicht um ein Personenmerkmal, sondern um ein relationales Merkmal, um die Charakterisierung der Beziehung zwischen einer Person und dem sozialen System, dem sie angehört. Die Zufriedenheit der Person, die als wesentliches Bestimmungsmerkmal der Integration gelten kann, bezieht sich ja nicht auf die emotionale Ausgeglichenheit der Person ganz allgemein, sondern auf die Zufriedenheit der Person in und mit der Gruppe. Gleiches gilt für die anderen angeführten Integrationsmerkmale, die angemessene Beteiligung, die Zielorientierung und die Zukunftsperspektive. Es ist daher sinnvoll, die Integration nicht als Eigenschaft von Personen, sondern als Merkmal von sozialen Systemen zu bestimmen. Integration bezeichnet danach das Ausmaß, in dem die verschiedenen Teile des Systems sich stimmig zusammenfügen. Oder etwas ausführlicher und auf eine Gruppe bezogen: Eine integrierte Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nach außen geschlossen auftritt, dass sich in ihr ein ausgeprägtes Wir-Gefühl breitmacht, dass die Mitglieder konstruktiv mit Konflikten umgehen, dass die Gruppe äußerem Druck standhält und nicht gleich zerbricht, wenn das eine oder andere Mitglied die Gruppe verlässt. Außerdem sollte jedes Gruppenmitglied an den Erträgen der Gruppe in angemessener Form partizipieren, ebenso wie an den Belastungen. Wie man sieht, gibt es deutliche Parallelen in der Beschreibung der Integration von Personen und Gruppen. Unterschiedlich ist nur die Blickrichtung. Betrachtet man das Integrationsphänomen aus dem Blickwinkel der Person, dann rücken Charakteristika der sozialen Beziehung ins Blickfeld. Es geht dann z. B. darum, ob eine bestimmte Person in ihrer Gruppe zufrieden ist, ob sie die Verteilung der Aufgaben und Belohnungen als gerecht empfindet usw. Betrachtet man das Integrationsphänomen aus dem Blickwinkel der Gruppe, dann rückt dessen Funktionsfähigkeit ins Blickfeld (genauer: die Unterstützungsleistung, die von der Integration ausgeht, um die Funktionsfähigkeit zu gewährleisten). Es geht aus dieser Sicht z. B. darum, ob die Zusammenarbeit zwischen den Gruppenmitgliedern »klappt«, ob die Gruppenmitglieder auf Störungen schnell und koordiniert reagieren, ob die Gruppe als geschlossene Einheit auftritt usw. Dabei interessiert nicht, ob jedes einzelne Gruppenmitglied voll integriert ist. Die entscheidende Frage für die Gruppe ist, ob die in ihr wirksamen sozialen Kräfte auf die Integration der Gruppe hinwirken. So kann es beispielsweise und paradoxerweise integrationsfördernd sein, wenn Personen von der weiteren Teilnahme am Gruppengeschehen ausgeschlossen werden, z. B. weil ihre Verhaltensweisen das soziale Miteinander nachhaltig stört. Unter Umständen kann selbst ein so unerfreuliches Phänomen wie die Zuweisung von inferioren Rollen an einzelne Personen sozialintegrative Wirkungen haben. Eine Außenseiterrolle beispielsweise hat eine Orientierungs- und Selbstvergewisserungsfunktion für die Gruppenmitglieder, weil sie anschaulich demonstriert, welche Verhaltensweisen nicht erwünscht sind und wofür die Gruppe steht. Wird einem Gruppenmitglied die Rolle des Sündenbocks zugewiesen (um ein weiteres Beispiel zu nennen), dann hat dies häufig eine Entlastungsfunktion, Misserfolge werden dem vermeintlich Schuldigen zugewiesen, der Ärger über den Misserfolg findet ein Objekt, an dem er sich entladen kann. Eine Gruppe kann also auch oder gerade deswegen integriert sein, weil Teilgruppen nur eine geringe Integration aufweisen. Allerdings hat dies Grenzen. Kommt es in einer Gruppe (oder auch in der Gesellschaft) zu einer systematischen Ausgrenzung von Minderheiten, dann wird man nicht von einem integrierten sozialen System sprechen wollen und zwar schon aus dem einfachen Grund nicht, weil die Minderheiten selbst Bestandteil des sozialen Systems sind und nicht nur...