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Peter Handke, Jugoslawien und das Problem der strukturellen Gewalt

Literaturwissenschaft und politische Theorie

AutorAnne Lindner
VerlagDUV Deutscher Universitäts-Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl193 Seiten
ISBN9783835055018
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Anne Lindner nimmt die Debatte um den Autor Peter Handke während der Jugoslawien-Kriege zum Ausgangspunkt, über die literarische Artikulation den Typus der strukturellen Gewalt als Problem moderner Staatsgesellschaften zu untersuchen. Sie geht dabei auf zwei Ebenen vor: Zum einen werden die Texte Handkes auf die politischen Problemstellungen hin in ihrer politischen Äußerlichkeit gelesen; zum anderen wird mithilfe neuerer politischer Theorien ein begriffliches Instrumentarium politischer Analyse entwickelt.

Anne Lindner promoviert bei Prof. Dr. Herfried Münkler am Lehrbereich für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe
2 Gemeinschaft und Gewalt – Zugriffe (S. 23)

2.1 Der theoretische Zugriff: Strukturelle Gewalt

Ein unmittelbarer Zugriff auf gesellschaftliche und politische Wirklichkeit ist aber eine Unmöglichkeit. Um Verhältnisse zu thematisieren, bedarf es eines Maßes an Reflexion, bzw. bedarf es, anders und mit Marx gesagt, um zum Konkreten vorzudringen der Abstraktion. Mit ihr beginnt man. Mit einem unreflektierten Konkreten zu beginnen, hieße von einer „chaotischen Vorstellung" auszugehen, von der aus man nur zu dünnen und schlechten Abstrakta gelangt. Das Konkrete kann nur die geistig reproduzierte Welt sein, wobei die gedankliche Reproduktion eben möglichst viele Bestimmungen ausfächert.

Das Konkrete, das erkannt werden soll, ist deshalb „konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also die Einheit des Mannigfaltigen." Eine Zusammenfassung ist aber kein Ausgangspunkt, sondern ein Resultat. Man beginnt mit einer Vorstellung, mit „einzelnen Momenten, die mehr oder weniger fixiert oder abstrahiert" und nicht weiter zu differenzieren sind, von dort nimmt der Weg des Denkens seinen Ausgang und beginnt, in der Bewegung der Begriffe das Konkrete zu reproduzieren oder zu konstruieren.

Die konkrete Totalität ist die gedankliche, sie stellt sich in „der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe" ein. Seien es physikalische Bewegungen oder Bewegungen des Gesellschaftlichen, die Phänomene sind komplexe Ganze, denen gerecht zu werden es der Abstraktionskraft bedarf.

Wenn wir aus beschriebenem Anlaß heraus ausgerechnet Handkes Texte befragen, ist es weder möglich, sie voraussetzungslos zu befragen, noch unmittelbar auf ein Außen hin. Wir müssen Fragestellungen, Hilfskonstruktionen der Abstraktion, an sie herantragen. Zudem überschneiden sich die Linien der Kunst mit denen der Politik derart, daß wir, um sie nachzuweisen, über besondere Arbeitsinstrumente verfügen müssen, Instrumente, die über Methodenfragen der Textanalyse und der ästhetischen Theorie, literaturhistorisches Wissen oder ‚close reading’ hinausgehen und sich in anderen Disziplinen bedienen.

Da Probleme zu stellen, politische zumal, immer auch ein Sprung ins Unbekannte ist, kennt eine solche politische Lektüre zudem kein auf ein jedes Buch anwendbares Universalwerkzeug. Sie muß sich ihr Werkzeug nach Maßgabe der Texte und Probleme erarbeiten. Unsere Arbeit ist damit auch die Vorführung einer Erprobung. Die Ebene der Theorie eröffnet die Frage: Welche Rolle spielt, welche Bedeutung hat in modernen Gesellschaftsformen eine Art der Gewalt, die nicht direkt ist, sondern eingebunden, strukturell? Wie funktioniert sie als Mittel?

Dazu läßt sich aber nichts sagen, solange das Attribut „strukturell" nicht bestimmt ist, das einen Unterschied zu anderen Gewalten markiert. Deleuze/Guattari unterscheiden grundsätzlich vier wesentlich verschiedene Regime von Gewalt und können so alle Gewaltphänomene klassifizieren: Eine Gewalt, die Schlag auf Schlag erfolgt, auf einen Punkt der Entscheidung orientiert und daher einem Code gehorcht, der „nach dem Wert eines letzten auszutauschenden Schlages" festgelegt wird, ist Gewalt primitiven, kämpferischen Typs.

Ein zweiter Typus muß nicht unbedingt Schläge, direkte physische Gewalt anwenden (wenngleich er sie nicht ausschließt). Allein durch die Aneignung von etwas, worauf kein Recht besteht, definiert sich verbrecherische, illegale Gewalt. Von besonderer Faszination und besonderem Schrecken schließlich – in welchem Maße läßt sich an den Werken Kleists23 ablesen – ist das Gewaltregime, das in Verbindung mit einer Kriegsmaschine – und nur mit ihr – entstehen kann.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort6
Inhaltsverzeichnis7
Siglenverzeichnis10
Verzeichnis der Abkürzungen12
1 Einleitung13
1.1 Politik in Literatur?13
1.2 Politische Lektüre19
2 Gemeinschaft und Gewalt – Zugriffe23
2.1 Der theoretische Zugriff: Strukturelle Gewalt23
2.2 Ein Beispiel: „Kurz-und-Kleinschlagen Jugoslawiens“27
2.3 Wie befragt man die Position einer Autor-Funktion?32
2.4 Das literarische Material: Politische Entwürfe von Gemeinschaften36
2.5 Politische Rechtlosigkeit als Unterdrückung42
2.6 Moderne Souveränität als Befreiung?48
3 Probleme des Nationalstaats55
3.1 Die Bedingungen für eine Nation55
3.2 Gewalt als Fundament des Nationalstaatensystems59
3.3 „Großmachtleute“ und „unentdeckte Völker“64
3.4 „Unser schönes siegreiches Selbstbewußtsein“71
3.5 Ein Vermögen verallgemeinerter Vereinnahmung78
4 Die Gewalt des Rechts – Die Logik des Gesetzes89
4.1 Gerechtigkeit: Das politische ‚Gute’89
4.2 Politisches Recht versus majoritäre Legitimität94
4.3 Rechtsgeltung durch Machtmonopolisierung98
4.4 Die Geschichtlichkeit des Rechts101
4.5 Recht begründen und Recht suspendieren103
4.6 Die ursprüngliche Kontamination des Rechts108
4.7 Die Bedingtheit rechtsetzender Gewalt114
4.8 Die Autorität der rechtserhaltenden Gewalt120
5 Mechanismen und Aufgaben der postmodernen Polizei129
5.1 Ein erweiterter Begriff von Polizei: Soziale Technologie129
5.2 Westliche Polizeilichkeit und Gewalt: Die kritische Perspektive137
5.3 Der Anlaß: Krieg in Jugoslawien139
5.4 Problemstellung: Die Regierungen und die Medien143
5.5 Die Monopolisierung des Sichtbaren147
5.6 Das polizeiliche Regime des Konsenses150
5.7 Der Konsens als Unterwerfungs- und Machtinstrument163
6 Eine neue Kriegsmaschine im Namen des Rechts169
6.1 Macht und ‚Idee’: Die Polizei und die Menschenrechte169
6.2 Schuldsprechen als Geschichtsschreibung180
6.3 „Schlagstocksprache“: Die Macht der Sprache188
7 Mechanismen struktureller Gewalt – Was bleibt von der Gesellschaft?195
Bibliographie201
1. Primärliteratur201
2. Sekundärliteratur und andere Schriften201

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