3. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien
3. 1 Erste Reaktionen
Als die Süddeutsche Zeitung den ersten Teil von Peter Handkes winterlichem Reisebericht am ersten Januar-Wochenende des Jahres 1996 veröffentlichte, kam es zu vielfältigen Reaktionen im deutschsprachigen Feuilleton. Den Auftakt machte dabei am 8. Januar die österreichische Tageszeitung Die Presse.6 »Anblickswürdiges Serbien« titelte die deutsche Wochenzeitung Wochenpost in ihrer Ausgabe vom 11. Januar, in der sich Rudolf Balser in einem längeren Artikel mit einzelnen Aussagen und Thesen Handkes auseinandersetzte.7 Bereits hier, noch vor Erscheinen der zweiten Hälfte des Essays, wird die Fokussierung des Politischen vor dem Literarischen sichtbar.
Als der zweite Teil von Handkes Reisebericht veröffentlicht war, meldete die DPA – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel »Keine Lust auf Fakten«8 versehen – bereits eine Kontroverse um den Serbien-Bericht, zu welchem sich Schriftstellerkollege Peter Schneider im Spiegel zu Wort gemeldet hatte. Schneider stellte dem Text ein vernichtendes Urteil aus, verteidigte die angegriffenen Journalisten und bezeichnete Handkes Zweifel an gestellten Fotos nichtserbischer Opfer als niederträchtig.9 Auch hier wird wiederum die Verkürzung auf die politische Dimension deutlich – auch wenn Schneider der »winterlichen Reise« einräumt, friedensstiftend zu sein, allerdings nur so lange, bis der Autor Handke sein Projekt durch seine „hasserfüllte, völlig haltlose Rundum-Verdächtigung aller Ankläger der serbischen Raub- und Vernichtungsaktionen“10 wieder selbst zerstörte.
Das österreichische Magazin profil hingegen sah Handkes selbstformulierten Zweck nach Gerechtigkeit auch ohne neue Fakten erfüllt, da die Reiseeindrücke des Autors kleine Fragen klären würden. Darüber hinaus wartete die Zeitung mit einer interessanten Feststellung auf, die sich auf das Literarische und nicht auf das Politische bezieht. Handkes Sprache, so Christian Seiler, setze „einen Kontrapunkt zur gewohnten Geschwindigkeit der Reporter, die vom Balkan berichten und mit Schlüssen und Schuldzuweisungen schnell zur Hand sind“.11 Einen Tag später fragte der serbisch-österreichische Schriftsteller Milo Dor in der Presse,12 welches Serbien Handke eigentlich verteidige. Dor zufolge hätte der Kärntner Dichter das oppositionelle Serbien ausgeklammert, weshalb der Text auch nicht wesentlich zur Aufhellung der Situation beitragen könne. Darüber hinaus sei Handke selbst nicht ausreichend informiert, als dass sein Lokalaugenschein nennenswerte Erkenntnisse bringen könne. In eine ähnliche Kerbe schlug der Chefredakteur der deutschen tageszeitung, Thomas Schmid.13 Abgesehen davon, dass die »winterliche Reise« nur deshalb Diskussionen auslösen werde, weil ihr Verfasser nicht bloß irgendwer sei, glaubte Schmid bei Handke »Denkmuster einer großen Verschwör-ungstheorie« linker Medien wie konkret und junge Welt auszumachen. Andreas Braun schloss sich in der Stuttgarter Zeitung den vernichtenden Urteilen über Handke und seine Reisereportage, „eine wunderschöne im übrigen“,14 an. Wäre das Unterfangen eines anderen Blickwinkels ebenso wie Medienkritik an sich vertretbar, so zerstöre es der Autor der »Niemandsbucht« durch seine Art als „Über- und Scharfrichter“,15 als Moralist und Demagoge durch seine Einseitigkeit und Parteilichkeit vollends selbst.
Am selben Tag bescheinigte Gustav Seibt, damals Leiter des Kulturressorts der FAZ, den Niedergang Handkes, der nun „endgültig die Provinz des weltanschaulichen Schundes erobert“16 habe. In der Zwischenzeit berichtete die österreichische Presse über ihren Pariskorrespondenten Reinhold Smonig erste Reaktionen aus Frankreich.17 Luc Rosenzweig, stellvertretender Chefredakteur der renommierten Tageszeitung Le Monde, im Serbien-Essay scharf kritisiert, bezeichnete Handkes Medienkritik als »nicht ganz falsch«, aber in ihrem Wesen stalinistisch. Die in »Gerechtigkeit« ebenfalls vehement attackierte Zeitung Liberation warf indes dem österreichischen Autor bezüglich seiner Vermutungen der gestellten Bilder von Opfern18 zweifelhaften Geschmack vor. Die nächste ablehnende Stellungnahme aus Frankreich sollte dann am 22. Januar vom Filmregisseur Marcel Ophuls folgen.19 Inzwischen war das deutsche Feuilleton nicht untätig geblieben. Bereits am 17. Januar nahm Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau Stellung gegen Handke, dessen »literarische Verteidigungsrede« er mit einem „intellektuellen Selbstmord, einem moralischen Desaster und einer Vernichtung des poetischen Anspruchs“20 verglich. In der Wochenpost erneuerte inzwischen tageszeitung-Chefredakteur Thomas Schmid seine Vorwürfe.21 In der Schweizer Weltwoche hieb Andreas Isenschmid in eine ähnliche Kerbe. Er verriss »Gerechtigkeit« und warf Handke die gezielte Verbreitung seiner Thesen vor, da er sich die mehrfache Hunderttausender-Auflage der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung zu Eigen gemacht hatte.22 Handkes Behauptung, es gehe nicht um ein »Ich klage an«, sei bloß der rhetorische Trick des »praeteritio«, dass man nämlich etwas dadurch erwähnt, indem man explizit vorgibt, es nicht erwähnen zu wollen.23 »Provokationen eines politischen Träumers«, schrieb der Schweizer Tages Anzeiger, und Christoph Kuhn ergriff als erster so etwas wie leichte Parteinahme für den Serbien-Essay.24 Hannes Krauss forderte schließlich in der deutschen Wochenzeitung Freitag »Gerechtigkeit für Handke«.25
Die ZEIT wartete am 19. Januar mit einer Doppelrezension auf. Michael Thumann warf Handke dabei vor, er würde „Völkermord verniedlichen“,26 indem Massaker auf allen Kriegsseiten gegeneinander aufgerechnet würden.27 Trotzdem gewinnt der Journalist dem Text am Ende Positives ab, wenn er zur Frage der deutschen Position gegenüber Serbien die »winterliche Reise« als zweite Chance zur Diskussion ansieht, deren erste mit dem ersten Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan seit 1945 im Jahr zuvor vertan worden sei. In der zweiten ZEIT-Reaktion mutmaßte Andreas Kilb, Handke habe in Serbien sein bereits verloren geglaubtes »Neuntes Land« wiedergefunden. Die angebliche Sehnsucht des Dichters nach vorkapitalistischen Verhältnissen, oder präziser ausgedrückt »nach mehr Wirklichkeit«, sollten bald zu den Standardvorwürfen gegen die »winterliche Reise« werden. Kilb gehört in seiner Besprechung zu jenen, die den Serbien-Essay als literarische Wirklichkeit zu verstehen suchen. Dementsprechend positiv bewertet er, dass der „Meinungs-Anarch“28 Handke weder einen Kriegs- noch einen Antikriegsbericht geschrieben habe, sondern schlicht und einfach von Bildern erzähle, die es auch noch gibt – und die für die Zeit nach dem Krieg, so Kilb, unentbehrlich würden.
Die erste Reaktion, die sich voll und ganz auf die Seite Handkes stellte, kam vom Publizisten Willi Winkler. Mit Vorwürfen an Intellektuelle, allen voran die im Serbien-Bericht angeprangerten französischen Philosophen, und mit einem Seitenhieb auf Peter Schneider kritisiert Winkler, dass viele von ihnen sich allzu schnell auf bestimmte Rollen geeinigt hätten – totalitäres Denken mit Freund-Feind- und Aggressor-Opfer-Stereotypen, ohne ihre eigene Position immer wieder zu hinterfragen. Demgegenüber stelle die »winterliche Reise« noch Fragen und bitte „einzig und allein um die Gnade des genauen Hinsehens“.29 Zur FAZ bemerkte Winkler, diese habe schon während des Golfkrieges von jedem Feuilletonredakteur „eine Unterwerfungsgeste“30 abverlangt. Zudem hätten sich die Kritiker des winterlichen Reiseberichts nur auf einige Reizwörter gestürzt und dabei anderes, wichtigeres übersehen.
Der Streit um »Gerechtigkeit für Serbien« allerdings entwickelte sich von einer literarischen Debatte immer stärker zur politischen Auseinandersetzung, zur Frage der political correctness. Seine Medienkritik, die Verurteilung eines bestimmten Typus der Kriegsberichterstatter als „Auslandsreporterhorde“31 und Handkes Skepsis bezüglich des Ablaufes einzelner Ereignisse im Jugoslawien-Krieg wie z.B. die Beschießung Dubrovniks erhitzten die Gemüter. Ebenfalls am 19. Januar nahm dazu der langjährige Balkankorrespondent der ARD, Detlef Kleinert, Stellung. »Billig und infam« seien Handkes Vorwürfe, und im Übrigen entstammten sie zumindest teilweise der serbischen Propaganda. Kleinert verwies u.a. darauf, dass die Stadt Dubrovnik im Frühwinter 1991 keineswegs, wie in »Gerechtigkeit« behauptet, von serbischen Truppen „nur – arg genug – episodisch beschossen“32 worden sei.
„Wir, die Auslandsreporterhorde (jedenfalls die allermeisten der Kollegen und...